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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

326–329

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Huizing, Klaas

Titel/Untertitel:

Ästhetische Theologie. Band II: Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie.

Verlag:

Stuttgart-Zürich: Kreuz 2002. 282 S. m. Abb. 8. Geb. ¬ 26,90. ISBN 3-7831-2145-0.

Rezensent:

Christian Bendrath

Nach dem vor zwei Jahren erschienenen ersten Band der Ästhetischen Theologie des Würzburger Systematikers Klaas Huizing liegt nun der zweite Band vor. Der Gedankengang wendet sich im Anschluss an die literarische Anthropologie des "erlesene[n] Mensch[en]" zu einer "Medien-Anthropologie" des "inszenierte[n] Mensch[e])". Bei diesem Gedankenfortschritt handelt es sich jedoch weniger um die Erschließung neuer Einsichten, als eher um eine vertiefende Wiederholung der Einsichten des ersten Bandes. Materialdogmatisch geht es nämlich auch im zweiten Band wieder um eine phänomenologisch-hermeneutische Interpretation des ordo salutis. H.s "Ästhetische Theologie II" versucht erneut, an der Gestensprache der "gelebten Religion" des Christentums in Neuzeit, Moderne und Postmoderne die Wiedergeburt des Sünders zum frommen Christenmenschen abzulesen. Auf Grund eines medial vermittelten Bekehrungserlebnisses wandele sich der "coole" oder "resignative" Lebensstil moderner Menschen zu einem neuen, der biblischen Jesus-Gestalt nachgebildeten Leben in "Solidarität und Toleranz".

Im ersten Band wurde das Lesen als Ur-Geste des neuzeitlichen Christentums bestimmt (138 f.). Damit war gemeint, dass der Leser in den Bibeltext wie in eine Gebärmutter hinein krieche, der ihn dann durch das Leseerlebnis völlig verwandelt zur Welt bringe (19). Die durchs Lesen zu Stande gekommene Wiedergeburtserfahrung bestehe in der Abfolge von fünf Ausdrucksbewegungen: Neugier, Kniefall, Umkehr, Kontakt und Offenheit (138). Anlässlich der gegenwärtigen Krise des Buchmediums gegenüber der Dominanz audiovisueller Medien legt H. mit Band II eine breit angelegte Apologie seiner leseästhetischen Wiedergeburtstheologie aus Band I vor. Er setzt sich mit dem Vorwurf auseinander, dass das Programm einer biblisch-literarischen Soteriologie trotz der ihm eigenen leibphänomenologischen Evidenz außerhalb bildungsbürgerlicher Eliten im kirchlichen Binnenmilieu schlicht unplausibel sei, weil sowohl das Schriftmedium als auch die ihm entsprechende Lektürehaltung aus der Mode gekommen seien. Diesem kulturpessimistischen Untergangsszenario (68 ff.72 ff.) setzt H. entgegen, dass die neuen audiovisuellen Medien sehr wohl dazu geeignet seien, ihren Konsumenten die christliche Wiedergeburtserfahrung zu ermöglichen (91 ff.94 f.). Die Produktionsästhetik einer täglich anwachsenden Menge von Filmen und Videoclips enthalte nämlich eine implizite Theologie; freilich keine kirchlich-dogmatische "Theologentheologie" (Falk Wagner), sondern vielmehr eine primär lebenspraktische Laientheologie auf der Basis der "Volksreligiosität" eines kirchenfernen Pop-Christentums (40.231). Die Montage, d. h. der spezifisch synästhetische Ausdrucksstil der Filme und Videoclips, intendiere in einigen Fällen "offensichtlich eine religiöse Kommunikationssituation" (214) und biete somit dem zumeist nicht mehr kirchlich sozialisierten Publikum die "christlich[e] Geste der Zuneigung oder Güte" (20) dar, die zur mimetischen Anverwandlung an die je eigenen Lebensbedingungen anempfohlen werde, etwa im Sinne der "Ausbildung einer Gestenkultur der Solidarität" (214) oder der "Umformatierung der Distanzgesellschaft in eine Nahgesellschaft" (231). Darin entspreche der performative Darbietungsgestus der Filme und Videoclips (127 ff.221) dem Stil neutestamentlicher Gleichnisse, die ja ebenfalls durch ihre Erzählstrategie alltägliche Situationen zu Erschließungssituationen für die neuschöpferische Kraft christlicher Lebensführung machten (18 ff.). H. ist es also um die medienästhetische Strukturanalogie zwischen der Dramaturgie der neutestamentlichen Gleichnisse und der Szenographie bestimmter Filme und Videoclips zu tun: Lesern sowie Zuschauern werde durch einen je spezifischen religionsästhetischen Ausdrucksstil (nicht aber durch andern Orts noch einmal eigens festgelegte dogmatische Inhalte) der gewisse Eindruck der christlichen Wiedergeburtserfahrung erschlossen (32-40).

Die besondere Pointe des II. Bandes von H.s "Ästhetischer Theologie", der "Medien-Anthropologie", besteht m. E. in einer subtilen Widerlegung der Luckmannschen These von der "unsichtbaren Religion" (149 ff.159 ff.). H. weist nämlich nach, dass die Religion in der säkularen Postmoderne mitnichten unsichtbar geworden, sondern in Filmen und Videoclips sogar massenwirksam sichtbar sei (11-14.150). Der christliche Lebensentwurf mit seiner eindrucksvollen Gestensprache gehe keineswegs in allen irgendwie möglichen Funktionsäquivalenten der säkularen Alltagskultur als deren quasi-religiöses Implikat auf, sondern kehre auf Grund der "symbolischen Prägnanz" (Cassirer) seines religionsästhetischen Ausdrucksstils in den neuen Medien explizit wieder. Die christliche Gestensprache werde lediglich neu kontextualisiert und dadurch leicht verfremdet; an ihr selbst behalte sie ihre Bestimmtheit, durch die sie überall als sie selbst wiedererkennbar bleibe (35 f.138 f. 263f.). Dabei können die religiösen Vorstellungsgehalte erheblich von der kirchlichen sowie theologischen Schriftauslegung abweichen. Trotzdem bestehe keine nur allgemeine oder rein formale Strukturanalogie zwischen biblischen und filmischen Inszenierungen des christlichen Lebensgestus' (127-137). Es handele sich um nachschaffende Wiederholungen, um mimetische Nachbildungen, des biblischen sowie volksreligiös tradierten Lebensgestus' im freien Spiel der Formen, ohne dass eine Identität der Verkündigungsbotschaft bestehen müsste (19-21. 26.32 ff.165).

H. zeigt mit Hilfe von Hans-Peter Eckers Gattungsbestimmung der Legende (152 ff.) als einer allgemein religiösen Textform, dass auch Filme und Videoclips eines säkularen Pop-Christentums als Legendenbildungen verstanden werden können, die auf biblische Gesten zurückweisen und auf eine der Jesusgestalt entsprechende Umgestaltung gegenwärtiger Lebensentwürfe zielen (13 f.25 f.39.165 f.). Eckers zwölf Kriterien umfassender Katalog (153 f.) für das Vorliegen der Gattung Legende wendet H. nachher auf die von ihm untersuchten Filme und Videoclips an (Truman-Show, 166 ff.; Stigmata, 177 ff.; Dogma 188 ff.; Forrest Gump, 199 ff.; Madonna, Like A Prayer, 210 ff.; Marius Müller-Westernhagen, Jesus, 222ff.; Type-O-Negative/Peter Steele, Christian Woman, 238 ff.). Er versucht dadurch die Aporien einer einseitig 1. religionshermeneutischen (161 f.), 2. postfunktionalen (162 f.), 3. rezeptionsästhetischen (163) oder 4. postsubstanziellen (164) Film- und Videoanalyse in ästhetisch-theologischer sowie medientheologischer Perspektive zu vermeiden. All diese Analysen blieben nämlich hinter dem von H. angemahnten medienästhetischen Problemniveau zurück (43-158), das seinerseits als gestisches (32ff.) über ontologische (27 f.), hermeneutische (28 ff.) und urteilslogische Engführungen hinausgehe. Es werde nämlich entweder 1. eine kirchlich-dogmatische Theologentheologie als externe Norm auf die lebenspraktische Laientheologie der Filmmontage angewendet, obwohl weder Filmemacher noch Zuschauer sich derselben verpflichtet fühlten (150.161 f.); oder 2. viel zu abstrakte religionsphilosophische Inhalte vindiziert, die mit der gestisch-atmosphärischen Oberfläche der Filme kaum noch etwas zu tun hätten und zu Gunsten einer vagen Bestimmung des kognitiven Gehalts die affektive sowie pragmatische Dimension religiöser Kommunikation im Film vernachlässigten (162f.); oder 3. die produktionsästhetische Seite, d. h. die der subjektiven Rezeption objektiv vorgegebene Szenographie, übersprungen, obwohl der Eindruck des Zuschauers sich immer auf einen konkreten filmischen Ausdruck beziehe (163); oder schließlich 4. verdeckt, dass die christlichen Gesten sowie Atmosphären (z. B. der Güte) nicht beliebig für eine rein säkulare Lebensführung funktionalisierbar seien, sondern auf genuin religiöse Entsprechungen im eigenen Lebensentwurf und Lebensgefühl zielten (nämlich Solidarität und Toleranz; 13.20.35f. 39.164).

H.s anspruchsvolles und überzeugend eingelöstes Projekt einer Medien-Theologie referiert und amalgamiert auf engstem Raum verschiedenste Diskurse, was die Lektüre bisweilen anstrengend und extrem voraussetzungsvoll macht. Die postmodernen Einsprengsel aus medienkritischen Romanskizzen (47ff.) und aus kirchendogmatikkritischen Filmnacherzählungen (166ff.) machen die Lektüre zwar unterhaltsamer, aber kaum leichter. So kommen auf engstem Raum nebeneinander zu stehen: die Debatte um Strukturanalogie und Bedeutungsautonomie von Theologie und Ästhetik sowie deren Vertiefung durch leib- und atmosphärenphänomenologische Neuansätze (15-36), die überwiegend kulturkritisch geführte Debatte um positive oder negative Einflüsse der neuen Medien auf das Menschsein des Menschen (Medientheorie pro oder kontra Anthropologie, 43-91), eine subtile religionsphänomenologische Dechiffrierung der postmodernen Medienkommunikation als Strukturanalogie zur Ritualkommunikation (als tertium comparationis dient hier die Evokation vielsagender Atmosphären und die leiblich-sinnliche Interaktion durch Gesten 97-122.127-137), darein verwoben die Differenzierung zwischen physiognomischer und pathognomischer Ausdruckskunde (116 ff.) sowie die Differenzierung zwischen Gebärden (als unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen) und Gesten (als reflexiv gestalteter Willkürbewegungen, 102 ff.), sodann die kulturmorphologische Differenzierung verschiedener prototypischer Gestenkulturen: der stoische Gestus des "Cool", der skeptisch-melancholische Gestus der "Resignation" sowie der christliche Gestus der "Güte" (128 ff. als lebensfeindlicher Antityp zu diesen abendländischen Gestenprototypen fungiert der "faschistische" Gestus der Riefenstahlschen Filme 122-126), die Herausstellung der Legende als Urgattung für die sichtbare Inszenierung der Religion im postmodernen Videoclip und Film (152 ff.) und schließlich die Diskussion zeitgenössischer Religionstheorien (149-152.159 ff.).

Der Vorteil dieser wahren Überfülle an Theoriediskursen ist ihr geradezu lehrbuchhafter Überblick, der durch H.s Gedankengang mitnichten gestört, sondern überhaupt erst nachvollziehbar wird. Der Nachteil der "neuen" theoretischen "Unübersichtlichkeit" (Habermas) kann demgegenüber verschmerzt werden: H. erweist in seiner Zustimmung und Ablehnung zu den vielen von ihm referierten Positionen seiner eigenen Position bisweilen einen Bärendienst. So bleibt bis zur letzten Seite des Buches völlig uneinsichtig, weshalb H. sich für einen postsubstanziellen Religionstheoretiker (vgl. dazu sogar den offenen Widerspruch zwischen S. 34 und 39) oder für einen nicht semiotisch argumentierenden Filmtheoretiker hält. Sein ästhetisch-phänomenologischer Gestenbegriff ist sehr wohl religiös substanziell (die Legende basiert als Gattung wesentlich auf einem Theologiekriterium [vgl. 153]; alle von H. ausgewählten Filme bearbeiten auf laiendogmatische Weise substanzielle theologische Probleme, vgl. die Frage nach der Plausibilität der ökonomischen Trinitätslehre, 188 ff.) sowie zweifelsohne semiotisch geprägt (wie könnte er sonst in der Szenographie von Forrest Gump das "Schweißtuch der Veronika" erkennen?, 199 ff.).

Von diesen Inkonsistenzen im Argumentationsgang abgesehen fällt das Urteil daher nahezu euphorisch aus: H. legt mit seiner "Ästhetischen Theologie II" m. E. nicht nur den innovativsten systematisch-theologischen Entwurf der jüngsten Vergangenheit vor, mit dem er zudem seine eigenen früheren Entwürfe noch einmal um Längen übertrifft, es gelingt ihm auch, der Systematischen Theologie eine neue Relevanz als religionsästhetisch und leibphänomenologisch orientierte Medienhermeneutik zu erschließen.