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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

854–856

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Holtz, Gudrun

Titel/Untertitel:

Der Herrscher und der Weise im Gespräch. Studien zu Form, Funktion und Situation der neutestamentlichen Verhörgespräche und der Gespräche zwischen jüdischen Weisen und Fremdherrschern.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 1996. X, 392 S. 8 = Arbeiten zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, 6. Pp. DM 37,80. ISBN 3-923095-88-0.

Rezensent:

Ulrich B. Müller

Die Arbeit, eine im Jahr 1993/1994 von der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene und überarbeitete theologische Dissertation, hat sich das Ziel gesetzt, die neutestamentlichen Verhörgespräche (z. B. der Passionsgeschichte) mit jüdischen Prozeß- und Martyriumsgesprächen zu vergleichen. In dem herangezogenen jüdischen Material, den dortigen Prozeß- und Martyriumsdialogen, sind die Gesprächspartner der jüdischen Weisen ausschließlich Fremdherrscher.

Obwohl es keinesfalls eine singuläre Erscheinung der Passionsgeschichten ist, der Darstellung des Todes Jesu einen Dialog mit den Machthabern voranzustellen, fehlt ein detaillierter Vergleich der neutestamentlichen und jüdischen Gespräche zwischen Herrscher und Weisem (bzw. Jesus in den Evangelien und Paulus in den Verhören der Apg). Die forschungsgeschichtliche Einführung der Arbeit stellt heraus, daß es überhaupt an einer gattungsgeschichtlichen Zuordnung der neutestamentlichen Verhörgespräche mangelt, da noch immer die Anschauung der frühen Formgeschichte nachwirkt, daß es sich bei den synoptischen Passionsgeschichten um formlosen Stoff handelt. Die vorliegende Studie nimmt Anregungen von K. Berger auf, der der von ihm postulierten "Gattung der Dialoge zwischen Philosophen und Herrschern" die Gespräche zwischen jüdischen Weisen und römischen Würdenträgern zuordnet und auch die neutestamentlichen Verhörgespräche damit in Verbindung bringt. Allerdings gilt: "Der von Berger wahrgenommene Zusammenhang zwischen den freien und den martyriumsbezogenen Dialogen ist eher behauptet als nachgewiesen, und das Verhältnis zwischen den jüdischen Martyrien und den neutestamentlichen Passionsgeschichten ist differenzierter zu beschreiben, als dies bei Berger geschieht..." (20).

Im Blick auf die Methodik folgt die Autorin dem Gattungsbegriff bei K. Berger weitgehend. Es geht um die Beachtung der relativen Autonomie der literarischen Form gegenüber ihren sozialen Bezügen (24). Die Frage nach dem Sitz im Leben der Gespräche zwischen Herrscher und jüdischem Weisen ist als Frage nach der kommunikativen Funktion nach außen, also in Richtung auf die ursprüngliche Adressatenschaft verstanden (28), nicht als Frage nach der typischen Situation oder Verhaltensweisen im Leben etwa der christlichen Gemeinde (wie in der traditionellen Formgeschichte).

Die Arbeit untersucht in Teil A die Gespräche zwischen dem Fremdherrscher und den jüdischen Weisen nach Dan 3 und 6, in Teil B die Auseinandersetzungen zwischen Antiochus IV und den makkabäischen Märtyrern in 2Makk 6 und 7, anschließend in Teil C die entsprechenden Gespräche in 4Makk 5-12. Dem schließt sich der umfangreiche neutestamentliche Teil D an (98-184). Er behandelt die Verhörgespräche zwischen dem Synhedrium bzw. Pilatus und Jesus in den Evangelien, wobei der Lukasteil auch die Gespräche zwischen römischen bzw. jüdischen Instanzen und Paulus in Apg 21,2-26,32 betrifft.

Weil sich in der bisherigen Forschung die Acta Alexandrinorum und die altkirchlichen Märtyrerakten als wenig aussagekräftig für die neutestamentlichen Verhörgespräche erwiesen haben (23), wird das entsprechende jüdische Material herangezogen, wobei die rabbinischen Gespräche zwischen Herrscher und Weisem mit ihrem Martyriumskontext eine besondere Nähe zu den neutestamentlichen Verhörgesprächen zeigen. In Teil E wird deshalb das Gespräch zwischen Turnusrufus und R. Akiva untersucht (jBer 9,7), jene des R. Chanina ben Teradjon mit römischen Machthabern und in Teil F besonders jene zwischen Vespasian und R. Jochanan ben Sakkai in ARN A,4 und ARN B,6 bzw. Klgl R 1,31 zu Klgl 1,5 und bGit 56a.b.

Der Schluß der Arbeit enthält die Auswertung der Einzeluntersuchungen; erst hier erfolgt der Vergleich zwischen den einzelnen Literaturbereichen. Darin zeigt sich ein Problem der Arbeit: Der Vergleich zwischen der Vielzahl untersuchter Texte gerät relativ kurz (306-343). Als Ergebnis zeichnet sich bei der Beachtung formal-struktureller und motivisch-inhaltlicher Merkmale eine besondere Strukturverwandtschaft zwischen den synoptischen Verhören und den rabbinischen Gesprächen zwischen Herrscher und Weisem ab, so daß die These einer formgeschichtlichen Singularität etwa der markinischen Verhörgespräche nicht zu halten ist (317 f.). Die johanneischen Pilatusgespräche zeigen demgegenüber ein eigenes Profil; sie integrieren argumentativ-diskursiv ausgerichtete Gattungen, nämlich der Chrie und des Offenbarungsdialogs (321). Ein Ergebnis allerdings, das nicht sonderlich überrascht! Die kommunikative Funktion der Gespräche stimmt in den jeweiligen Texten weitgehend überein. Sie läßt Bezüge zu aktuellen Auseinandersetzungen der Erzählzeit erkennen und will die Position der jeweiligen Trägergruppe verteidigen (324-330). Besondere Strukturverwandtschaft zeigen dabei das MkEv und die Gesprächserzählung zwischen Rabban Jochanan ben Sakkai und Vespasian (ARN A,4): "Beide Texte ... stellen die Gründungsereignisse der jeweiligen Gemeinschaft literarisch u. a. mit Hilfe eines Dialoges zwischen jüdischem Weisen und römischem Machthaber dar, der im Fall Jesu um ein Gespräch mit dem Synhedrium ergänzt ist" (341). Der Arbeit gelingt es, die alte These zu widerlegen, die in den markinischen Verhören eine formlose geschichtliche Tradition sieht; in jüdischen wie neutestamentlichen Texten spricht sich sicher eine gemeinsame geistige Heimat aus, "die vergleichbare Ereignisse mit ähnlichen literarischen Mitteln theologisch zu bewältigen gelehrt hat" (343). Ob sich allerdings in den untersuchten Gesprächen wirklich eine gemeinsame Gattung findet, bleibt insofern fraglich, weil sich sofort die kritische Rückfrage nach dem vorausgesetzten Gattungsbegriff aufdrängt.