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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

373–376

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nickelsburg, George W. E.

Titel/Untertitel:

1 Enoch 1. A Commentary on the Book of Enoch, Chapters 1-36; 81-108.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2001. XXXVIII, 617 S. gr.8 = Hermeneia. Geb. US$ 58,00. ISBN 0-8006-6074-9.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Seit seiner ersten Veröffentlichung 1821 durch R. Laurence hat das sog. "Äthiopische Henochbuch" (1Hen) das Interesse der exegetischen Wissenschaft wie kaum eine andere der zwischentestamentarischen Schriften auf sich gezogen. Seine Publikation trug wesentlich zum Aufschwung der Apokalyptikforschung in der zweiten Hälte des 19. Jh.s bei. Das Bild des frühen Judentums, das mit den Arbeiten der Religionsgeschichtlichen Schule immer differenzierter wurde, gewann aus dieser Schrift einige seiner kräftigsten Farben. Im Zuge der Interpretation des 1Hen eröffneten sich neue Welten im Blick auf Ethik, Eschatologie, Kalenderproblematik, Messianologie und vieles mehr - bis hin zur Beobachtung eigenständiger exegetischer Traditionen oder zeitgeschichtlich belangvoller Konstellationen in den symbolischen Darstellungen des Geschichtsverlaufes. Dennoch hat es bis 2001 gedauert, um nun zum ersten Mal einen "full-blown critical commentary" zu dieser Schrift vorzulegen, wofür die bewährte Hermeneia-Reihe die besten Voraussetzungen bietet. Auch wenn der Autor schon auf eine ausgedehnte wissenschaftliche Literatur sowie ca. 30 Editionen/Übersetzungen mit mehr oder weniger ausführlichen Anmerkungsteilen zurückgreifen kann, stellt sein Werk eine Pionierleistung dar.

Der Kommentar ist auf zwei Bände konzipiert. Band I enthält- basierend auf dem vermutlich ursprünglichen Kernbestand der späteren Sammlung - die Kap. 1-36 (Buch der Wächter) und 83-108 (Traumvisionen/Epistel Henochs/Appendices - mit Überschneidungen in 81-82). Kap. 37-71 (Bilderreden) und 72-82 (astronomisches Buch) - letzteres durch die Bearbeitung von J. VanderKam - sind als Teile, die in der Entwicklung der Sammlung eine eigenständige Geschichte aufweisen, für einen zweiten Band aufgespart. Obgleich bei dieser Aufteilung vor allem pragmatisch-editorische Gründe im Vordergrund stehen, deutet sich darin auch schon die Problematik der "Bilderreden/ Parables" an: Wie ist ihre Beziehung zum Gesamtkorpus zu beurteilen - sind sie als vor- oder nachchristliche Komposition anzusehen? Für die Beurteilung jener Gestalt des "Menschensohnes", die ausschließlich in 37-71 begegnet, sind diese Fragen von entscheidender Bedeutung. Man wird also dem zweiten Band besonders gespannt entgegensehen und gerade von ihm zuverlässige Auskünfte hinsichtlich dieser für die Anfänge der Christologie so wichtigen Tradition erwarten dürfen.

Im Einleitungsteil (1-125) kommt die Fülle dessen, was eine 150-jährige Forschung zum 1Hen bislang erbracht hat, in einer detailliert gegliederten, gut nachvollziehbaren Weise zur Darstellung. Zwei einführende Paragraphen geben Rechenschaft über das methodische Vorgehen des Kommentars ( 1) und eine Charakteristik des 1Hen ( 2). Die Präsentation der handschriftlichen Überlieferung in 3 erfolgt in Ergänzung der bisherigen Vorarbeiten erschöpfend. Hinsichtlich der Struktur des Makrotextes weist Nickelsburg in 4 die vor allem von J. T. Milik vertretene These eines Henochpentateuchs in der griechischen Überlieferungsphase ab, die der komplexen Geschichte der Sammlung nicht gerecht werden kann. Auf Grund sorgfältiger kodikologischer und literarkritischer Analysen entwirft er stattdessen ein Entwicklungsmodell, das im Wesentlichen einen Dreischritt erkennen lässt. Der Mythos vom Abfall Shemihazas und seiner Gefährten, dessen Ausprägung Nickelsburg auf die Zeit der Diadochenkämpfe datiert und in der Region von Obergaliläa beheimatet sieht, bildet dabei den Kernbestand - in mehreren Wachstumsschritten erweitert zu einer Art narrativ gerahmten Testament Henochs, das in seiner letzten Phase das Buch der Wächter, die Traumvisionen und die Epistel Henochs mit einschloss. Noch vor-makkabäisch begonnen und dann etwa in der Mitte des 2. Jh.s abgeschlossen, wuchs ihm als letzter Bestandteil um die Mitte des 1. Jh.s die Erzählung von Noahs Geburt zu. Das astronomische Buch, das vermutlich schon in persischer Zeit entstanden ist und die Sammlung jenes "Testamentes" an Alter übertrifft, ist dann in einem zweiten Schritt nach dem Buch der Wächter eingefügt und mit dem Korpus verzahnt worden. Den letzten Schritt stellt die Einfügung der Bilderreden dar, die sich noch einmal zwischen das Buch der Wächter und das astronomische Buch schieben. Dieses Modell, in der Einleitung detailliert vorgetragen, wird im Kommentar aufgenommen und an den Texten selbst überzeugend durchgeführt. Im Ganzen gewinnt das Korpus der Henochschriften legitimatorische Funktion für die Lehre seiner Trägergruppe als rettende Offenbarung in einer Zeit fremder Gewaltherrschaft und der Entfremdung von der Tora. Eine ausführliche Darstellung der Formen/Gattungen und stilistischen Merkmale - also der literarischen Mikrostruktur des Textes - schließt diesen Paragraphen ab. 4 führt in die wichtigsten theologischen Positionen ein, wobei vor allem die dualistische Konstruktion von Raum und Zeit sowie die Eigenheiten des Gottesbildes dominieren. Gemäß dem Charakter des Korpus wird die Frage nach der zeit- und religionsgeschichtlichen Einordnung seiner einzelnen Bestandteile unter 5 sehr differenziert beantwortet: alttestamentliche Traditionen verbinden sich mit mesopotamischen Mythen; Aufnahme und Abweisung hellenistischer Einflüsse stehen in Spannung nebeneinander. Soziale Konflikte sowie die Frage nach einer "Enochic community" werden mit Blick auf verschiedene Affinitäten oder Wandlungen erörtert. Ähnlich offen verfahren die Überlegungen zum Profil der Autoren, die hinter den Texten sichtbar werden könnten. Im Konzert frühjüd. Apokalyptik weist Nickelsburg dem 1Hen eine maßgebliche Rolle zu: Schriften wie Dan, 4Esr, 2Bar, ApkAbr "are points in an apocalyptic trajectory that first surfaces in the Enochic writings." (69) Umfänglich trägt 6 alle Spuren zusammen, aus denen sich die Rezeptionsgeschichte des 1Hen im Judentum und im frühen Christentum zusammenfügt. Eine Skizze der Forschungsgeschichte ( 7) und ein Hinweis auf Desiderate für das weitere Studium von 1Hen ( 8) schließen diesen inhaltsreichen Teil ab.

Dem Einleitungsteil folgt der Kommentar (129-560), der nach einem festen Schema aufgebaut ist. Die Übersetzung basiert auf einem eklektischen Text aus den jeweils besten Lesarten der aramäischen, griechischen und äthiopischen Überlieferung und kommt darin der Textgrundlage der deutschen Übersetzung von S.Uhlig (JSHRZ V/6) relativ nahe. An 36,4 schließt unmittelbar 81,1 an, was der rekonstruierten Textfolge vor Einfügung des astronomischen Buches und der Bilderreden entspricht (81,1- 82,4 fungierte vor seiner gegenwärtigen, sekundären Einbettung in das astronomische Buch als narrative Brücke zwischen dem Buch der Wächter und der Epistel Henochs). Auch im Blick auf die "Zehnwochenapokalypse" stellt der Text die ursprüngliche Abfolge 93,1-10+91,11-17 wieder her. Ein ausführlicher textkritischer Apparat verzeichnet zu jedem Abschnitt die relevanten Varianten. Daran schließen sich eine Strukturanalyse sowie eine Vers-um-Vers-Auslegung an, die auch gelegentlich größere Zitate aus parallelen Überlieferungen bietet. Literarische Einheiten, die formal und inhaltlich als solche erkennbar sind, werden jeweils durch eigene Einführungen analysiert. Tabellarische Übersichten dienen immer wieder der Veranschaulichung. Der Einsatz von Fußnoten erfolgt sparsam und bleibt Literaturnachweisen vorbehalten. 22 Exkurse (im Falle von "Sacred Geography in 1Enoch 6-16" auch mit acht Fotos und einer Karte versehen) bündeln oder entfalten thematische Linien des Kommentares. Verschiedene Register erleichtern den Umgang mit dem Text: Auf eine überschaubare Bibliographie, gegliedert nach einer chronologischen Auflistung von Texteditionen und Übersetzungen sowie einer alphabetischen Auflistung von Monographien und Aufsätzen (561-571) folgen ein Index zitierter Stellen (573-608) und ein Index moderner Autoren (609-616).

Die zahlreichen Detailbeobachtungen, Informationen, intertextuellen Bezüge oder religionsgeschichtlichen Zusammenhänge, die im Kommentarteil begegnen, können hier nicht gewürdigt werden. Sie stellen eine Fundgrube dar und präsentieren sich in ihrer umfassenden Genauigkeit als erste Adresse für eine jede Beschäftigung mit dem 1Hen. Exemplarisch möchte ich nur auf die folgenden Abschnitte hinweisen. Grundlegende Bedeutung gewinnt die Auslegung von 6-11, in der die Mythen von Shemihaza und Asael vor einem weiten religionsgeschichtlichen Horizont erläutert werden. In 14,1-7.8-23 finden die wirkungsgeschichtlich belangvollen Abschnitte von der Beauftragung des Visionärs und seinem Aufstieg in das himmlische Heiligtum eine eindringende Erklärung. Die Reisen Henochs in 17-36 erhalten ihr Profil im Kontext altorientalischer oder griechischer Kosmographie. Ein eigenes Gewicht besitzt die Interpretation der "Tiersymbolapokalypse" 85-90, die sich durch eine besonders ausführliche Einleitung (354-363) sowie eine detallierte Kommentierung auszeichnet. Nicht weniger Sorgfalt wird auf die Interpretation der "Zehnwochenapokalypse" 93,1- 10+91,11-17 verwendet. Beide für das Geschichtsbild der Apokalyptik so fundamentalen Texte sind damit auf eine bequeme Weise erschlossen. Ein Musterbeispiel exegetischer Sorgfalt bietet die Aufarbeitung der "Epistel Henochs" 92-105, von der aus besonders zahlreiche Verbindungslinien zu neutestamentlichen Formen und Themen führen. Die Geburtsgeschichte Noahs 106-107, die für den religionsgeschichtlichen Kontext der neutestamentlichen Geburtsgeschichten von Interesse ist, wird umfassend aufgearbeitet.

Einen einzigen, allerdings gewichtigen Kritikpunkt möchte ich geltend machen. Für die vorliegende Kommentierung des 1Hen scheint die Existenz eines 2Hen (des so genannten "slavischen Henochbuches") kaum eine Rolle zu spielen. Das ist erstaunlich. Denn wenn es stimmt, dass mit dem 2Hen eine ursprünglich griechische Schrift des Alexandrinischen Judentums aus dem 1. Jh. n. Chr., noch vor dem Jahr 70, erhalten geblieben ist (und dafür gibt es gute Gründe! - selbst F. I. Andersen, Nickelsburgs einziger Gewährsmann in Sachen 2Hen, plädiert vorsichtig für "late first century A.D."), dann bedeutet das: a) der Autor des 2Hen ist ein Zeitgenosse des Autors der Bilderreden 1Hen 37-71, b) 2Hen gehört weniger in den Bereich der Rezeptionsgeschichte als vielmehr in ein lebendiges Korrespondenzverhältnis zum Henochkorpus in seiner Alexandrinischen Blütezeit, c) 2Hen repräsentiert zugleich die Kontinuität gegenüber der älteren "Enochic community" sowie die Transformation ihres theologischen Konzeptes in einen neuen Kontext hinein.

Im Einleitungsteil des Kommentares geht Nickelsburg unter Abschnitt 6.0 "Enoch in the Ongoing Tradition" auch auf 2Hen ein (79-81) - doch dabei bleibt es im Wesentlichen bei einer Paraphrase des Textes sowie der Benennung verschiedener thematischer Entsprechungen auf der Basis von F. I. Andersens Übersetzung in OTP 1983; die gesamte Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte zum 2Hen, die ja in einem ständigen Bezug auf die ältere Henochtradition steht, fehlt komplett (vgl. etwa die Literatur bei Chr. Böttrich, Weltweisheit Menschheitsethik Urkult. Studien zum slav. Henochbuch, Tübingen 1992). Die gelegentlichen Bezugnahmen im Kommentar listen Parallelen auf und gehen nur in zwei Fällen genauer auf den Wortlaut ein. Eine Auseinandersetzung aber wäre z. B. da geboten, wo über thematische Bezüge hinaus sachliche und z. T. wörtliche Übereinstimmungen vorliegen oder Unstimmigkeiten im Text des 2Hen nur aus der Dominanz der älteren Tradition zu erklären sind (Nachweise bei Chr. Böttrich, Das slav. Henochbuch, JSHRZ V/7, 807 Anm. 76 und 77).

Ansonsten macht sich die Ausblendung des 2Hen besonders schmerzlich in verschiedenen Exkursen bemerkbar: Wie kann man z. B. die "Wächter" und "Heiligen" in 1Hen ohne deren besonderes Profil in 2Hen darstellen? Wie lässt sich die Frage von Fürbitte und Mittlerfunktion in 1Hen ohne Verweis auf die anhand desselben Stoffes ganz singuläre, aber betonte pauschale Abweisung jeder Fürbitte in 2Hen 53,1-2 behandeln? Wie wird überhaupt die ganze Henoch-Angelologie auf ihrem Weg zur frühen jüd. Mystik ohne ihre Spezifika in 2Hen verständlich? Warum liegt für die Zwei-Wege-Ethik des 1Hen die frühchristl. Tradition näher als 2Hen 30,15? Weshalb wird das Phänomen einer himmlischen Buchführung in 1Hen nicht in Beziehung gesetzt zu jener Konzeption von 366 Büchern in 2Hen 23,3-6/33/36, die in der gesamten frühjüdischen Literatur ihresgleichen sucht? Diese und viele weitere Fragen stellen sich um so dringlicher, als die Belege aus anderen, weiter entfernt liegenden Schriften stets mit großer Präzision verzeichnet werden. Auch der jüngste Aufsatz von Nickelsburg (From Roots to Branches. 1 Enoch in its Jewish and Christian Context, in: Jüd. Schriften in ihrem antik-jüd. und urchristl. Kontext, hg. v. H. Lichtenberger und G. Oegema, Gütersloh 2002, 335- 346) geht auf das 2Hen mit keiner Silbe ein, obgleich diese Schrift - um im Bild zu bleiben - auf dem Weg von den Wurzeln zu den Zweigen als ein lebendiger und eigenständiger Spross am Stamm der noch im Wachstum begriffenen Henochtradition dem Leser doch irgendwie begegnen müsste. Der Altmeister in der Erforschung der Henochliteratur, R. H. Charles, widmete dem 2Hen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Seine Nachfolger indessen haben aus ihrer immensen Gelehrsamkeit und ihrer zeitlich weit gespannten Literaturverarbeitung das 2Hen dann meist wieder sauber ausgespart. Davon macht auch dieser hervorragende Kommentar - leider - keine Ausnahme. Es wäre an der Zeit, die Henochtradition in ihrer Ganzheit wahrzunehmen - und die schließt das 2Hen als einen unverzichtbaren Teil ein.

Längst schon ist das Studium der "Henoch-Literatur" zu einem eigenständigen Arbeitsfeld geworden. In der Traditionsentwicklung, die über die frühe jüdische Mystik weiter bis in rabbinische und christliche Texte hinausreicht, stellt 1Hen das entscheidende Sammelbecken der frühen Überlieferungen dar. Dass künftige Arbeiten zur Henochgestalt in Bibelwissenschaft und Religionsgeschichte nicht mehr mit einer nur schwer zu bewältigenden Spezialliteratur konfrontiert sind, sondern sicher und ohne Umwege auf ihren Wurzelboden bezogen werden können - dafür hat der Kommentar von Nickelsburg einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Wer auf 1Hen zugreifen will, findet nirgends umfassendere und zuverlässigere Informationen- und dies in übersichtlicher, leicht zugänglicher Gestalt. Die großen Erwartungen, die sich nun auf den zweiten Band richten, stehen auf einem sicheren Fundament.