Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2003

Spalte:

409–412

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Nag Hammadi Deutsch. 1. Band: NHC I,1-V,1. Eingeleitet u. übers. von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften. Hrsg. von H.-M. Schenke, H.-G. Bethge u. U. U. Kaiser.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. XXII, 397 S. gr.8 = Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, N.F. 8, Koptisch-Gnostische Schriften, 2. Lw. ¬ 98,00. ISBN 3-11-017234-8.

Rezensent:

Michael Lattke

Als ich in den frühen 80er Jahren Gast des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften war, durfte ich nicht nur herzliche DDR-Gastfreundschaft erleben, sondern konnte auch persönlichen Einblick nehmen in die mühsame Kleinarbeit und verantwortungsvolle Hingabe dieses nun stark angewachsenen Kreises. Philologische Geduld und theologisch-religionswissenschaftliche Gründlichkeit der von Anfang an international verknüpften "Berliner" haben sich gelohnt. Denn was hier mit einem informativen "Geleitwort" von Christoph Markschies (V-VII) vorgelegt wird, ist die reife Frucht langjähriger Bemühungen und steht nicht nur dadurch in gewissem Gegensatz zur Bibel der Häretiker von Gerd Lüdemann und Martina Janßen (Stuttgart: Radius 1997).1

Es ist zu hoffen, dass der zweite Band bald erscheint und damit die weit verstreuten deutschen Einzelübersetzungen der Nag-Hammadi-Codices (NHC) bequem und so endgültig wie möglich zugänglich macht. Falls der abschließende Band wiederum "Editorische Vorbemerkungen" enthält (XI-XIV, hier von H.-G. Bethge und U. U. Kaiser), dann wäre eine Erklärung des vielen Neutestamentlern geläufigen Sigels "Q" hilfreich (164, Anm. 34, und passim). Und ein "Allgemeines Literaturverzeichnis" (XV-XVII), das ja sowieso anwachsen wird, sollte auf jeden Fall A Coptic Grammar von Bentley Layton enthalten (Wiesbaden: Harrassowitz 2000). Die "Übersicht über die Schriften aus Nag Hammadi und dem BG" (XIX-XXI) könnte zur leichteren Orientierung noch ergänzt werden durch eine alphabetische Kurzliste der gebrauchten Abkürzungen von "ActPt" (= NHC VI,1) bis "Zostr" (= NHC VIII,1). Zwei der vier Traktate des gnostischen Berliner Codex 8502 (BG), nämlich "Das Apokryphon des Johannes" (BG 2) und "Die Weisheit/Sophia Jesu Christi" (BG 3), sind als Parallelen zu NHC II,1/III,1/IV,1 (AJ) bzw. zu NHC III,4 (SJC) schon in den vorliegenden Band aufgenommen worden. "Das Evangelium nach Maria" (BG 1) und "Die Tat des Petrus [Actus Petri]" (BG 4) werden im zweiten Band erscheinen. Mit Recht haben es die Herausgeber "für sinnvoll erachtet, auch die Übersetzung der vier Schriften aus dem Codex Berolinensis (Gnosticus) 8502 in diese Publikation miteinzubeziehen" (1).

Nicht nur Koptologen und Spezialisten "auf dem Feld der koptischen Linguistik" (XI), sondern auch etliche Frauen und Männer mit geringeren Sprachkenntnisssen werden natürlich unzufrieden sein darüber, dass den deutschen Übersetzungen die mit zahlreichen griechischen Wörtern durchsetzten koptischen Texte nicht gegenübergestellt wurden. Vielleicht lässt sich der wohlhabende Verlag in Zusammenarbeit mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften doch noch dazu bewegen, wenigstens ein preiswertes Beiheft mit vereinfachtem koptischen Lesetext anzubieten. Denn selbst die von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft angebotene Sonderausgabe der koptisch-englischen Coptic Gnostic Library (Leiden: Brill; Darmstadt 2000) ist bei der "Preisleistung" von 348,00 nicht gerade leicht erschwinglich (WBG Mitglieder-Magazin 1/02, S. 42). Was die genannten griechischen Wörter betrifft (vgl. Folker Siegert, Nag-Hammadi-Register, WUNT 26, Tübingen: Mohr Siebeck 1982, 201-328, fast ein Drittel dieses Wörterbuchs!), so empfinde ich es im Vergleich mit dem ersten Band der Koptisch-Gnostischen Schriften (4. Aufl. Berlin: Akademie-Verlag 1981) als Rückschritt, dass die deutsche Übersetzung diese zum großen Teil aus den griechischen Originalfassungen stammenden Wörter nicht in Klammern hinzufügt. Weder in den "Vorbemerkungen" noch in der "Einführung" wird dazu etwas gesagt. Die "schwierige Entscheidung, ob die Namen hypostasierter Figuren besser nur transkribiert oder aber in deutscher Übersetzung (also Sophia oder Weisheit, Ennoia oder Denken etc.) zu präsentieren seien" (XII), wäre den "jeweiligen Autorinnen und Autoren" erspart geblieben. Außerdem wäre es nicht dazu gekommen, statt "Nus" durchgehend "Nous" für den personifizierten "Verstand" zu verwenden (9 und passim), wozu schon vor mehr als 30 Jahren Hans Joachim Krämer Folgendes gesagt hat: "Im übrigen sollte die Gedankenlosigkeit, in modernen Sprachen - offenbar in kurzschlüssiger Übertragung des griechischen Schriftbildes - Nous zu schreiben, endlich aufhören" (Der Ursprung der Geistmetaphysik, Amsterdam: Grüner 1964 = 2. Aufl. 1967, 17, Anm. 9; vgl. Siegert, a. a. O., 275: "Verstand, Nus").

Als einen weiteren Mangel empfinde ich es, dass auf Stellen des NT nicht in gleichem Maße hingewiesen wird, wie es etwa Schenke vorbildlich bei seiner Übersetzung des durch NHC I,3 und XII,2 bezeugten "Evangelium Veritatis" tut. Dabei fällt aber auf, dass der Hauptherausgeber trotz zweifacher Erwähnung der "Oden Salomos" (30, 32) - und im Gegensatz zu seiner eigenen Pionierarbeit (Die Herkunft des sogenannten Evangelium Veritatis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, 26-57) - nicht auf eine einzige Oden-Stelle hinweist. Aus Schenkes Feder stammen außerdem die Bearbeitungen von NHC I,4 ("Der Brief des Rheginus" bzw. "Die Abhandlung über die Auferstehung"), NHC I,5 ("Tractatus Tripartitus"), NHC II,3 ("Das Evangelium nach Philippus") und NHC II,7 ("Das Buch des Thomas"), die sich alle auf mehr oder weniger umfangreiche Vorarbeiten stützen können und stets voll sind von anregenden Einsichten. Dass diese Vorarbeiten z. T. direkt elektronisch genutzt wurden, zeigt der Transport des Druckfehlers "füchtest" statt "fürchtest" (200, Anm. 32, aus Schenke 1997, 41).

Manchmal fragt man sich, wie sinnvoll der Gebrauch von eckigen Klammern für eine "Textlücke (Lakune) im Originalmanuskript" ist (XIII). Wie können z. B. Judith Hartenstein und Uwe-Karsten Plisch in ihrer Übersetzung von NHC I,2 ("Der Brief des Jakobus") den koptischen Begriff für "Schüler" bzw. "Sohn" angeben (18, Anm. 32), wenn dieser Begriff mitten in einer der zahlreichen Lakunen steht?

Gut gelöst wurde die Präsentierung solcher Texte, die in mehreren Versionen bzw. Rezensionen vorliegen: "Das Apokryphon des Johannes (NHC II,1; III,1; IV,1 und BG 2)" von Michael Waldstein, "Das heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes (NHC III,2; IV,2)" - alias "Das ägyptische Evangelium" - von U.-K. Plisch sowie "Eugnostos (NHC III,3; V,1) und die Weisheit Jesu Christi (NHC III,4; BG 3)" von J. Hartenstein. Für die Bewältigung der nicht bloß damit verbundenen technischen Probleme und schwierigen Korrekturen "gebührt" einer ganzen Reihe von sonst ungenannten Mitarbeiterinnen nicht nur "herzlicher Dank" (XIV), sondern auch große Anerkennung: Brigitte C. Weigel, Silvia Pellegrini, Barbara Fülle, Cornelia Kulawik und Imke Schletterer. Dass dabei auch einmal der Seitenumbruch misslingt (99-100), ist verständlich und fällt nicht schwer ins Gewicht.

Vernünftig ist, dass Jens Schröter und H.-G. Bethge im "Evangelium nach Thomas (NHC II,2)" die geläufige Zählung der Logien beibehalten (neben der durchgehenden Kennzeichnung der Ms.-Seiten durch gut sichtbares "p."). Aus der Fülle der Literatur zum EvThom verweise ich ergänzend auf die Übersetzung von Klaus Berger und Christiane Nord (Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt/M.-Leipzig: Insel 1999, 644-669). Ebensowenig möchte ich es unterlassen, im Blick auf die Bearbeitung der "Hypostase der Archonten (NHC II,4)" durch die zweite Mitherausgeberin U. U. Kaiser auf die schon in G. Lüdemanns Studien zur Gnosis (ARGU, 9; Frankfurt/M.: Peter Lang 1999) erschienene Göttinger Diss. theol. (2000) von M. Janßen hinzuweisen: "Mystagogus Gnosticus? Zur Gattung der gnostischen Gespräche des Auferstandenen" (21-260, bes. 199-201).

Als Verfasser der leider unveröffentlichten Dissertation von 1975 ist der erste Mitherausgeber H.-G. Bethge natürlich besonders qualifiziert, NHC II,5 (und Fragment XIII,2) einzuleiten und zu übersetzen. Dieser eigentlich titellosen Schrift wird der passende Titel "Vom Ursprung der Welt" gegeben. Ansonsten erscheint Bethge aber auch noch als Mitverfasser, und zwar - außer beim schon genannten EvThom - mit U.-K. Plisch beim "Gebet des Paulus (NHC I,1)" und mit Silke Petersen beim "Dialog des Erlösers (NHC III,5)". Keine leichte Aufgabe hatte schließlich Christina-Maria Franke als Autorin der "Erzählung über die Seele (NHC II,6)". Hier erscheint sogar G. Lüdemann mit seinen frühen Untersuchungen zur simonianischen Gnosis (GTA 1; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975) im Verzeichnis der Sekundärliteratur (263), in dem "Irrmscher" zu "Irmscher" korrigiert werden muss (264, Z. 9). Gerade bei dieser "Seelenlehre ... in mythologischer Terminologie" (265) wüsste man gern, ob "Seele" stets den griechischen Begriff "Psyche" widerspiegelt.

Allen Übersetzungen sind mit großer Fachkenntnis und in kluger Auswahl einzelne Literaturverzeichnisse vorangestellt worden, jeweils aufgegliedert in "Textausgaben und Übersetzungen" und "Sekundärliteratur". Was aber diese Ausgabe, deren deutsche Übersetzungen noch lange zur sprachlichen Auseinandersetzung und geschichtlichen Einordnung herausfordern werden, besonders wertvoll macht, sind die jeweiligen Einleitungen, in denen folgende Probleme behandelt werden: Bezeugung und Überlieferung, Ursprache und Titel, Zeit und Ort, Verfasserschaft und Heimat, Aufbau und Textsorte, religionsgeschichtliche und theologische Einordnung, innerer Charakter und inhaltliche Akzente.

Bis auf die schon genannten Corrigenda und einige Fehler bei der Zeichensetzung (S[eite] X, Z[eile] 8; S. 17, Anm. 28, Z. 2; S. 136, Z. 1; S. 161, Z. 27; S. 186, Z. 12; S. 189, Z. 16; S. 196, Z. 20; S. 293, Ende von Schenke 1969/70) stimmt an mindestens zwei Stellen die Syntax nicht ganz (S. 88, Z. 24-26; S. 283, Z. 9-15). Statt "der" muss es "des" heißen (S. 76, Z. 38) und statt "deren" wohl "derer" (S. 21, Z. 5). Die Form "göttliche" muss "göttlichen" lauten (S. 100, Z. 4). Fehlt bei "Conneticut" ein Buchstabe (S. 95 und 216, jeweils bei Schenke 1981: "Connecticut"), so hat "Nennnung" einen zu viel (S. 384, Z. 8: "Nennung"). Mit "PistSop" ist wohl "PistSoph" gemeint (S. 156, Z. 12). Einen Patriarchen "Nikophorus" gibt es nicht (S. 153, Z. 4: entweder "Nicephorus" oder "Nikephoros"). Statt "Codizes" sollte man entweder "Kodizes" oder "Codices" schreiben (S. 295, Z. 23). "Codex I" kann bei Doresse 1966/68 kaum stimmen (S. 293: "Codex III"?). Dass mir nur zwei griechische Akzentfehler aufgefallen sind (S. 159, Z. 9-10), spricht für die Sorgfalt, mit der dieser erste von zwei Bänden hergestellt wurde. Verlag und vor allem die ganz und gar nicht androgyne oder mythologische Schar männlicher und weiblicher Herausgeber, Autoren und Mitarbeiter sind zum Erscheinen des vorzüglich ausgestatteten Werkes von hohem wissenschaftlichen Wert vorbehaltlos zu beglückwünschen.

Fussnoten:

1) Zu dieser ersten, auch online lesbaren deutschen Gesamtübersetzung der gnostischen Schriften aus Nag Hammadi, die man als ebenso "schnelle" wie "voreilige" Unternehmung bezeichnen muss (vgl. "Einführung" von H.-M. Schenke, 1-6, bes. 1), hat sich in vornehmer Zurückhaltung und gewohnter Gelehrsamkeit Peter Nagel in einem ausführlichen Addendum geäußert: Der Tractatus Tripartitus aus Nag Hammadi Codex I (Codex Jung), STAC 1, Tübingen: Mohr Siebeck 1998, 114-120.