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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

856 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Markus

Titel/Untertitel:

Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 296 S. gr 8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 172. Lw. DM 98,-. ISBN 3-525-53855-3.

Rezensent:

Jürgen Becker

Die Studie wurde im WS 1994/95 von der Theologischen Fakultät in Erlangen als Dissertation angenommen (Betreuer: Jürgen Roloff). Sie will den Mangel beheben, daß im Unterschied zu den Briefeingängen die Briefschlüsse bei der Auslegung der urchristlichen Briefliteratur bisher wenig Beachtung erhielten. Die Arbeit bedient sich dabei der epistologischen Forschung zu den antiken Briefschlüssen, die nach M. deren wichtige kommunikative Funktion herausgearbeitet hat. Ziel ist die Begründung der These, daß die Briefschlüsse "zum Ganzen des jeweiligen Briefes" führen und "daß eben der Briefschluß selbst hermeneutische Signale enthält, wie der Brief gelesen sein will". Dabei gilt speziell, daß "nach der Gesamtlektüre des entsprechenden Briefes der Briefkorpusabschluß" als ein entscheidendes strukturelles Element bei den Briefabschlüssen "die Hauptlinien nicht allein summarisch bündelt, sondern leserführend ... zusammenfaßt" (13).

M. vollzieht vier durchsichtige Arbeitsschritte: In einem ersten Kapitel (17-82) zeigt er auf, wie briefliche Konventionen der Antike zu wichtigen Trägern von Verstehenssignalen wurden. "Freilich hat Paulus durch seine Briefe ganz eigene briefliche Konventionen geprägt" (23). Doch führt zu Paulus, daß "Briefkonventionen in der Antike ... texthermeneutische Bedeutungsträger sind" (34, vgl. 64).

Das zweite Kapitel (83-129) widmet sich 1Thess 5,23 f. M. will aufweisen, daß dieser Briefkorpusabschluß die Funktion erhält, die beiden getrennten und leitenden Grundgedanken des Briefes, nämlich die Berufungs- und die Heiligungstheologie texthermeneutisch zu bündeln, so daß der Leser vom Schluß her nochmals zum Ganzen geführt wird (120-124). M. nennt diese beiden Verse einen "konduktiven Gotteszuspruch" (124 ff.) und will so die Gestalt und Funktion des Textes besser zur Geltung bringen als mit den üblichen Bezeichnungen wie "Segenswunsch" oder "Gebetswunsch".

Im dritten Kapitel (131-205) will M. zeigen, daß, weist man Phil 4,19 dieselbe Aufgabe zu wie 1Thess 5,23, die beiden Gipfel des Briefes, nämlich Phil 2,6 ff. und 3,4 ff. (175), in Phil 4,19 gebündelt werden und darum Teilungshypothesen textwidrig sind. M. bietet also ein ganz neues Argument für die Einheitlichkeit des Phil auf.

Im vierten Kapitel (207-239) erörtert M., daß auch im Röm der Briefschluß die Funktion eines texthermeneutischen Zugangs besitzt (207). Insbesondere soll für Röm 15,13 gelten, daß wie für 1Thess 5,23 und Phil 4,19 so auch für dieses entscheidende Element im Briefschluß des Röm nachgewiesen werden kann, daß der Satz die Briefthemen bündelt, hier speziell "Träger von sechs Motivkreisen (ist), die über den ganzen Brief verteilt sind" (228).

Die Stärke der Arbeit liegt meines Erachtens darin, daß M. sich in Kenntnis und Aufarbeitung der antiken Epistolographie und speziell der Briefschlußkonventionen die paulinischen Briefschlüsse mit ihren einzelnen Elementen vornimmt und dabei speziell bei den schwierigen Tatbeständen am Schluß des Römer- und Philipperbriefes neue Gesichtspunkte zum Verständnis vorträgt. M. zeigt: Es lohnt sich nicht nur bei den Briefanfängen, sondern eben auch bei den Briefschlüssen genauer hinzusehen. Allerdings kommt die Freiheit, die Paulus bei den Briefschlüssen praktiziert, optisch zu kurz weg, denn es werden ja nur 1Thess, Phil und Röm, deren Schlüsse nahe beieinander liegen, besprochen. Die größere Zahl der Paulusbriefe bleibt ausgespart.

Daß es M. gelungen ist, seine Hauptthese zum "konduktiven Gotteszuspruch" zu beweisen, möchte ich allerdings bestreiten. Schon dies macht mir Probleme, daß die antike formula valetudinis finalis mit diesem Gotteszuspruch funktional in etwa gleichgesetzt werden soll. Die durchweg begegnende antike Konvention mit sprachlich recht geringer Variationsbreite kommt allenfalls nur in der Minderheit der paulinischen Briefe als formale Analogie vor. Sprachlich ist zudem Paulus zu dieser Formel hochgradig different. Endlich hat Paulus solche Satzstruktur auch im eigentlichen Briefkorpus, also nicht nur am Schluß.

Doch vor allem scheint mir der Beweis für die Funktion der drei Paulusstellen an den Texten selbst nicht erbracht. So müssen 1Thess 5,23 f. nicht erst die beiden Grundgedanken des Briefes, nämlich die Berufungs- und die Heiligungstheologie texthermeneutisch am Schluß bündeln (120 ff.). Denn der Leser bekommt die Berufung zum Endheil (1Thess 5,9 f.) und die Berufung zur Heiligung (4,7 f.) als die eine Erwählungstheologie (vgl. 2,11 f.) durchweg schon immer vorgeführt, wie ja auch in der frühjüdischen Theologie beides längst vereint war. Paulus interpretiert hier nur völkermissionarisch und christologisch um. Damit schwebt auch die Übertragung dieser angenommenen Funktion von 1Thess 5,23 f. auf Phil 4,19 in der Luft. Da auch die Textsignale in Phil 4,19, die Phil 2 und 3 aufgreifen und bündeln sollen, doch nur recht formal und vage solche Funktion übernehmen könnten, ist der Weg, über Phil 4,19 die Einheitlichkeit des Phil zu begründen, kaum erfolgreich. Ebenso zeigt sich an Röm 15,13, daß hier zwar einige Stichworte aus dem Röm wiederkehren, jedoch entscheidende Themen des Röm eben nicht mitgebündelt sind. Angesichts dieses Befundes ist dann natürlich zu fragen, ob die Bezeichnung "konduktiver Gotteszuspruch" passend ist.