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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

393–395

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gerdmar, Anders

Titel/Untertitel:

Rethinking the Judaism-Hellenism Dichotomy. A historiographical case study of Second Peter and Jude.

Verlag:

Stockholm: Almqvist & Wiksell 2001. 378 S. gr.8 = Coniectanea Biblica, New Testament Series, 36. Kart. SEK 294,00. ISBN 91-22-01915-4.

Rezensent:

Jörg Frey

Die unter Anleitung von Kari Syreeni in Uppsala entstandene Dissertation verfolgt zwei miteinander verflochtene Zielsetzungen: Sie will die in der neutestamentlichen Exegese verbreitete Dichotomie der Kategorien jüdisch/hellenistisch überwinden, und sie analysiert zu diesem Zweck ein Paar miteinander verwandter Schriften, das in der Forschung häufig mit Hilfe dieser Begriffe eingeordnet wurde, den zumeist als jüdisch bzw. judenchristlich charakterisierten Judasbrief und den oft als extrem hellenisiert angesehenen Zweiten Petrusbrief.

G.s Interesse an der Überwindung der Dichotomie zwischen jüdisch und hellenistisch entspringt der forschungsgeschichtlichen Beobachtung, dass vor allem die Betonung des Hellenistischen in der neutestamentlichen Exegese oft ideologisch motiviert war. Der griechische Geist wurde im Gegensatz zum palästinisch-jüdischen Partikularismus gesehen, die Hellenisierung des Judentums als praeparatio evangelica, die sukzessive Hellenisierung des frühen Christentums als Überwindung der nomistischen Beschränktheit des Judenchristentums. G. bemerkt zutreffend, dass diese historiographischen Modelle vom (heiden-)christlichen Standpunkt aus entworfen sind und der Selbstwahrnehmung wesentlicher Strömungen des Judentums entgegenstehen. Dies ist der ethische Grund für das Bestreben, die dichotomischen Modelle in der Historiographie des frühen Christentums zu überwinden. Ein exegetischer Grund kommt hinzu: Der heuristische Gebrauch der Kategorien jüdisch und hellenistisch führt nach G. auch zu problematischen Einseitigkeiten in der Textwahrnehmung. Die Ausleger suchten in hellenistischen Texten nur nach hellenistischen Elementen, in jüdischen nur nach jüdischen - gegenläufige Indizien wurden häufig vernachlässigt und übersehen.

Die Einführung (15-29) beginnt mit einer kurzen Skizze der Verwendung der Kategorien jüdisch/hellenistisch und weist deren Verwendung in den Kommentaren zu Jud und 2Petr nach. Kapitel 1-3 erörtern die sprachliche Basis dieser Kategorisierung, die Analyse von Syntax, Vokabular und Stil (30-63), die Argumentation auf Grund der Beobachtung von Semitismen (64-91) und die Argumentation auf Grund der Verwendung von literarischen Formen, Rhetorik etc. (92-123). In Kapitel 4-6 bespricht G. die inhaltliche Basis der Kategorisierung, die Auswertung von Schriftbezügen (124-160), von kosmologischen und eschatologischen Aussagen (161-206) und von Ethik, Soteriologie und Anthropologie (207-243). In Kapitel 7 reflektiert G. dann Judentum und Hellenismus als Forschungskategorien und ihre forschungsgeschichtlichen Implikationen. Im Unterschied zu den vom Entwicklungsgedanken geprägten historiographischen Modellen schlägt er ein "patchwork model" der kulturellen Koexistenz in der mediterranen Welt vor (244-277), dessen Konturen jedoch relativ unscharf bleiben. Kapitel 8-9 versuchen, die Schreiben in die frühchristliche Theologiegeschichte einzuordnen (278-297) und aus einem gemeinsamen Milieu frühchristlicher Gemeinden zu verstehen (298-323), bevor am Ende einige exegetische und methodologische Folgerungen gezogen werden (324-342). Eine Bibliographie und ein Namensregister (leider kein Stellenregister) beschließen den Band.

In dieser Besprechung soll der Akzent weniger auf den übergreifenden Fragen historiographischer Kategorisierung als vielmehr auf den konkreten Beobachtungen zu den beiden oft vernachlässigten Schriften liegen. G. hegt den Verdacht, dass das dichotomische Schema jüdisch/hellenistisch vielerorts den Blick auf die Texte eingeschränkt hat. Daher will er die Heuristik umkehren und nach hellenistischen Elementen im Jud und jüdischen im 2Petr suchen. Diese Ergänzung der herkömmlichen Interpretation ist gewiss sinnvoll, und sie führt zu einigen neuen Beobachtungen, besonders für das Verständnis des 2Petr, in dem G. jüdische bzw. semitische Elemente sehr viel deutlicher wahrnehmen will.

Die Auswertung der Daten ist kritisch zu erörtern: Während nach G. die Syntax des Jud der hellenistischen Prosa entsprechend korrekt sei, erscheinen die Bezüge im 2Petr gelegentlich unklar (z. B. Anakoluthe 2Petr 1,17; 2,4; 3,16). Im Vokabular zeige Jud einen klaren Bezug auf die LXX auf (deutlich z. B. in der Wendung ekporneuein opiso in Jud 7), während sich ein solcher in den zahlreichen neutestamentlichen Hapaxlegomena des 2Petr nicht erkennen lässt. Die Komposition sei im Jud sehr klar, im 2Petr hingegen eher undeutlich. Aus solchen Beobachtungen folgert G., dass der Stil von 2Petr nicht als attisch oder gar asianisch anzusehen sei, sondern eher als nicht-literarisch gelten könne. Ist aber die Qualität der Sprache ein Gradmesser für die hellenistische Beeinflussung, dann müsse Jud als stärker, 2Petr hingegen als weniger stark hellenistisch gelten (63). Ähnlich argumentiert G. bezüglich der Semitismen: Die Häufigkeit des genetivus qualitatis und z. B. redundante Pronomina, Asyndeta etc. im 2Petr wertet er als Indiz eines stärkeren semitischen Einflusses auf die Sprache des Autors. So kehrt sich das herkömmliche Bild um: 2Petr erscheint nun jüdischer als Jud (91). Aus dem Vergleich der salutationes in Jud 2 und 2Petr 1,2 will G. schließen, "that Jude elaborates the greeting found in 2 Peter in line with the overall theology of the letter" (113). G. argumentiert also für die Priorität des 2Petr vor dem Jud und für die literarische Abhängigkeit des Jud vom 2Petr. Die Differenzen paralleler Passagen erklärt G. dann mit der Auskunft, dass der Autor des Jud den Text aus 2Petr 2,1-3,3 gestrafft und verdeutlicht habe.

Es ist nicht verwunderlich, dass eine so dem weitgehenden Konsens entgegenlaufende Rekonstruktion viele Fragen offen lässt. M. E. lässt sich die Entstehung des Jud in dieser Sicht kaum plausibel machen. Warum hat der Autor des Jud überhaupt zur Feder gegriffen, wenn ihm im 2Petr ein Aposteltestament vorgelegen hat? Wie kommt es, dass sich im Jud keine Spuren von 2Petr 1,3-21 und 3,4-18 finden? Diese wären doch zu vermuten, wenn 2Petr 2,1-3,3 gestrafft rezipiert werden. Ist es plausibel anzunehmen, dass der Autor aus der Sorge, seine Leser könnten die seltenen Vokabeln aus 2Petr (z. B. 2Petr 2,4 seira und tartaroo) nicht kennen, diese ausdrucksstarken Worte einfach tilgte? Warum sollte er zudem wirkungsvolle Wortspiele wie z. B. am Beginn von 2Petr 2,13 getilgt haben? Die in Fragen der Stilistik wesentlich eingehendere Argumentation von Thomas J. Kraus (Sprache, Stil und historischer Ort des zweiten Petrusbriefes, WUNT II/136, Tübingen 2001, 368-376) kommt im synoptischen Vergleich der entsprechenden Passagen mit eher einleuchtenden Gründen zum entgegengesetzten Ergebnis.

In seiner Analyse der inhaltlichen Kriterien (ideological markers) zeigt G. mit Recht, dass nicht nur im Jud, sondern auch im 2Petr geprägte Traditionen jüdischer Schriftauslegung (z. B. über Lot oder Bileam) zu Grunde liegen, die der Autor offenbar selbständig eingearbeitet hat. Zutreffend ist wohl auch die Beobachtung, dass 2Petr ebenso wie Jud auf ein apokalyptisches Weltbild zurückgreift, ja ein relativ vollständiges Inventar apokalyptischer Elemente enthält. Auch die Soteriologie des Schreibens ist - gegen Käsemanns Verdikt - keineswegs uneschatologisch, sondern wie das ganze Schreiben auf die Parusie hin ausgerichtet (2,17 f.). In diesem Rahmen braucht auch die Wendung theias koinonoi physeos (2Petr 1,4) nicht als ein Element hellenistischer Substanzmetaphysik und damit nicht in einem logischen Widerspruch zu den apokalyptischen Aussagen verstanden zu werden. G. schlägt vor, diese Aussage auf dem Hintergrund apokalyptischer und hellenistisch-jüdischer Verwandlungsaussagen zu verstehen (232-242). Intendiert wäre also nicht eine Aussage über das natürliche Sein der Menschen, sondern eine Aussage über das angelomorphe Sein der Erlösten. Gleichwohl sind die Parallelen zu religionsphilosophischen Aussagen aus dem Griechentum nicht zu leugnen, so dass man nicht umhinkommt zu fragen, warum der Autor für seine soteriologische Aussage eine so stark an die philosophische Sprache anklingende Formulierung wählt. G. geht darauf allerdings kaum ein. In seiner Analyse wird 2Petr deutlich jüdischer bzw. apokalyptischer, als die bisherige Forschung es sehen konnte. Hingegen erscheint Jud kaum hellenistischer.

Mit einer kühnen These versucht G., die beiden Schreiben innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte zu lokalisieren. Die apokalyptische Weltsicht des 2Petr lädt zum Vergleich mit der Apk ein, und hinsichtlich der Gegnerpolemik bietet sich als Vergleichspunkt die Instrumentalisierung der Bileam-Topik in Apk 2,14 sowie in Jud 11 und 2Petr 2,15 an. G. sieht hinter dieser Chiffre eine zusammenhängende Gruppe von Gegnern, gegen die sowohl die Apk als auch 2Petr und Jud kämpfen. Umgekehrt legt sich damit für G. die Herkunft von 2Petr und Jud aus einer apokalyptisch-judenchristlichen Strömung nahe (296). Dies führt zur These, dass beide Schreiben ungefähr zur selben Zeit in einem gemeinsamen Netzwerk lokaler Kirchen entstanden seien. Freilich will G. (trotz der Bileam-Parallele) die beiden Briefe nicht in Kleinasien, sondern (mit Vorsicht) in Palästina lokalisieren. Für den Jud hält er die Herkunft vom Herrenbruder für möglich, für den 2Petr postuliert er jedoch keine Authentizität. Beide Schreiben werden aber noch im 1. Jh. angesetzt.

Die Achillesferse dieser Thesen ist die Auswertung der Erwähnung von Bileam. Diese Gestalt wurde in der nachbiblischen Zeit zum paradigmatischen Verführer, so dass eine topische Verwendung viel wahrscheinlicher ist, während ein Bezug auf ein und dieselbe Gegnergruppe (zumal in Kleinasien und in Palästina) unwahrscheinlich ist. Auch dass Jud und 2Petr aus dem gleichen Gemeindemilieu stammen, ist kaum sicher zu erweisen. Gerade die Annahme einer literarischen Abhängigkeit lässt den Schluss nicht als zwingend erscheinen.

So bleiben in der konkreten Rekonstruktion G.s viele Unwahrscheinlichkeiten. Die ideologiekritische Infragestellung der gängigen Forschungskategorien gelingt daher auch eher als die Präsentation eines neuen, plausibleren Bildes der urchristlichen Geschichte. Neben einigen erhellenden Beobachtungen zum 2Petr, die das Schreiben insbesondere gegenüber den abwertenden Urteilen Käsemanns nicht nur als jüdischer, sondern auch als stärker in der urchristlichen Tradition stehend erweisen, bleibt als Fazit insbesondere die These, dass die häufig unpräzise verwendeten Kategorien jüdisch bzw. hellenistisch (ebenso wie z. B. frühkatholisch) zum Verständnis der diskutierten Texte und zu ihrer Klassifikation wenig hilfreich sind. Ob man auf diese Kategorien ganz verzichten kann oder ob sie sich in Anbetracht der früheren Geschichte des Judentums in der hellenistischen Welt nicht doch aufdrängen, sei dahingestellt. Gegenüber den in der Forschung gelegentlich mit diesen Kategorien verbundenen Werturteilen muss man jedenfalls Vorsicht walten lassen, wenn diese Kategorien das Verständnis der Texte nicht verstellen sollen.