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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

336–339

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Lüchinger, Adrian

Titel/Untertitel:

Päpstliche Unfehlbarkeit bei Henry Edward Manning und John Henry Newman.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 2001. 362 S. gr.8 = Ökumenische Beihefte zur Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 40. Kart. ¬ 43,00. ISBN 3-7278-1348-2.

Rezensent:

Heiko Franke

Die Diskussion um die Lehre von der kirchlichen Unfehlbarkeit, die am Ende der 1960er Jahre in Gang kam, ist bis zum heutigen Tag nicht abgeschlossen. Weder konnte innerkatholisch Übereinstimmung über den genauen Sinn der Unfehlbarkeitslehre und ihre Relevanz für das Leben der Kirche erreicht werden, noch konnte man im ökumenischen Gespräch einer Verständigung über das Unfehlbarkeitsthema nennenswert näher kommen. Dies macht die bisherige Arbeit am Problem der kirchlichen Unfehlbarkeit aber nicht wertlos, sondern fordert katholische wie evangelische Theologie zu weiterer intensiver Forschung heraus.

Adrian Lüchinger leistet in seiner Dissertation dazu einen Beitrag. Er folgt einer Spur aus der Mitte der 1970er Jahre, als man sich von einer genauen Analyse des Zustandekommens des vatikanischen Dogmas, der Diskussionen vor dem und auf dem Konzil und schließlich der Definitionsformel selbst ein angemesseneres Verständnis des Dogmas von 1870 und mit ihm der gesamten Unfehlbarkeitslehre sowie vielleicht eine Milderung der daran haftenden Probleme erhoffte. Dementsprechend schreibt L. im Vorwort, er hoffe, der Leser "möge ... ein wenig besser in das hineinsehen, was die katholische Kirche des vergangenen Jahrhunderts so heftig bewegte und schließlich dazu führte, daß die päpstliche Unfehlbarkeit am 18. Juli 1870 definiert wurde". (5) - Die Arbeit will anhand der Positionen zweier wichtiger Protagonisten der Debatten im Umfeld des Konzils einen Beitrag zur Deutung des Unfehlbarkeitsdogmas leisten. Es gelingt L. dabei, die auf den Papst konzentrierte Auseinandersetzung transparent werden zu lassen für die Frage nach dem Sinn der Rede von kirchlicher Unfehlbarkeit überhaupt. Vor allem dadurch gewinnt seine Arbeit Bedeutung über den theologiegeschichtlichen Bereich hinaus.

L. untersucht die Positionen zweier prominenter englischer Theologen, die "auf je unterschiedliche Weise ihrer und damit auch unserer Epoche ihren Stempel aufgedrückt haben": Henry Edward Manning (1808-1892) und John Henry Newman (1801-1890). Warum gerade diese? Beide haben im Zuge ihrer Konversion aus der anglikanischen Kirche nach einem langen Weg der Annäherung die Unfehlbarkeit der Kirche und die Pärogative des römischen Bischofs bejaht und sich vor 1870 pointiert zu diesen Fragen geäußert. Dabei zeigt L., dass beider Positionen in der Unfehlbarkeitsfrage (trotz mancher biographischer Berührungspunkte) aus unterschiedlichen ekklesiologischen Ansätzen, ja: unterschiedlichen Geisteshaltungen resultieren: "Dies scheint uns für die heutige Debatte um so wichtiger zu sein, als uns dadurch eine bessere geschichtliche und theologische Einordnung der Dogmen von 1870 ermöglicht wird." (12) L. hofft, auf diesem Wege, zur zeitgenössischen Unfehlbarkeitsdebatte Erhellendes beitragen zu können. An diesem Anspruch muss sich seine Arbeit messen lassen.

Im Einzelnen folgt auf einleitende Bemerkungen zu Vorgehensweise und Forschungsstand (Kap. 1) ein Vergleich der Äußerungen Mannings und Newmans zur Unfehlbarkeitsfrage, die in je einem eigenen Kapitel (2 und 3) im Kontext der jeweiligen theologischen Biographie ausführlich dargestellt werden. Besonders beleuchtet wird beider Verhalten und Argumentieren unmittelbar vor, während und nach dem Vatikanischen Konzil. Das abschließende Kapitel 4 untersucht "Berührungspunkte und Gegensätze" und zieht Schlussfolgerungen.

Die Leserinnen und Leser erwarten informative Ausführungen über den Glaubensweg zweier prägender Gestalten der katholischen Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Dabei gewährt L. Einblicke in die sicher vielen wenig vertraute Welt des damaligen katholischen Englands im Spannungsfeld anglikanischer und römisch-katholischer Frömmigkeit und Denkungsart.

Manning wurde in seinen römischen Studienjahren 1851-54 stark von den Jesuitentheologen Perrone und Passaglia geprägt, deren auf den Papst und seine Unfehlbarkeit bezogene und vom Gedanken der Autorität bestimmte Ekklesiologie ihn inspirierte. Eine unabhängige und mit allen Vollmachten der Leitung und Lehre ausgerüstete kirchliche Autorität wurde zum wichtigsten Ziel Mannings und mit ihm der ultramontanen Theologen am Vorabend des Konzils. Seine theologische Sicht entwickelt Manning in "The temporal Mission of the Holy Ghost" aus dem Jahre 1865, wo er in einer umfassenden Schau vom Innewohnen des Heiligen Geistes in der (römisch-katholischen) Kirche handelt und die Unfehlbarkeit der Verlautbarungen der Kirche, nämlich der Hirten insgesamt oder des Papstes, mit der "absoluten und unlösbaren Beziehung" zwischen dem Heiligen Geist und dem mystischen Leib Christi erklärt. So hatte Manning eine Position erarbeitet, die ihn veranlasste, vom kommenden Konzil eine "Hervorhebung der päpstlichen Unfehlbarkeit" zu fordern. Die Zeit sei von häretischen Zweifeln am Wirken des Heiligen Geistes in der Welt geprägt. "Als direkte Folge dieser Geistvergessenheit betrachtet Manning die Ablehnung der kirchlichen Unfehlbarkeit, denn diese sei nichts anderes als die notwendige und logische Folge der Präsenz des Geistes in der Kirche." (99 f.) Das Konzil solle deshalb klarstellen, "daß es grundsätzlich häretisch sei, Berufungen gegen das Sprachrohr der lehrenden Kirche einzulegen" und "daß der durch die lebendige Stimme des Papstes vorgetragene Spruch hinsichtlich des Glaubens, der Sitten und der dogmatischen Fakten unfehlbar sei". Mit diesen Äußerungen reihte sich Manning in die Schar derer, die die Definition einer fast unumschränkten päpstlichen Unfehlbarkeit forderten - und nur in ihr eine Garantie für die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Kirche sahen. Mit Hirtenbriefen bereitete Manning, seit 1865 Erzbischof von Westminster, die Katholiken Englands auf eine zu erwartende weit gefasste Definition der papalen Unfehlbarkeit vor und engagierte sich auf dem Konzil selbst in diesem Sinne.

Auch Newman befürwortete die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche. L. zeigt aber, dass dies auf einem anderen Hintergrund als bei Manning geschah und deshalb bezüglich der Bewertung des Verlaufs und der Ergebnisse des Vatikanum I zu anderen Ergebnissen führen musste. In Berücksichtigung einer Fülle von Äußerungen Newmans - anders als Manning weniger systematischer Theologe als "autobiographischer Autor" (337) - bietet L. folgendes Bild:

Newman beschäftigte frühzeitig die Frage, ob es tatsächlich - nach anglikanischer Lehre - die alte Kirche sei, welche für die Wahrheit des christlichen Glaubens bürge, oder vielmehr die je lebendige, gegenwärtige - was ein zuverlässiges und autoritatives Lehramt fordern würde. So kommt Newman zwar in Anerkennung der Autorität der je gegenwärtigen Kirche auch zur Akzeptanz ihrer Unfehlbarkeit, zeigt sich aber am genauen Ort derselben in der Kirche wenig interessiert. Auffällig ist, dass er sowohl der Gesamtheit der Gläubigen und ihrem "consensus fidelium" als auch der "Schola Theologorum" eine besondere Aufgabe bei der Bewahrung der Wahrheit des Evangeliums beimisst - Einsichten, die sich aus seinem besonderen Interesse für Kirchen- und Dogmengeschichte speisten, ein Interesse, das auf Seiten seiner neuthomistisch denkenden Gegner wenig entwickelt war. Über die Laien äußert er sich in einem immer wieder zitierten Artikel aus dem Jahre 1859: "On consulting the faithful in matters of doctrine", in dem er den "consensus fidelium" die "Stimme der unfehlbaren Kirche" nennt.

In seinen "Papers on Infallibility" nennt er die Unfehlbarkeit des Papstes noch 1865 eine "offene Frage", und während des Konzils ist eine deutliche Sympathie für die schließlich unterlegene Minorität zu erkennen. Nach dem Konzil gehörte Newman folgerichtig zu jenen, die sich um eine moderate Erklärung des neuen Dogmas und also um eine Einbindung des päpstlichen Lehramtes in Glaube und Lehre der Gesamtkirche bemühten.

Es war demnach ein ekklesiologisches Interesse, das Newman anders fühlen und urteilen ließ als Manning, der alles, was in der Kirche an Glaubensgewissheit zu finden wäre, auf die unfehlbare Lehre der Bischöfe und vor allem des Papstes zurückführen wollte. Folgerichtig sah Manning mit dem Dogma von 1870 die Kirche an einem wichtigen Zielpunkt, während sich Newman von einem Folgekonzil zumindest eine Verdeutlichung der Unfehlbarkeitslehre erhoffte.

Mit Manning und Newman stellt L. zwei Vertreter durchaus konträrer, gleichwohl im Spektrum katholischer Theologie des späten 19.Jh.s möglicher ekklesiologischer Positionen gegenüber: Manning erscheint als der Konvertit, der sich durch Verquickung eines pneumatologischen Ansatzes mit der papalen Theologie der "Römischen Schule" für eine Kirche stark macht, die katholisch nur im Sinne einer strikten Bindung an die Entscheide Roms sein kann. Dagegen weiß Newman von einer Kirche, die katholisch als Ort kommunikativer Prozesse ist, in denen sicher das allgemeine Konzil und der Bischof von Rom aber auch die Theologen und die Laien ihre je besondere Rolle spielen.

Gemeinsam sind beide daran interessiert, die Möglichkeit heutigen, aktuellen Lehrens gegenüber anscheinender Verharrung der protestantischen Kirchen bei den Zeugen der Vergangenheit stark zu machen. L. beschreibt dies als den Gegensatz zwischen "hierarchischem" und "multiplem" Kirchenbild (311), und bemüht sich, beide Positionen und Konzeptionen "sine ira et studio" darzustellen, wissend, dass "das letzte Konzil ... Mannings Ansichten zu korrigieren und diejenigen Newmans hervorzuheben versuchte (339 f.)". Die meisten Leser werden, angesichts ihrer eigenen Sympathie für Newman, dieses Bemühen zu schätzen wissen. Dabei erweist es sich, dass Newman selbst die Unterschiede der beiden wesentlichen Gruppierungen auf dem Vatikanum I schon lange vor dem Konzil deutlich gesehen hatte: "Beide Parteien hielten den Papst für das Zentrum der Einheit, den Lehrer aller Gläubigen ... weiter stimmten beide Fraktionen in der Frage überein, dass päpstliche Entscheidungen binden, wenn diese allgemein angenommen werden. Als strittiger Punkt bleibt nur noch, ob diese allgemeine Annahme durch die Gläubigen Bedingung für eine unfehlbare Aussage des Papstes sei oder nicht. Damit prognostiziert Newman ... einen der zentralen Kontroverspunkte des bevorstehenden Konzils." (262 f.) In dieser scheinbar geringen Differenz drücken sich freilich unterschiedliche Konzepte katholischer Ekklesiologie aus. Und diese unterschiedlichen Konzeptionen begegnen einander heute kaum unversöhnlicher als vor 130 Jahren. Auch das Zweite Vatikanische Konzil konnte keine ausbalancierte Unfehlbarkeitslehre vorlegen, weil es versuchte, beide Ansätze gelten zu lassen.

L. hat durch Vergleich seiner Protagonisten gezeigt, dass bereits im Umfeld des Konzils selbst diese Differenz bei gleichzeitiger weitgehender Übereinstimmung vorhanden war, dieselbe Spannung also, die die Diskussion bis heute prägt und die sich bis heute als schier unlösbar erwiesen hat - will man nicht auf die Lehre von der kirchlichen Unfehlbarkeit verzichten.

Insofern bestätigt und exemplifiziert sein Buch wichtige Ergebnisse der Forschung aus den 1970er und 1980er Jahren - ohne freilich über sie hinaus zu führen, so wahr das Dogma von der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes nicht ohne die Berücksichtigung auch der Anliegen Mannings (und zwar eben sehr wohl seiner papalen Ekklesiologie und nicht nur seiner von L. geschätzten Pneumatologie) gelesen werden darf. Der Satz, mit dem das Buch schließt, beschreibt deshalb genau das Problem, dessen Lösung in all den Jahren der neueren Unfehlbarkeitsdebatte nicht gelungen ist und das auch L. nicht aus der Welt schafft: "Uns als Mannings und Newmans Nachwelt bleibt weiterhin die schwierige Aufgabe überlassen, das Vermächtnis der beiden englischen Kirchenmänner von einer polarisierenden Gegenüberstellung weg und hin zu einer fruchtbaren Synthese zu führen, welche auch im konkreten Leben der Kirche Bestand haben kann."

Dem "konkreten Leben der Kirche" nicht anders als dem Leben in der Ökumene hat das Dogma von 1870 bislang nicht erkennbar genutzt. John Henry Newman dürfte dies geahnt haben, als er versuchte, seine Kirche durch eine kommunikative Ekklesiologie zu provozieren und zu inspirieren. Auch nichtkatholische Leser wissen sich von seinen Argumenten eingeladen, in einen Dialog über die Bedeutung der heute glaubenden und heute lehrenden Kirche für die Zuverlässigkeit der Evangeliumsbotschaft zu treten. Diese Aufgabe liegt allerdings jenseits einer theologiegeschichtlichen Studie wie sie L. in gründlicher Aufarbeitung der Quellen und mit Blick für wesentliche Linien, Brüche und Spannungsfelder vorgelegt hat.