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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

385–387

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Maier, Christl

Titel/Untertitel:

Jeremia als Lehrer der Tora. Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 422 S. gr. 8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 196. Lw. ¬ 74,00. ISBN 3-525-53880-4.

Rezensent:

Karin Finsterbusch

Bei der zu besprechenden Arbeit handelt es sich um die gekürzte Fassung einer im WS 2000/2001 von der Humboldt-Universität Berlin angenommenen Habilitationsschrift. Die Autorin will, wie sie in ihrer Einleitung darlegt, das sog. dtr Prophetenbild des Mahners, der das Volk im Gesetz unterweisen soll, in den Blick nehmen und versuchen, das Verhältnis von Prophet und Gesetz im Jeremiabuch zu bestimmen: "Daher sind zunächst jene Texte zu analysieren, in denen der Prophet in einer Verbindung mit Geboten und Rechtsbestimmungen begegnet und die längst bekannte literarische Parallelen zwischen dem Jeremiabuch und dem Deuteronomium aufweisen [...]. Das besondere Interesse gilt ihrer Bedeutung für das Prophetenbild. Dahinter steht die Frage, ob sich aus den Texten der Jeremiaüberlieferung das Verhältnis des historischen Propheten zum Deuteronomium rekonstruieren läßt oder ob, wie T. Römer formuliert, eine nachträgliche conversion du prophète Jérémie à la théologie deutéronomiste anzunehmen ist" (12).

Im ersten Hauptteil der Studie stehen Analysen von sechs als Reden konzipierten Texten: 1. Die Tempelrede: Jer 7,1-8,3 (48-136); 2. Die Parallelüberlieferung zur Tempelrede in Jer 26,1-24 (136-165); 3. Die Bundesrede: Jer 11,1-17 (165- 205); 4. Die Sabbatrede: Jer 17,19-27 (205-225); 5. Die Rede im Königspalast: Jer 22,1-5 (225-249); 6. Die Rede gegen Sklaverei: Jer 34,8-22 (249-281). In einem zweiten Teil werden dann noch Verwendung und Funktion des Begriffes hrwt im Jeremiabuch untersucht: 1. Vertrauen auf die Tora: Jer 2,8; 8,8; 18,18 (282-311); 2. Der Schuldaufweis: Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23 (311-336); 3. Die Weisung JHWHs auf dem Herzen des Gottesvolkes: Jer 31,31-34 (337-352). Der Komplexität der Texte will die Autorin durch einen differenzierten methodischen Zugang Rechnung tragen. Die behandelten Prosareden werden übersetzt und dabei in Anlehnung an das von C. Hardmeier erarbeitete Verfahren in Kommunikationsebenen gegliedert. Nach ausführlicher Textkritik folgen eine synchrone Textanalyse, eine literarkritische Analyse, eine traditionsgeschichtliche Analyse und eine Formanalyse. Im Folgenden können von den vielfältigen Ergebnissen der Studie nur einige wenige referiert werden.

Die Grundschichten der Tempelrede (Jer 7,2*.3-4.9-10a. 11.12*.13*.14*.15.18-24.27-30), der Parallelüberlieferung (Jer 26,1-4.6.8*.9.17-19.20-23), der Bundesrede (Jer 11,2a. 3aa.4abb.6.8b*.9-10a.11-12.15-17a) sowie der Rede gegen Sklaverei (Jer 34,8-11* [LXX].18*[LXX].20b.21-22*) erweisen sich nach M. als Kompositionen, die das Ende Judas und Jerusalems theologisch zu begründen suchen und Jeremia als einen Künder unbedingten Gerichts darstellen. Die Grundschichten werden der dtr exilischen Redaktionsschicht des Buches zugewiesen. Diese dtr exilischen Grundkompositionen wurden nach M. durch verschiedene Bearbeiter ergänzt:

Die Erweiterungen von Jer 7 und 26 sind durch ihr Prophetenbild miteinander verbunden: "Dem Propheten werden in 7,5-8 konkrete Toragebote, die vor allem ein auf sozialen Ausgleich zielendes Miteinander der JudäerInnen regeln, in den Mund gelegt. In 26,5.7.8*.10-16 wird er in einem fingierten Prozeß als autorisierter Nachfolger des Mose erwiesen. Während die Bearbeitung in Jer 26 also die in Dtn 18,15-20 niedergelegte Vorstellung eines Propheten wie Mose ausgestaltet, profiliert die Bearbeitung in Jer 7,5-8 Jeremia zugleich in einer weiteren Rolle des Mose, derjenigen des Toralehrers. Beide Rollen sind nicht identisch, sondern additiv miteinander verbunden [...]. Auf die frühnachexilische Stilisierung Jeremias zum Nachfolger Moses, dessen Wort wie dasjenige des Mose Offenbarungscharakter hat, folgt die Ausarbeitung des Jeremiabildes hin zum Toraausleger, dessen prophetische Rede auf die Tora bezogen wird und als Aktualisierung von Torageboten erscheint" (165).

Bezüglich der "Bundesrede" (Jer 11,1-17) hält M. fest, dass der Ausdruck "Worte des Bundes" (V. 6) Ausgangspunkt einer ersten Redaktion ist, die in 11,1.2b.3aa.3b-4aa.5 greifbar ist: "Sie datiert die Bundesverpflichtung des Volkes im Anschluß an Jer 7,22f.25 auf den Tag des Auszugs aus Ägypten und verbindet sie im Rekurs auf Dtn 27,26 mit einem Fluch, der die bedingte Verheißung eines Treueverhältnisses zwischen JHWH und dem Volk zur bedingten Drohung werden läßt. Damit wird die Verpflichtung auf das Hören der Gottesstimme auf alle Generationen ausgedehnt. Anders als in Dtn 27,26 beantwortet nicht das Volk, sondern Jeremia den Fluch. Der Prophet bekräftigt den Fluch stellvertretend für seine Zeitgenossen und aktualisiert ihn so. Er rückt so näher an Mose heran, da er nicht mehr nur Überbringer einer Botschaft ist, sondern stellvertretend für die AdressatInnen handelt" (202 f.).

Diese Überlegungen sind plausibel, nicht ganz überzeugend sind nach Auffassung der Rezn. allerdings die Überlegungen zu den "Worten des Bundes" (tyrbh yrbd) in der von M. bestimmten Grundschicht der Bundesrede. M. hält fest, dass Dtn 29,8 die engste Parallele zu Jer 11,6b bildet. "Die Unterschiede in der Verbform lassen sich am einfachsten durch die Annahme erklären, Jer 11,2a.6b habe aus Dtn 29,8 zitiert und den volitiven Modus der weqatal-Form in einem Imperativ expliziert. Die Ersetzung von rmv durch [mv ist auf die Angleichung an den Imperativ in Jer 11,4ab zurückzuführen. Damit erweist sich Jer 11,6b als ein Zitat aus Dtn 29,8. Es verbindet die in Jer 11,4ab erhobene Forderung, auf JHWHs Stimme zu hören und zu tun, was JHWH gebieten wird, mit dem Bundesschluß in Moab [...]. Damit rekurriert Jer 11,4*.6b über das Zitat aus Dtn29,8 auf die im Deuteronomium enthaltene Tora, ohne selbst Begriffe wie hrwt, hwxm oder qj zu gebrauchen" (183 f.). Doch festzuhalten ist, dass die Forderung, die Bundesworte zu hören, in V. 4ab erläutert wird als Hören auf die Stimme Jhwhs und als Tun dessen, was er gebieten wird - und nicht, was er (gemäß der dtn Fiktion im Rahmen des Bundesschlusses in Moab Israel) geboten hat. Das Verhältnis der Adressaten zur Tora spielt zudem für Schuldaufweis und Gerichtsankündigung in der Grundschicht keine Rolle. Ob Jer 11,6b wirklich Dtn 29,8 "zitiert", ist deshalb mehr als fraglich.

Die Bearbeiter der Grundschicht und damit die Verfasser der Gerichtsrede Jer 34,12-17 sind nach M. auf Grund ihrer "theologischen Urteile" und ihres "schriftgelehrten Interesses" mit den Bearbeitern von Jer 7,5-8; 11,2a.3b-4aa.5.10b.13.17b identisch: "Sie erweitern vorliegende, wohl dtr Reden durch literarisch nachweisbare Bezüge auf Texte aus dem Deuteronomium. In Jer 34,12-17 stellen sie die in ihrer Vorlage erzählte Vereinbarung als Erfüllung der Regelungen zur Entlassung von SchuldsklavInnen und als feierlich im Tempel vollzogenen Bundesschluß dar. Damit begründen sie [...] das über Jerusalem und Juda ergangene Gericht bundestheologisch mit der Verletzung einer gegenüber JHWH eingegangenen Verpflichtung" (280).

Die literarisch weitgehend einheitlichen Reden Jer 17,19-27 und Jer 22,1-5 erweisen sich nach M. als erst in nachexilischer Zeit verfasst. Die Sabbatrede (Jer 17,19-27) lässt laut M. Jeremia als einen Lehrer der Tora auftreten, der das dekalogische Feiertagsgebot durch eine aktualisierende, auf den Alltag ausgerichtete Interpretation auslegt. In der Fokussierung der Gerichtsbegründung auf die Befolgung eines einzigen Gebots - hierin sind nach M. Sabbatrede und Jer 34,8-22 verwandt - erscheint die Sabbatheiligung "als Summe und Zentrum der Tora" (224). Die Rede im Königspalast (Jer 22,1-5) klagt den Schutz der traditionellen personae miserae, der Fremden, Waisen und Witwen ein, wobei nach M. Jer 22,3 die verschiedenen dtn Schutzgebote zu einem grundlegenden Gebot fusioniert. Außerdem würden die Verfasser die Forderung aus der Jeremiaüberlieferung aufnehmen, den Bedrängten aus der Gewalt des Ausbeuters zu retten (Jer 21,12); neu formuliert werde in Jer 22,3 das Verbot jeglicher Art von Gewaltanwendung. "Jeremia wird so präsentiert als ein Toralehrer, der Gebote aus dem Deuteronomium zusammenfaßt und weitere grundsätzliche Forderungen selbständig formuliert. Er tritt im Königspalast auf und stellt den König samt seiner Diener- und Anhängerschaft und, wie einst Mose, das ganze Volk vor die Entscheidung, gemäß dem sozialen Ethos der Tora zu handeln oder sich dem Zorn Gottes auszusetzen" (248 f.).

Hervorzuheben ist noch, dass die Autorin zu einem anderen Ergebnis als seinerzeit O. H. Steck kommt, der in seiner einflussreichen Studie "Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten" (1967) die These vertrat, das Jeremiabuch repräsentiere vorzugsweise das dtr Prophetenbild der am Volk wirkenden Umkehr- und Gesetzesprediger: "Die dtr Redaktion hat den Gerichtsverkündiger Jeremia im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Prophetensukzession als Mahner und Umkehrprediger, nicht jedoch als Gesetzesprediger profiliert. Die an die dtr Texte anknüpfenden, aber sachlich über diese hinausreichenden, toraorientierten Erweiterungen von Prosareden und die neuen Entwürfe solcher Reden (Jer 22,1-5; 17,19-27) wandeln den Umkehrprediger zum Toralehrer" (371).

Die These der Autorin überzeugt, kritisch anzufragen ist jedoch der Begriff "Toralehrer" (vgl. auch den Titel der Studie: "Jeremia als Lehrer der Tora"). Nach M. vereint Jeremia in "Analogie zum dtr Mosebild [...] die Rollen des Propheten und des Toralehrers" (371). Doch bezüglich des lehrenden Mose im Dtn ergibt sich: Das "Lehren" der "Satzungen und Rechtsvorschriften" durch den dtn Mose ist nicht nur ein Vorgang der Mitteilung, sondern auch ein Vorgang der Einübung, denn die nach der dtn Fiktion vor Mose versammelten ("lernwilligen") Israeliter sprechen die Gesetze nach, um sie in ihr Gedächtnis aufzunehmen (vgl. G. Braulik, Das Deuteronomium und die Gedächtniskultur Israels, 128.135 f., in ders.: Studien zum Buch Deuteronomium, Stuttgart 1997). Das Bild Jeremias' wird in den von M. analysierten Reden demgegenüber anders konturiert: Er teilt den Judäern in bestimmten Situationen aktualisierte bzw. ausgelegte Tora mit. Zu bedenken ist zudem, dass die Tätigkeit Jeremias an keiner Stelle mit "lehren" bezeichnet wird, obwohl sich das Lexem dml immerhin vierzehn Mal im Jeremiabuch findet. Im Hinblick auf diesen Befund erscheint die Bezeichnung Jeremias als "Toralehrer" nicht ganz treffend.

Summa summarum ist festzuhalten, dass M. eine beachtenswerte Studie mit sorgfältig gearbeiteten Einzelanalysen vorgelegt hat. Sie dürfte der Jeremiaforschung wichtige Impulse geben.