Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2003

Spalte:

398 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sonntag, Holger

Titel/Untertitel:

NOMOS SOTER. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext.

Verlag:

Basel: Francke 2000. XII, 376 S. 8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 34. Kart. ¬ 48,00. ISBN 3-7720-2826-8.

Rezensent:

Christof Landmesser

Was rettet den Menschen? Oder wie der Vf. dieser bei Klaus Berger in Heidelberg geschriebenen Dissertation diese Frage verstanden haben will: Was macht einen Menschen gerecht, wie kommt er zu einem sicheren, lebenswerten, kurz: kultiviert-menschlichen Leben, und - für den jüdisch-christlichen Bereich - wie kann ein solches Leben über den Tod hinaus bewahrt werden (300)? S. hat den Anspruch, dass er mit seiner Untersuchung "für die Antike vom 7. Jh. v. Chr. bis ins 2. Jh. n. Chr." dokumentiert habe, die Antwort auf all diese doch sehr unterschiedlichen Fragen laute schlicht: Dies alles geschehe "durch das Tun des Gesetzes" (ebd.). Die paulinische Theologie hebe sich zwar durch eine Gesetzeskritik insofern von ihrem antiken Kontext ab, als nach Paulus sowohl das jüdische Gesetz als auch alle anderen herkömmlichen Gesetze "zu einem guten Zusammenleben des Menschen mit Gott und den Mitmenschen nicht wirklich etwas beizutragen vermögen" (ebd.). Ist die paulinische Theologie mit Blick auf die überkommenen Gesetze in diesem Sinne gesetzesfrei, so werden die alten Gesetze aber ersetzt durch eine neue Norm, das Evangelium Jesu Christi. Dieses sei nach Paulus nicht etwa der Gegenstand des Glaubens der Christen, zumindest solange nicht, als man einen falschen Glaubensbegriff bei Paulus unterstelle.

Einen Schlüssel zu einem angemessenen Verständnis der paulinischen Theologie sieht S. darin, dass die semantische Nähe von Glaube und Gehorsam im paulinischen Schrifttum erkannt werde (120, Anm. 382). Aus dieser unterstellten semantischen Nähe wird bei S. aber unter der Hand eine Identität (vgl. 240 u. ö.), die Differenz und der sachliche Zusammenhang beider zu unterscheidenden Begriffe werden ignoriert. Der paulinische Glaubensbegriff wird so reduziert auf ein vom Menschen gefordertes und der Norm des Evangeliums entsprechendes Verhalten. Worin besteht dann die Rettung und die Gerechtigkeit des Menschen, der der Norm des Evangeliums entsprechend lebt? Die Antwort von S. ist wohl entlastend gemeint: "Um moralischen Perfektionismus geht es dabei ... nicht." (300) Offensichtlich liegt in der Bemühung, dieser neuen Norm des Evangeliums zu folgen, schon der entscheidende Akt. Und wer der Norm nicht ganz gerecht werden kann, der ist zu beruhigen: "Besser ein mittelmäßig geführtes Leben, als eines, das sich in vollkommener Weise an der falschen ... Norm orientiert." (Ebd.)

S. schreitet einen weiten Weg ab, um zu diesem ernüchternden Ergebnis hinsichtlich der paulinischen Theologie zu kommen, an dessen Beginn er bereits vermutet, dass manchen Leserinnen und Lesern Paulus nun "als pelagianisierender Ultratridentiner erscheinen" möge (5). Das provoziere möglicherweise die Frage: "Muß man jetzt [sc. nach Lektüre dieses Buches] anders predigen?" (Ebd.) Doch hier versucht S. zu differenzieren, möchte er doch dezidiert eine historische Arbeit präsentieren. Diese aber kann die theologische Urteilsbildung offensichtlich nicht tangieren, da nach S. gilt: "Historische Arbeit, wie sie hier durchgeführt wird, folgt einer grundsätzlich anderen Logik als theologisches Denken" (ebd.). Worin die Differenz hinsichtlich der Logik historischer Arbeit und theologischen Denkens bestehen soll, wird nicht weiter erörtert; gemeint ist wohl auch weniger eine Differenz in der Logik - im Raum der Wissenschaft wäre dies desaströs -, als eher eine Methodendifferenz.

Die Arbeit von S. ist als religionsgeschichtliche Untersuchung angelegt. Er möchte die paulinische Theologie im Kontext der antiken Literatur des genannten Zeitraums verstehen. Dies führt er in zwei Hauptteilen durch. Zuerst verfolgt er das Thema: Das Gesetz als Weg zu Gerechtigkeit, Leben und Rettung im paganen Schrifttum (7-108), sodann wendet er sich dem Gesetz als Heilsweg in antikem Judentum, Neuem Testament und Alter Kirche zu (109-299). Diese Hauptteile sind in weitere Unterabschnitte gegliedert. Im ersten Hauptteil geht er der Frage nach der Funktion des Gesetzes im politischen Leben nach (7-17), den Verhältnisbestimmungen von Gesetz und Gerechtigkeit (9-46), Gesetz und Leben (47-90) sowie Gesetz und Rettung (91-105). Dieser Teil wird abgeschlossen durch das Zwischenergebnis, in dem die Bedeutung des Gesetzes in der antik-griechischen Zivilisation zusammenfassend gewürdigt wird (106-108). Im zweiten Hauptteil werden wieder Gesetz und Gerechtigkeit thematisiert (109-284), wobei hier ausführlich auf paulinische Texte eingegangen wird. Im Anschluss daran sind Gesetz, Leben und Auferstehung (285-293) sowie Gesetz und Rettung (294- 299) Gegenstand der Untersuchung. In jedem dieser Unterabschnitte stellt S. zunächst kurze Textausschnitte in Übersetzung (und teilweise in der Ursprache) vor, die meist in einem zusätzlichen Paragraphen durch weitere Texte ergänzt werden (Thematische Vertiefung). Diese Texte werden von S. - zuweilen sehr knapp - paraphrasierend kommentiert. Die Zusammenstellung der kommentierten Texte verdankt sich häufig nur einer Begriffs- oder Motivverbindung. Die große Fülle der Texte erlaubt es S. nicht immer, seine Hinweise zu den einzelnen Texten durch eine genaue Kontextanalyse weiter zu plausibilisieren.

S. lenkt mit seiner Arbeit die Aufmerksamkeit auf viele interessante Texte zum Thema Gesetz und Gerechtigkeit in der griechischen Antike sowie in der antiken jüdischen und christlichen Tradition. Er vermag durchaus die Bedeutungs- und Nuancenvielfalt zentraler Begrifflichkeiten zu diesem Themenbereich plausibel zu machen. Die - gerade im Kontext paulinischer Theologie - gewiss nicht abschließenden philologischen Analysen von S. sind aber doch häufig eher durch das ihm nahe liegende theologische Interesse als von zwingenden exegetischen Argumenten bestimmt. Die Diskussion um das paulinische Gesetzesverständnis muss also weiter geführt werden - das aber dürfte ganz im Sinne des Vf.s dieser Arbeit sein.