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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

857–859

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pezzoli-Olgiati, Daria

Titel/Untertitel:

Täuschung und Klarheit. Zur Wechselwirkung zwischen Vision und Geschichte in der Johannesoffenbarung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 272 S. m. 3 Abb. gr 8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 175. Lw. DM 58,-.ISBN 3-525-53858-8.

Rezensent:

Otto Böcher

Bei der hier zu besprechenden Publikation handelt es sich um ein ganz eigenartiges, in vielfacher Hinsicht besonderes Buch. Nur mühsam findet, wer an die methodischen Schritte und Fragestellungen der nüchternen, historisch-kritischen Exegese gewöhnt ist, den rechten Einstieg. Dabei beherrscht die Autorin durchaus auch das exegetische Handwerkszeug, das sie besonders zur Deutung der von ihr ausgewählten Visionen der Joh-Apokalypse einsetzt. Ihr Zugang ist jedoch ein eher emotionaler, poetischer, biographischer. Das Vorwort (5 f.) ist überschrieben: "Eine Reise beginnt"; die Apk ist für die Autorin eine "Reise durch Fiktionen, eine Reise von der Insel Patmos zum Himmel, durch die Wüste bis zu einem großen, hohen Berg" (5). Frau Pezzoli-Olgiati ist von der Apk fasziniert, deren Sprache sie "zugleich raffiniert und gewaltig" findet (ebd.).

Wichtig für P.-O.s Anfragen an die Apk und für die Formulierung des Themas war ein italienisches Gedicht von Eugenio Montale, das zwischen 1920 und 1927 entstanden ist (14). Hier wird die irdische Welt ("Bäume, Häuser, Hügel") als "gewohnte Täuschung" (inganno consueto) bezeichnet. Die Visionen des Apokalyptikers gehören also auf die Seite der "Klarheit", die Geschichte und die von ihr geprägte Lebenswelt des Johannes und seiner Leser auf die Seite der "Täuschung". Ein Stück Platonismus ist, der Autorin vielleicht unbewußt, wirksam; das gilt auch für die von P.-O. allzu stark gewichtete Rückwärtswendung des Apokalyptikers (Apk 1,12), die auch bei Montale eine Rolle spielt (rivolgendomi, 14 f.) und irgendwie an Platons Höhlengleichnis erinnert.

Ihre Einführung nennt P.-O. "Von der geschichtlichen Wirklichkeit zur Welt der Visionen" (13-31). Darin unterzieht sie Apk 1,9-12a einer ausführlichen Analyse (16-29); das Sich-Umdrehen (epistrephein) ist für P.-O. "die Bedingung zum Sehen" (28 f.), wobei sie erwägt, solche Rückwendung auch temporal - in die Vergangenheit - zu verstehen (ebd.).

Der Hauptteil der Arbeit besteht aus zwei großen Kapiteln: "Ausgewählte Visionen" (33-213) und "Streiflichter zum geschichtlichen Hintergrund der Offenbarung" (215-246). Als Visionen hat P.-O. folgende Texte ausgewählt: Apk 4,1-11; 5,6-10; 7,9-8,1; 9,1-21; 13,1-10; 17,3-18; 21,1-22,5. Im Abschnitt "Ergebnis" (187-213) resümiert P.-O., was sie zuvor an den sieben von ihr ausgewählten Visionen exemplifiziert hat: Herkunft und Verwendung der Motive, Visionen als komplexe Sprachbilder, wesentliche theologische Linien. Bedeutsam ist ihr die Erkenntnis "paradoxer Symmetrien". Hier siedelt die Autorin an, was sie über "Täuschung und Klarheit" (211 f.) und über "Klarheit und Trost" (212) zu sagen hat: "Im Kontext des irdischen Gemenges, der Konfusion wird die himmlische Klarheit zum Trost" (ebd.).

Das Kapitel "Streiflichter zum geschichtlichen Hintergrund der Offenbarung" basiert auf der richtigen Voraussetzung, daß nicht nur in den sieben Sendschreiben, sondern auch in den "fiktiven Visionen" ein Bezug zur geschichtlichen Situation der Leser feststellbar sein müsse (215). Daher fragt P.-O. nach den "vernichtenden Mächten" und "Babylon", skizziert die Schwierigkeiten einer "Rekonstruktion des historischen Hintergrundes", behandelt die Probleme der "Datierung der Offenbarung" (wobei sie sich der Communis opinio der Forschung anschließt: Entstehung unter Domitian: 226) und beschreibt die Auswirkungen des Kaiserkults unter Domitian, speziell in den Städten Kleinasiens.

Ein abschließendes Kapitel ist der "Wechselwirkung zwischen Vision und Geschichte" gewidmet (247-251). In der Apk führt der Weg "von der Täuschung in der Geschichte zu den Visionen", aber auch "von der Klarheit der Visionen zur Geschichte". Diese Wechselwirkung hat ihre ethische Relevanz in der Forderung, einerseits auszuharren und andererseits aufgrund der aus der Vision gewonnenen Klarheit die gegenwärtige Geschichte zu deuten: als "Täuschung, die von den vernichtenden Kräften inszeniert wird" (250). Ein "Ausblick" (250 f.) betont zu Recht, daß Krisenzeiten und Visionen zusammengehören, ja, daß die literarisch gewordenen Visionen der Apk auch später zu Auslegung und Illustration anregten, wenn Krisen zu bewältigen waren. Nach einem "Nachwort" ("Faszination und Gefahren", 253 f.) beschließen Literaturverzeichnis (257-266) und Stellenregister (267-272) das Buch.

Dem Rez. bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Die allzu persönlich gefärbten Einleitungs- und Hinführungspassagen hätte er gern entbehrt, ebenso den eigenartigen Abspann, der nicht nur die Nuklearphantasien Bernhard Philberts integrieren kann, sondern sogar die Apk in gewisser Weise verantwortlich macht für den Mißbrauch, der heutzutage mit den Vokabeln "Apokalypse" und "apokalyptisch" getrieben wird (253 f.).

Nicht alles in diesem Buch ist exegetisch richtig, vieles emphatisch-überzogen ("die große Faszination einer raffinierten Welt von Fiktionen", 254), nur weniges neu. Andererseits beeindruckt die Besessenheit, mit der die Autorin dieser von ihr zunächst so gar nicht geliebten Schrift des Neuen Testaments zu Leibe geht. Wer seit Jahrzehnten gewöhnt ist, einzelnen Aussagen, Bildern und Motiven der Apk traditions- und religionsgeschichtlich nachzuspüren, kann vielleicht ein Stück dieser Besessenheit neu erlernen. Auch daß die Visionen der Apk zuerst einmal als Ganzes, als Schöpfung eines sprachmächtigen Visionärs (und nicht als Produkt eines Kompilators ererbter Traditionen) ernstgenommen werden sollten, ist eine wichtige Forderung der Autorin, der ich mich gern anschließe.