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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

396–398

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ruschmann, Susanne

Titel/Untertitel:

Maria von Magdala im Johannesevangelium. Jüngerin-Zeugin-Lebensbotin.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2002. XI, 269 S. gr.8 = Neutestamentliche Abhandlungen, NF 40. Kart. ¬ 38,90. ISBN 3-402-04788-8.

Rezensent:

Jürgen Becker

Intertextuelle Untersuchungen zu den literarischen Gestalten der Bibel werden seit einigen Jahren häufiger veröffentlicht. Die von L. Oberlinner betreute Dissertation passt in dieses Bild. Die Autorin möchte "mithilfe der joh Theologie ein Porträt" der biblischen Gestalt der Maria von Magdala (M. M.) "entwerfen, das seinen Gehalt auf einer anderen als der historischen Ebene entfaltet, ohne dass diese dadurch desavouiert werden soll" (4). Sie "will darlegen, dass Maria von Magdala gerade im Spiegel joh Theologie, die ihr geschichtlich zugeschriebenen Kategorien der Jüngerin, Zeugin und Osterbotin erfüllt" (5).

Dabei will sie sich methodisch an "einer ausgewogenen Kombination von diachroner und synchroner Fragerichtung" ausrichten (15) und vollzieht dies mit einer Option für das relecture-Konzept von J. Zumstein, A. Dettwiler und K. Scholtissek. Das geschieht angesichts der Überzeugung, dass das Joh einen längeren Wachstumsprozess durchlaufen hat. Allerdings wird das relecture-Konzept im Unterschied zu ihren Vorgängern von der Autorin stark ausgeweitet und überhöht: Es soll nun vorab und allein "die enge Verquickung von zentralem Inhalt und literarischer Struktur" des ganzen Evangeliums erfassen können (23). Damit wird es die einzige nomothetisch bestimmte "Brille", mit der alle Traditions- und Redaktionsprozesse angesehen werden. Außerdem wird das Konzept in Gegensatz zu abgelehnten diachronen Modellen gestellt, die Gegensätze und Konkurrenzen im Text wahrnehmen. Sachliche Widersprüche und Diskontinuitäten darf es für die Autorin nämlich nicht geben, weil für sie vorab der Traditionsprozess von Kontinuität bestimmt ist und als ein "organischer Reifungsprozess" aufgefasst wird (10; 19).

Das erinnert stark an das katholische Traditionsverständnis. Wie will man aber schon angesichts der Kontroversen in 1. bis 3.Johannes das Austragen von Gegensätzen ausschließen? Kann man überhaupt die Komplexität geschichtlicher Überlieferungsprozesse auf eine so einfache Alternative trimmen?

Die inhaltliche Untersuchung beginnt 38 ff. mit einer Bestandsaufnahme zur neutestamentlichen Überlieferung über M. M. Sie ergibt, dass M. M. in allen Evangelien "Zeugin der Kontinuität von Leben, Sterben und Tod Jesu" ist, dazu Empfängerin der Osterbotschaft (53), jedoch nur in Joh 20,14 ff. einer eigenen Christophanie gewürdigt ist (54).

Ohne Erwähnung einer längeren Nachfolge (55), ja schärfer: ohne jedwede Vorbereitung erscheint M. M. im Joh als eine der Frauen unter dem Kreuz (Joh 19,25). Man wird hinzufügen: Nach Joh 20,18 ist sie wiederum gänzlich folgenlos verschwunden, ihre Christophanie literarisch "vergessen". Diese kometenhafte Episodik teilt sie mit (fast) allen joh Personen aus dem Umfeld Jesu. Doch aus diesem literarischen Umgang mit Personen zieht die Autorin nicht die Konsequenz abzuklären, in welchem perspektivischen Zuschnitt im Joh überhaupt Personen gezeichnet werden, sondern versucht unmittelbar, aus Joh 19,25-27 für M. M. so viel Profil wie möglich zu erheben. Das geschieht so: Für sie ist M. M. mit den anderen Frauen Zeugin des Gesprächs zwischen Jesus, seiner Mutter und dem Lieblingsjünger in Joh 19,26 f., durch das der "Nukleus der nova familia dei" entstehen soll (104). Als nahe Zeugin der Erhöhung Jesu am Kreuz "repräsentiert" M. M. "den Glauben an ihn", gehört "zu den Seinen" nach Joh 10 (106) und hat damit selbst Anteil an der eben gestifteten familia Dei. Es sei jetzt offen gelassen, ob die Lieblingsjüngerstellen (und Joh 10,1 ff.) nicht doch zur nachevangelistischen Redaktion gehören. Vielmehr sei ohne die diachrone Frage der Text nur einmal nach dem Grundsatz synchron betrachtet, dass möglichst nichts in den Text eingetragen werden soll. Dann gilt: M. M. steht szenisch zwar in Beziehung zu Jesus (19,25a), aber keineswegs zum Geschehen in 19,26 f. Weder ist von ihrem Glauben gesprochen, noch von dem der Mutter Jesu. Das joh Thema der familia Dei steht nicht im Text, denn alle diesbezüglichen Konnotationen müssten eingetragen werden. Dass der Erzähler den Text vom Repräsentanzgedanken her verstanden wissen wollte, hat er nicht angedeutet.

Natürlich ist der Ertrag für das literarische Bild von M. M. im Falle von Joh 20,1 f.11-18 deutlich opulenter. Die Autorin legt darum mit Recht hierauf den Schwerpunkt ihrer Ausführungen und möchte mit Hilfe des "narrativen Makrotextes" und "trotz des episodischen Charakters" die Christophanie "in die thematische Kohärenz des Gesamtstoffes" einbinden (108). Dazu wählt sie exemplarisch einen Vergleich mit Joh 1,35-51 und mit 14,18-24.

Der erste Vergleich will mit Hilfe einer semantischen Verbalanalyse (Abfolge: kommen, sehen, erkennen, verkündigen) nachweisen, dass beide Perikopen in einer bewusst gestalteten Beziehung stehen, so dass "der Weg in die nachösterliche Jüngerschaft" durchaus "analog ... zu demjenigen der ersten Jünger Jesu" verläuft (161), und Joh also im Falle der M. M. nochmals einen "Intensivkurs" in Sachen Jüngerschaft bietet. Schwierig an diesem Vergleich ist allerdings, dass sich die Verben und ihre Funktionen nur formal gleichen, sich funktional und inhaltlich jedoch unterscheiden. Außerdem liegen zwei ganz verschiedene Textsorten vor, wobei die Autorin am neutestamentlichen und hellenistischen Bestand der Wiedererkennungslegenden (Epiphanien mit zunächst verborgenem Numen) nicht abklärt, wie das narrative Gerüst dieser Textssorte zu deuten ist. Eine analoge Analyse müsste auch zu Joh 1,35 ff. geliefert werden. Erst dann würde ein Vergleich beider Perikopen zu tragfähigen redaktionellen Urteilen führen können. Mein Ergebnis ist: Die bewusste Zuordnung beider Perikopen kann ich nicht erkennen. Doch zeigt für mich Joh 20,11 ff. selbständig, was die Autorin als Ergebnis festhält: M. M. wird in die nachösterliche Jüngerschaft erhoben (162).

Joh 14,18-24 verhalten sich zu Joh 20,11-18 für die Autorin wie proleptischer Kommentar und narrative Realisation (190). Wenn man das auf den Gesamtbestand der ersten Abschiedsrede und des Textes in Joh 20 bezieht, wie ihn der Evangelist in Nachgestaltung des Passionsberichtes schuf, ist diese Relationsbestimmung im Grundsatz angemessen. Doch muss man bedenken, dass Joh 20,18 ff. traditionelle Vorgabe ist (Prätext) und der Evangelist nachträglich den Passionsbericht u. a. durch seine Abschiedsrede ausdeutete. Also läuft das primäre Interpretationsgefälle von Joh 20 zu Joh 13 f. Dann aber muss zunächst Joh 14,18-24 erweisen, inwiefern der Evangelist dabei direkt Joh 20,11 ff. reinterpretiert. Da dieses Ergebnis sehr mager ausfällt, ist Vorsicht geboten, im Gegenzug die Christophanie so intensiv wie möglich mit den Augen von Joh 14 zu lesen. Das Recht dazu wäre gegeben, wenn die Autorin Textsorte, Diachronie und Redaktion zu Joh 20,11 ff. präzise bestimmen würde und dann die begründet auf den Evangelisten weisenden Bezüge zum Anlass ihrer Interpretation erheben würde. Aber hier verhält sie sich asketisch. Das eröffnet ihr die Möglichkeit, Joh 20,11-18 maximalistisch von der Abschiedsrede her auszulegen.

Im Ergebnis markiert für die Autorin dann M. M. erstens "den Wendepunkt zwischen vor- und nachösterlicher Jüngerschaft" und "repräsentiert" zweitens "über die JüngerInnen Jesu hinaus auch die gesamte nachösterliche Glaubensgemeinschaft", so dass sie zu einer "Brücke" zwischen der Ebene des Evangeliums und der Gemeinde wird (209). Der ersten Formulierung kann ich zustimmen aus Gründen, die in Joh 20 selbst liegen, jedoch mit der Einschränkung, dass ich das Episodische aller joh Personen beachten will. Der zweite Punkt ist m. E. für das Joh ein Fremdling, der als Grundgedanke wohl aus der katholischen Mariologie entlehnt ist.