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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

387–389

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wong, Ka Leung

Titel/Untertitel:

The Idea of Retribution in the Book of Ezekiel.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2001. XIV, 308 S. gr.8 = Supplements to Vetus Testamentum, 87. Lw. ¬ 80,00. ISBN 90-04-12256-7.

Rezensent:

Thomas Krüger

Ka Leung Wong (W.) legt mit diesem Band eine leicht überarbeitete Fassung seiner Dissertation (Edinburgh 2000) vor. Ihr Thema ist das Verständnis der göttlichen Vergeltung im Buch Ezechiel: Nach welchen "Prinzipien" sind menschliches Tun und Ergehen in den Orakeln des Ezechielbuchs miteinander verknüpft?

W. geht aus von einer kritischen Auseinandersetzung mit der These von Klaus Koch, dass der Zusammenhang von Tun und (dem diesem nach moralischen Gesichtspunkten entsprechendem) Ergehen im Alten Testament vielfach nicht erst durch ein vergeltendes Handeln Gottes hergestellt werden muss, sondern gleichsam "natürlich" aus dem Tun des Menschen selbst erwächst, mit dem dieser eine "schicksalwirkende Tatsphäre" um sich aufbaut, die auf sein Ergehen zurückwirkt. W. referiert die kritischen Einwände, die gegen diese Hypothese Kochs vorgebracht wurden, und zieht daraus den Schluss, dass ein solches "mechanistisches" oder "dynamistisches" Verständnis des "Tun-Ergehen-Zusammenhangs" nicht haltbar sei. (Damit wird er m. E. der differenzierten und in vielerlei Hinsicht nach wie vor bedenkenswerten Argumentation Kochs nicht wirklich gerecht.) Die göttliche Vergeltung sei im AT aber auch nicht durchweg "juristisch" verstanden. Das versucht W. am Beispiel des Ezechielbuchs zu zeigen, indem er drei verschiedene Prinzipien der Vergeltung herausarbeitet: 1) ein juristisches bzw. rechtliches Prinzip, das mit der Vorstellung eines Bundes oder Vertrags verbunden ist, 2) ein priesterliches Prinzip, das sich am Gedanken der Verunreinigung und Reinigung orientiert, und 3) ein Prinzip der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem (bzw. Ähnlichem).

1) Ein rechtliches Vergeltungsprinzip erkennt W. zunächst in denjenigen Texten, die ausdrücklich auf einen "Bund" bzw. "Vertrag" (berith) Bezug nehmen: den Ehe-Vertrag zwischen Jahwe und Jerusalem (Ez 16), den Vasallen-Vertrag zwischen Nebukadnezzar und Zidkija (bei dem Jahwe als Zeuge und Garant fungiert: Ez 17) oder den Vertrag zwischen Jahwe und dem Volk Israel (Ez 20). Implizit sei die Vorstellung eines Vertrages zwischen Jahwe und Israel darüber hinaus vorausgesetzt in Unheils- und Heilsankündigungen, die Themen und Motive aus Lev 26 (Segen und Fluch) aufnehmen (Ez 4-6; 14,12-23; 34; 37). Nach diesem Modell der Vergeltung bestraft oder belohnt Jahwe das Verhalten Israels entsprechend den von beiden Seiten anerkannten Vertragsbestimmungen.

2) In anderen Texten (Ez 9-10; 22; 20; 24; 36,16 ff.) wird das Fehlverhalten Israels (bes. sein "Götzendienst") als "Verunreinigung" des Tempels, der Stadt Jerusalem, des Landes oder des Volkes verstanden. Priesterlichem Denken entsprechend muss eine solche "Verunreinigung" beseitigt werden, was durch Ausrottung (krt), Vernichtung (durch Feuer) oder Entfernung (Exilierung) ihrer Träger geschehen kann. Nach diesem Modell kann die göttliche Vergeltung als eine "Reinigungs"-Maßnahme verstanden werden.

3) Vielfach wird in den Unheilsankündigungen des Ezechielbuchs im Sinne einer "poetischen Gerechtigkeit" angedeutet, dass Tun und Ergehen einander entsprechen, dass Gott Gleiches mit Gleichem (bzw. Ähnlichem) vergilt. W. zeigt dies an Beispielen aus Ez 5-7; 11-13; 16 und 34. Ausdrücklich hingewiesen wird im Ezechielbuch auf dieses "talionische" Vergeltungs-Prinzip, wenn gesagt wird, dass Jahwe Schuldigen "ihre Wege auf ihr Haupt legt", sie "ihren Wegen entsprechend richtet" oder "ihnen tut, wie sie getan haben".

Die drei genannten "Prinzipien" der göttlichen Vergeltung sind nach W. voneinander zu unterscheiden. Das dritte ist allgemeiner als die ersten beiden. Es schließt diese ein, lässt aber auch noch andere Möglichkeiten zu. Der Befund zeigt nach W., dass die göttliche Vergeltung im Ezechielbuch weder "mechanistisch" noch ausschließlich "juristisch" verstanden wird. Die Funktion der verschiedenen Vergeltungs-Modelle im Ezechielbuch sieht er darin, dass sie die mit der Katastrophe Jerusalems und Judas zu Beginn des 6. Jh.s virulent gewordene "Theodizee"-Frage (vgl. Ez 18,25.29 [?]) beantworten: Diese Katastrophe war die gerechte Strafe Gottes für die Sünden der Israeliten. Indem das Ezechielbuch sie auf verschiedene Weise als solche begreiflich macht, stellt es die Gerechtigkeit Jahwes heraus.

Die Ausführungen W.s zu den verschiedenen Texten des Ezechielbuchs wären im Einzelnen kritisch zu diskutieren. So argumentieren z. B. Ez 16; 17 und 20 auf ganz unterschiedliche Weise mit ganz verschiedenen Verträgen. Und die Annahme, dass Lev 26 älter ist als eine Reihe von Texten des Ezechielbuchs ist - wie W. durchaus bewusst ist - keineswegs unumstritten. Auch das Thema "Unreinheit" begegnet im Ezechielbuch in ganz verschiedenen Zusammenhängen und Ausprägungen. In Ez 9,7 verunreinigt Jahwe selbst den Tempel (als Strafe, vgl. 20,26). In 24,13 gibt er (im Zorn) seinen Versuch auf, Jerusalem zu reinigen. 36,25.33 und 37,23 kündigen eine Reinigung Israels im Zusammenhang mit der Rückkehr aus dem Exil (bzw. der Diaspora) an. Auf literatur- und theologiegeschichtliche Differenzierungen verzichtet W. in seiner Arbeit fast völlig. Selbst wenn man zugestehen wollte, dass der Masoretische Text des Ezechielbuchs im Großen und Ganzen auf den Propheten Ezechiel zurückgeht (29), würde man sich doch wünschen, dass vor dem Versuch, "to reconcile the various contradictory viewpoints within Ezekiel" (28), erst einmal deren Differenzen präzise herausgearbeitet werden.

Ein umfassenderes und komplexeres Bild hätte sich vermutlich ergeben, wenn W. die Frage nach der Verknüpfung von Tun und Ergehen nicht von vornherein auf das Modell der "Vergeltung" eingeengt hätte. So entwickelt sich z. B. in Ez 16 die Katastrophe Jerusalems aus dessen Fehlverhalten in einem komplexen Beziehungsgeflecht, in dem neben dem "betrogenen Ehemann" Jahwe auch die "Liebhaber" Jerusalems, ihre "Schwestern" und ihre "Kinder" eine Rolle spielen. Sie wirken bei der Bestrafung Jerusalems mit Jahwe zusammen. Entsprechendes gilt z. B. auch für Ez 17. Das Handeln Jahwes wird nicht nur mit der Metapher "Vergeltung" beschrieben und einsichtig zu machen versucht, sondern auch mit Metaphern wie "Zorn", "Eifer(sucht)" oder "göttliche Machtdemonstration vs. menschliche Hybris". So finden sich im Ezechielbuch ganz verschiedene Versuche, die Katastrophe Jerusalems und Judas als Konsequenz eigenen Fehlverhaltens begreiflich zu machen - auch, aber nicht nur als göttliche Vergeltung. Dabei scheint es mindestens einem Teil der Texte nicht nur um eine (nachträgliche) Rechtfertigung der Katastrophe zu gehen, sondern um deren Ankündigung als erwartbare Folge aktuellen Fehlverhaltens.

Auch wenn die vorliegende Arbeit einige Fragen und Wünsche offen lässt, regt sie doch zum weiteren Nachdenken über ein zentrales und theologisch bedeutsames Thema der alttestamentlichen Prophetie an.