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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

399–401

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stiewe, Martin, u. François Vouga

Titel/Untertitel:

Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2001. XII, 294 S. gr.8 = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 2. Kart. ¬ 29,00. ISBN 3-7720-3152-8.

Rezensent:

Christfried Böttrich

An Literatur über die Bergpredigt besteht kein Mangel - wohl aber an Darstellungen, die unter der Fülle exegetischer Details und systematisch-theologischer Ansätze zu sichten und zu orientieren vermögen. Dieser Aufgabe ist das Buch von M. Stiewe und F. Vouga gewidmet. Am Anfang steht die Einsicht in die enge Verquickung von Exegese und Rezeptionsgeschichte gerade hinsichtlich dieses Textabschnittes, der von jeher als eine "Charta der Verkündigung Jesu und des Evangeliums" galt. In ihrem "Essay", der aus einer interdisziplinären Vorlesung in Bethel (2000/2001) hervorgegangen ist, erfolgt die Auslegung einzelner Abschnitte stets in unmittelbarem Bezug auf ausgewählte "klassische" Interpretationen der Bergpredigt. Dadurch gelingt beides: die kompakte Einführung in das breite Spektrum der Diskussion wie auch die Formulierung eines eigenständigen Gesprächsbeitrages.

Die Darstellung, fortlaufend in 26 Kapitel gegliedert, geht im Hauptteil an der Abfolge von Mt 5-7 entlang. Unter I. Die Eröffnung der Rede Jesu wird zunächst eine Auslegung der Seligpreisungen 5,1-16 mit einem Abschnitt über L. Ragaz als Interpreten der Bergpredigt verbunden. II. Die Rede Jesu gliedert sich nach einem Eingangsteil über 5,17-20 als dem hermeneutischen Programm, flankiert von einer Betrachtung der Begriffe Gerechtigkeit und Gesetz bei Mt sowie einem Abschnitt über den Interpretationsansatz J. Calvins in die drei Punkte A. Die Liebe (5,20-48), B. Die Vergebung (6,1-18) und C. Die Gerechtigkeit (6,19-34/7,1-12). Zur Exegese der Antithesen unter A. werden eine Erörterung über die Liebe Gottes als radikale Kritik des Vollkommenheitsideals sowie der Interpretationsansatz H. Zwinglis in Beziehung gesetzt; der Exegese von Almosengeben, Beten und Fasten unter B. korrespondieren eine Betrachtung über die mt Paradoxie des Lohnes sowie der Interpretationsansatz M. Luthers, noch einmal erweitert durch einen Blick auf die Frage der Gesetzeserfüllung bei Paulus, Matthäus, Luther und Calvin; unter C. tritt dem exegetischen Part über 6,19-34 eine Reflexion über die Schönheit der Schöpfung als Offenbarung mit einer Betrachtung dieses Gedankens bei Franziskus zur Seite, woran sich dann 7,1-12 im Spiegel der Interpretationen K. Barths und E. Thurneysens anschließen. III. Der Abschluß der Rede Jesu reflektiert über die Exegese hinaus noch einmal die ethische Dimension der Rede und die historische Situation des Matthäusevangeliums, um schließlich in eine Darstellung der Bergpredigtinterpretation Bonhoeffers einzumünden. Gerahmt wird dieser Hauptteil von einer Einleitung und einem Ertrag: Die Einleitung begründet die Voraussetzung, die Bergpredigt als kurze Darstellung des Evangeliums zu begreifen, liefert einen Überblick über den Aufbau der Predigt und führt die wichtigsten Stationen ihrer systematisch-theologischen Rezeption ein; als Ertrag werden die Ergebnisse des Hauptteiles noch einmal in komprimierter Gestalt wiederholt, wobei nun auch deutlicher als zuvor eine Positionierung gegenüber den verschiedenen Interpretationsansätzen erfolgt.

Eine besondere Stärke des Buches liegt in der anschaulich gestalteten Präsentation von Text- und Argumentationsstrukturen. Wie ein roter Faden durchziehen z. B. graphische Darstellungen des Aufbaues von Mt 5-7 alle Kapitel. Sie basieren auf der eingangs begründeten These einer Ringkomposition, die nun in immer neuen Entfaltungen und Verfeinerungen durchgespielt wird. Tabellarische Zusammenstellungen von Bezugstexten, Belegstellen oder Thesen lockern die Lektüre auf. Viel Raum nehmen durch Textboxen hervorgehobene Zitate ein, die im Falle von Franz von Assisi oder Calvin auch zweisprachig geboten werden. Jedem Abschnitt zu einem Interpretationsansatz wird eine in Daten und Stichworten gestaltete ausführliche biographische Orientierung des jeweiligen Interpreten vorangestellt. Fußnoten finden sich nur spärlich und tragen eher sporadischen Charakter. Ein Literaturverzeichnis - etwa zum aktuellen Forschungsstand - fehlt ganz.

Die These beider Autoren ist eine doppelte: "1. Die Radikalität der Worte Jesu formuliert keine Ethik innerhalb des Systems des Tausches, sondern den Appell, die Lebenseinstellung zu wechseln ... 2. Der Geist der Bergpredigt, der die Existenz durch das Vertrauen, die Barmherzigkeit, die Milde, die Friedfertigkeit und die Suche nach Gerechtigkeit prägt, ist eine radikale Herausforderung sowohl für den Einzelnen als auch für die Kirche und die gesamte Gesellschaft." (7) Jedes allein auf ethische Weisungen fixierte Verständnis der Bergpredigt erliegt demnach einem Missverständnis, das die Radikalität der matthäischen Neudefinition zentraler Begriffe wie Gesetz oder Gerechtigkeit sowie die Problematisierung des Lohn- und Gerichtsgedankens übersieht. Mit großer Konsequenz wird dieser Ansatz an allen Textabschnitten sowie im Gespräch mit allen Interpretationsansätzen überprüft: 5,1-16 zielt auf eine existentielle Haltung; 5,17-20 erscheint als Aufforderung, das Gottesbild zu wechseln; 5,20-48 richtet sich gegen jede Verdinglichung des Anderen und lädt ein zum Wechsel vom System des Tausches zur vollkommenen Barmherzigeit; 6,1-18 hat sein Zentrum in der Anerkennung der Übergroßzügigkeit Gottes und im Bekenntnis zu einem entsprechenden Verhalten; 6,19-34 beschreibt die Schönheit der Schöpfung als universale Offenbarung der sich umsonst schenkenden Liebe Gottes - eine Perspektive, die in 7,1-12 noch einmal im Blick auf die Haltung des Vertrauens zur Sprache kommt; 7,13-29 umkreist die Frage der notwendigen Kohärenz zwischen der persönlichen Einstellung des Subjekts und seiner Handlungsweise. Zwei Einsichten durchziehen dabei leitmotivisch alle Ausführungen. Zum einen: Die Bergpredigt widerspricht jeder Reduktion sozialer Beziehungen auf das "System des Tausches" (T. Godbout) und der damit verbundenen Verobjektivierung der Person des Nächsten. Zum anderen: Dieses Anliegen wurzelt vor allem in einem schöpfungstheologischen Ansatz, der zugleich die Universalität der Bergpredigt begründet.

Durchgängig ist eine synchrone Textbetrachtung für die Exegese bestimmend. Informationen zu traditions-, form- oder religionsgeschichtlichen Sachverhalten treten zu Gunsten des systematischen Anliegens in den Hintergrund. Gelegentlich gerät dabei die Anschaulichkeit der Darstellung in Spannung zu einer abstrakten Sprachgestaltung: Ob z. B. die stereotype Wendung von der Umsonstheit der Gabe Gottes glücklich getroffen ist, bleibt zu überlegen. Auch die Betonung der Schönheit der Schöpfung als Offenbarung jener übergroßzügigen Umsonstheit bedarf sicher über den Verweis auf die Intentionalität des Subjektes (184) hinaus noch einer weiteren Problematisierung. In jedem Falle aber zieht die Darstellung ins Gespräch, erweist sich als anregend und herausfordernd.

Unter der Literaturflut zur Bergpredigt bietet dieses Buch eine klar profilierte Position. Mit großem Nachdruck rückt es von neuem die Bedeutung der Textrezeption als einer Dimension exegetischer Arbeit ins Bewusstsein. Nicht nur der informative und einführende Charakter des Buches empfiehlt seine Benutzung. Auch die vielfältigen Anregungen im Detail verdienen es, beachtet und aufgenommen zu werden.