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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

325 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Simonis, Walter

Titel/Untertitel:

Schmerz und Menschenwürde. Das Böse in der abendländischen Philosophie.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. 280 S. gr.8. Kart. ¬ 25,00. ISBN 3-8260-2100-2.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Das Geheimnis des Bösen (mysterium inequitatis) fasziniert immer wieder und fordert zumindest eine deutende Beschreibung, wenn es schon nicht beseitigt werden kann. Simonis, katholischer Systematiker an der Universität Würzburg, hat eine solche geschichtlich orientierte Deutung mit einer originellen These verbunden. Diese These ergibt sich aus dem Vorwurf, in der Geschichte der Philosophie wie auch der Theologie (die durch die Einbeziehung einiger biblischer Traditionen im 2. Kapitel, aber sonst nicht über spätantike wie mittelalterliche Positionen hinaus vertreten ist) sei das Böse nicht als es selbst, sondern nur als Mangel (privatio boni) oder als hinzunehmender oder gar als notwendiger Bestandteil einer höheren harmonischen Synthese des Seins wahrgenommen und damit "böse" wegerklärt worden. Grund für dieses Versehen an der eigentümlichen Realität des Bösen sei - so die interessante, aber schließlich doch abwegige These von S. - die grundsätzliche Orientierung der Philosophie auf ihrer Suche nach der Wahrheit an einer Metaphysik des Sehens (im Sinne von theoria) statt des Hörens (11. 21.64 u. ö.). So aber habe sie den Schmerz der Opfer als Inbegriff des Bösen - wie z. B. Augustinus - überhört (145) und den Angang seiner Wirklichkeit "theoretisch" auf Distanz gehalten.

Diese These, die von einer plakativen Entgegensetzung von Sehen und Hören als philosophischen Leitmotiven lebt, hält freilich in dieser Form einem genaueren geistesgeschichtlichen Befund (etwa anhand der einschlägigen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie) nicht stand. Aber sie kann, wenn man Sehen und Hören entschieden als Metaphern auffasst, einen guten Sinn bekommen, indem z. B. im Blick auf Luthers Verständnis vom Wort Gottes und dem hörenden Glauben sowie mit Rekurs auf Sartres Analyse des Blicks das Sehen als Metapher für ein verfügen wollendes Denken und das Hören als Metapher für ein Aufmerksamsein auf Unverfügbares genommen wird. Zu Letzterem kann dann auch das Phänomen des Bösen in seinen vielen Facetten gehören. In diese Richtung scheint S. zu gehen, wenn er - gegen postmoderne Metaphysikkritik gewendet - das Böse qua Schmerz als Indiz für die berechtigte Annahme von irreduzibel Absolutem in unserer Wirklichkeitserfahrung nimmt (77). So sei es die generelle Aufgabe einer Philosophie des Bösen, "im sogenannten nachmetaphysischen Zeitalter gleichsam Statthalterin der alten Metaphysik zu sein" (259), um mit dem Hinweis auf Schmerz, Leid und Weh einem unernsten bis zynischen "anything goes" einer die Menschenwürde mehr und mehr missachtenden Gesellschaft zu wehren (262) und jede Übereinstimmung oder gar Versöhnung mit dem Bösen auszuschließen (211).

Aber aus dem bei S. noch ungeklärt gebliebenen Fundierungsverhältnis von Metaphysik, Schmerz und Menschenwürde ergibt sich mit der Frage nach einer fehlenden eindeutigen Definition der leitenden Begriffe die Vermutung eines möglichen Selbstwiderspruchs in S.s ansonsten bedenkenswerten Anliegen: Einerseits möchte er Metaphysik phänomengerecht retten - wobei Metaphysik nach Meinung des Rez. bei allen Differenzierungsmöglichkeiten immer nach dem letzten ontologischen wie epistemologischen Einheitsgrund von Wirklichkeit fragt, andererseits und im Widerspruch dazu möchte er eine Lanze für einen manichäischen Dualismus und seinen bleibenden Wahrheitsgehalt brechen. Denn nur hier sieht S. das Böse als Prinzip der Wirklichkeit und damit in seiner eigenen Realität ernst genommen. Gerade aber diejenigen philosophisch-theologischen Traditionen, die Hilfestellung zur Auflösung dieses Widerspruchs z. B. im Blick auf eine polare Spannung im Einheitsgrund (Gottes) selbst hätten geben können, übergeht bzw. missdeutet S.

Zu denken wäre hier natürlich an Luther und seine Unterscheidung zwischen dem Deus absconditus und dem Deus revelatus, an Böhmes theosophische Mystik der "Qualgeister" in allem Seienden einschließlich Gottes oder auch an Schellings Grund-Existenz-Ontologie in seiner "Freiheitsschrift", derzufolge die Realität des Bösen in demjenigen (Grund) in Gott ermöglicht wird, was nicht Gott selbst (seiner Existenz nach) ist. Das sind zugegebenermaßen höchst spekulative, aber doch konsistente Versuche einer realitätsgerechten Metaphysik des Bösen, die einem manichäischen Dualismus - auch in der Variante einer neuzeitlichen Skepsis bei P. Bayle, demzufolge a priori alles für einen Einheitsgrund des Guten, aber a posteriori alles für einen manichäischen Dualismus spricht (201) - doch an Erklärungskraft weit überlegen sind.

Vielleicht liegt diese systematische Schwäche von S.s im ganzen mehr narrativ als argumentativ entwickelten These auch an den nicht immer nachvollziehbaren Auswahl- und Darstellungskriterien bestimmter philosophischer Positionen, die teils in unnötiger Überlänge (z. B. Parmenides, Sokrates, Augustinus, Kant), teils in unzulässiger Verkürzung (das betrifft nahezu alle neuzeitlichen und modernen Versuche nach Kant, vor allem Schelling, Schopenhauer und Nietzsche) behandelt werden. Dennoch hat das vorliegende Buch seine Verdienste und Qualitäten, die zum einen in einer umfänglichen Materialsammlung, zum anderen in klaren, wenn auch darum oft anfechtbaren Urteilen über die Tragweite der jeweils dargestellten Position liegen. Aber ob eine spezifische Menschenwürde mit dem Hinweis auf die böse Realität von Schmerz begründet werden soll und kann, bleibt nicht nur im Blick auf ebenfalls berechtigte Anliegen von Tierschützern, sondern auch im Blick auf die von S. angedeuteten kreuzestheologischen Implikationen ("Auch in und für Gott wäre das Böse wirklich", 277) mehr als fraglich.