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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

381–383

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Greenberg, Moshe

Titel/Untertitel:

Ezechiel 1-20. Mit einem Vorwort von E. Zenger. Aus der amerik. Originalausgabe übers. von M. Konkel.

Verlag:

Freiburg i. Br.-Basel-Wien: Herder 2001. 445 S. m. Abb. gr.8 = Herder Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. ¬ 70,00. ISBN 3-451-26842-6.

Rezensent:

Thomas Krüger

Moshe Greenbergs Kommentar, dessen vorliegender erster Band in der amerikanischen Originalausgabe 1983 erschienen ist (Band 2 zu Ez 21-37 erschien 1997, Band 3 steht noch aus), gehört zu den wichtigsten Ezechiel-Kommentaren des 20. Jh.s. Von anderen bedeutenden wissenschaftlichen Kommentaren (wie sie vor allem W. Zimmerli 1955-69 und inzwischen L. C. Allen 1990/94 und K.-F. Pohlmann 1996/2001 vorgelegt haben) unterscheidet er sich vornehmlich darin, dass er sich auf die Interpretation des vorliegenden Masoretischen Textes konzentriert, der im Wesentlichen als Produkt des Propheten Ezechiel betrachtet wird, und dass er neben der neueren exegetischen Sekundärliteratur auch die vormoderne jüdische Auslegungstradition (sowie die Interpretation Calvins) in die Diskussion einbezieht.

In der Einleitung (35 ff.) skizziert G. seinen Ansatz einer "holistischen Interpretation", die das vorliegende masoretische Ezechielbuch als ein literarisches Ganzes betrachtet und der Auslegung zu Grunde legt. Dieser Interpretationsansatz, der heute keiner besonderen Rechtfertigung mehr bedarf und besonders im angelsächsischen Sprachraum weit verbreitet ist, wird von G. in scharfer und nicht immer sachgemäßer Polemik einer historisch-kritischen Exegese gegenübergestellt, die vor allem an "den ursprünglichen Worten des Propheten" interessiert sei und durch "Überarbeitungen, Umstrukturierungen und Umordnungen des biblischen Textes ... das biblische Schreiben" den eigenen "Standards anzupassen" versuche (35). Dies trifft für die neuere redaktionsgeschichtliche Forschung nicht (mehr) zu, die - wie etwa Zimmerli mit seinem Modell der "Fortschreibungen" - den Text auf allen Stufen seines literarischen Wachstums als literarisches Ganzes zu würdigen versucht. Die Annahme einer längeren literarischen Vorgeschichte der biblischen Texte ist auch keineswegs (nur) eine Folge des Herantragens von "unhinterfragten Voraussetzungen und Konventionen der Moderne" an die antiken Schriften (37), sondern (auch) eine Konsequenz der Einsicht in die Bedingungen der Produktion und Tradition von Literatur in der Antike sowie der Kenntnis materieller Belege für verschiedene Wachstumsstufen literarischer Texte (besonders prominent, aber keineswegs singulär: das Gilgamesch-Epos). So legen auch die Differenzen zwischen den Versionen des Ezechielbuchs im Masoretischen Text und in der Septuaginta eine redaktionsgeschichtliche Erklärung nahe (wie jüngst P. Schwagmeier in einer Zürcher Dissertation gezeigt hat).

G. postuliert freilich nicht nur, dass das vorliegende Ezechielbuch im Wesentlichen auf den Propheten des 6. Jh.s v. Chr. zurückgeht, er bringt dafür auch bedenkenswerte historische Argumente vor (vgl. 30 ff.): "Nichts im Buch weist ... auf eine historische Situierung jenseits seines letzten Datums hin. Was jedoch als gegenwärtig dargestellt wird, stimmt genau mit dem überein, was wir über die zwei Jahrzehnte zwischen den äußeren Daten (593-571) wissen" (32). Allerdings müsste diese literaturgeschichtliche Hypothese weiter überprüft werden durch den Versuch, die Texte und Konzepte des Ezechielbuchs in ein (hypothetisches) Gesamtbild der altisraelitischen Literatur- und Theologiegeschichte einzuzeichnen, was bei G. höchstens ansatzweise geschieht.

In der Durchführung seines Ansatzes ist G. zurückhaltend gegenüber Versuchen, die Vorgeschichte der Texte zu rekonstruieren, lehnt solche Erklärungsversuche aber keineswegs grundsätzlich ab. Spannungen und Widersprüche in den Texten und zwischen verschiedenen Texten werden benannt und nicht vorschnell harmonisiert. Zu ihrer Erklärung werden neben redaktionsgeschichtlichen auch rhetorische und psychologische Gesichtspunkte in Betracht gezogen (vgl. etwa 86 f. und 128 zur Funktion der Prophetie in Ez 3; 133 zum Verhältnis von Belagerungs- und Exilssymbolik in Ez 4; 158 ff. zur Entwicklung des Restgedankens in Ez 6; 14; 20 und 36, oder 231 zu den Spannungen in Ez 8-11). G. rechnet damit, dass Ezechiel selbst seine Texte zusammengestellt und bearbeitet hat, und weist wiederholt darauf hin, dass Einzeltexte im literarischen Zusammenhang des Buches eine andere Bedeutung gewinnen können als sie in ihrem ursprünglichen Entstehungskontext hatten (z. B. 88 f. und 105 zur Berufung Ezechiels). Ein redaktionsgeschichtliches Gesamtbild wird aus diesen hermeneutisch interessanten Einzelbeobachtungen zu den Anfängen der Rezeption prophetischer Orakel in den alttestamentlichen Prophetenbüchern selbst aber (noch?) nicht entwickelt.

Der vorliegende Kommentar bietet so seinen Leserinnen und Lesern eine umfassende und zuverlässige Hilfe für das Verständnis der Sprache des masoretischen Ezechielbuchs, seiner literarischen Gestaltung und seiner kulturgeschichtlichen Hintergründe. Zur literatur- und theologiegeschichtlichen Profilierung der Ezechiel-Texte (und ihrer alttestamentlichen Kontexte) trägt er demgegenüber eher wenig bei.

Die deutschsprachige Ausgabe ist durch Umstellungen, Marginalien und ein Register (sowie einen großzügigeren Satzspiegel) leserfreundlicher geworden als das amerikanische Original. Die Übersetzung (in veralteter Rechtschreibung) wirkt manchmal etwas holperig (z. B. 37: "Um über Fragen der Komposition und des Stils urteilen zu können, haben die unhinterfragten Voraussetzungen und Konventionen der Moderne die Exegeten stark beeinflußt.") und bisweilen jargonhaft (z. B. 317 u. ö.: das "Setting" eines Textes). Gelegentlich trifft sie auch nicht ganz den Sinn des Originals. So bedeutet z. B. der Name "Pelatja ben Benaja" nicht: "Jah überliefert [einen Rest], der Sohn Jahs baut auf" (219).

Auf 304 der Originalausgabe referiert G. kritisch die Forschungsgeschichte zu Ez 16: "Rhetorical and psychological considerations are advanced in support of the accretional view of the chapter." Dass sich auch in Dtn 28-30 und Lev 26 Unheils- und Heilsankündigungen finden, "is not an effective check to this reasoning, which simply nullifies this counterevidence by subjecting it to the same disintegrating analysis". Aus dieser Kritik an einer literarkritischen Trennung von Unheils- und Heilsankündigungen in Ez 16 wird in der Übersetzung (328) die Forderung: "Man sollte jedoch rhetorische und psychologische Überlegungen vorantreiben, um zu einer ausgewogeneren Sicht des Kapitels zu gelangen" - und eine Feststellung, deren Sinn wohl den meisten Leserinnen und Lesern der deutschen Fassung dunkel bleiben wird: "Bei der analogen Abfolge von unbarmherzigen Unheilsansagen und der Zusicherung von Gottes Erbarmen ... in Dtn 28,30 und ... in Lev 26 handelt es sich nicht um einen effizienten Schachzug, der einfach den Gegenbeweis für ungültig erklärt, indem er derselben vernichtenden Analyse unterworfen wird ...".