Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2003

Spalte:

383 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hunziker-Rodewald, Regine

Titel/Untertitel:

Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 256 S. m. 2 Abb. u. Tab. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 155. Kart. ¬ 35,30. ISBN 3-17-017090-2.

Rezensent:

Ernst-Joachim Waschke

Die von Walter Dietrich betreute und von der Evangelisch-theologischen Fakultät in Bern als Dissertation angenommene Arbeit behandelt primär die theologische Seite der Metapher von Hirt und Herde im AT. Der Anlaufweg zum Thema, ohne kopflastige methodologische Vorüberlegungen, aber leider auch ohne eine knappe Skizze zum Stand der Forschung, ist erfreulich kurz.

Der erste Teil, "Hinführung" (11-38), umfasst "Fragestellung, Konzept, Zielsetzung" (11-15) und bietet anschließend einen Überblick zum Motiv Hirt und Herde im Alten Orient, untergliedert nach Ägypten, Mesopotamien sowie Syrien-Palästina und Kleinasien (16-38). Der Aufweis der verschiedenen Verwendungen der Metapher in Israels Umwelt dient der Vfn. dazu, ihre Grundthese für die gesamte Arbeit zu formulieren: "Das Bild Jhwhs als des Hirten stellt in seiner Tiefenstruktur eine theologische Verdichtung der Aussage Mich gereut des Unheils, das ich euch getan habe (Jer 42,10) dar" (38). Begründet ist die These im Vergleich zum altorientalischen Kontext darin, dass die für Ägypten und Mesopotamien bezeugte Sorge der Götter für die "Elenden" und "Leidenden" im AT zur alles entscheidenden Grundaussage im Blick auf Jhwhs Bezeichnung als Hirte gemacht wird. Dies hängt aufs Engste damit zusammen, dass die Aussagen auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Exils formuliert sind, jener nationalen Katastrophe, die nach alttestamentlicher Überzeugung von Jhwh selbst heraufgeführt worden ist.

Der zweite Teil, "Hirt und Herde im Alten Testament" (39-188), wird eröffnet mit einem motivgeschichtlichen Überblick (43-72). Im Vordergrund steht dabei die Übertragung des Bildes auf das Verhältnis der weltlichen Machthaber zu ihren Untergebenen, wie es im Alten Orient verbreitet und im Alten Testament für David idealtypisch zur Darstellung gebracht ist. Z. T. in polemischer Absicht findet das Bild auch Aufnahme in die Prophetie, wobei sowohl fremde als auch einheimische Herrscher in den Blick genommen werden. "Auf dem Hintergrund dieser Negativfolie wird ein Hirtenideal konzipiert, demgemäss den Hirten künftig die Pflicht obliegt, das Volk zur Einsicht zu führen und zu unterweisen" (61). Insgesamt konzentrieren sich die Belege nach Ausweis der Vfn. in der frühexilischen (Jer 10,21; 23,1 f.4; Mi 5,3; Ez 34,1-4.9 f.) und in der spätnachexilischen Zeit (Jes 56,11; Jer 2,8; 3,15; Sach 10,2; 11,4 ff.; 13,7; Koh 12,11; Ez 34,5-8.23; 37,24). In der dazwischenliegenden, spätexilischen bis frühnachexilischen Zeit, apostrophiert als "Hirtenschweigen", soll dann "die Vorstellung Jhwhs als des zu Gunsten seiner Herde selbst eingreifenden Herdeneigentümers und später auch Hirten" aufgekommen sein (71; vgl. schon 69 ff.). Diese These, natürlich abhängig von unsicheren Textdatierungen, bildet die Überleitung zu: "Jhwh - der Herr seiner Herde" (73-116), mit dem der analytische Teil der Arbeit beginnt.

Im Einzelnen werden behandelt: Jer 23,1-4; 50,19; Mi 2, 12f. und entsprechende Stellen aus dem Asaph-Psalter (Ps 74,1; 77,21; 78,52; 79,13; 80,2). Im Unterschied zum altorientalischen Motiv des sog. "Herrn der Tiere" wird aufgezeigt, dass die Aussagen dieser Texte nicht auf die Abwehr und Vernichtung der Feinde zielen, sondern darauf, dass Jhwh das von ihm selbst verhängte Gericht wieder zurücknimmt. In diesem Kontext bereitet Ps 80,2 dann den Wechsel von der Herden- zur Hirtenmetaphorik vor. Letztere "repräsentiert eine gegenüber Jer 23,1-4; 50,17-19 und Mi 2,12f nun deutlich gesteigerte Erwartung: Während Jhwhs Präsenz als Herdeneigentümer für die Herde nur punktuell (Jer 23,3; 50,19) und als König (Mi 2,13) nur auf Distanz erfahrbar ist, gewährleistet seine Funktion als Hirt (Ps 80,2) seine persönliche Präsenz und unmittelbare Nähe" (115).

Der analytische Teil wird dann auf der Ebene der Hirtenmetaphorik, "Jhwh - der Hirt seiner Herde" (117-188), fortgesetzt. In der Auslegung von Mi 7,14; Jes 40,11; Jer 31,10-14; Ez 20,37; 34,11-15 und Ps 23 wird herausgearbeitet, dass Israel mit der Bezeichnung Jhwhs als Hirten darum ringt, dass das Gottesverhältnis nicht nur punktuell, sondern auf Dauer erfahrbar bleibt. Dabei wird eine Linie sichtbar, die die Erwartung an Jhwh als Hirte Israels am Ende mit Ps 23 ins Persönliche transformiert. Dieser Psalm, als Bekenntnis eines Einzelnen zu Jhwh als seinem Hirten nur mit Gen 48,15 f. vergleichbar, bildet eine "Anthologie", in der die verschiedenen Elemente der Hirtenmetaphorik zusammengeführt werden (vgl. die Auflistung 183). Die eigenwillige und individuelle Ausrichtung dieses in das 4.Jh. v. Chr. datierten Psalms zeugt nach Meinung der Vfn. "bereits von der Entfremdung des Hirt-Herde-Bildes von seinem geistigen Nährboden, der theologischen Bewältigung von Israels Situation nach 586 v. Chr." (189). Der dem Bild im AT grundsätzlich eigene Bezug zu menschlicher Not wird hingegen weder in Ps 23 noch in späteren Transformationen aufgegeben.

Im dritten Teil, "Ausblick" (189-223), werden derartige "Transformationen" aus der Spätzeit des AT (Jes 53,7 und Jes 11,6), der Zeit zwischen beiden Testamenten (Hen[äth] 89f. und ApcBar 77,13-16) sowie dem Neuen Testament (Joh 10 und Offb 7,17) untersucht.

Unter der Überschrift "Fazit" (225-229) fragt die Vfn. abschließend nach der weiteren pastoraltheologischen Rezeption der Hirt-Herde-Metapher. Ihre Kritik richtet sich dabei vorrangig gegen eine "Betrachtungsweise, die sich im Blick auf den Hirten einseitig an der Vorstellung autoritärer Führung und im Blick auf die Herde primär an der Vorstellung einer zu disziplinierenden Masse orientiert" (225).

Literaturverzeichnis und Register finden sich am Ende einer Arbeit, die - bei möglicher Kritik im Einzelnen - das Verdienst hat, die Metapher von Jhwh als Hirten konsequent aus der historischen Situation des Exils abgeleitet und von diesem Hintergrund her interpretiert zu haben.