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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

321–325

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Plüss, David

Titel/Untertitel:

Das Messianische. Judentum und Philosophie im Werk Emmanuel Lévinas'.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 399 S. gr.8 = Judentum und Christentum, 8. Kart. ¬ 34,00. ISBN 3-17-016975-0.

Rezensent:

Hendrik J. Adriaanse

In dem Werk Emmanuel Lévinas' ist das Verhältnis zwischen Judentum und Philosophie ein ebenso schwieriger wie wichtiger Punkt. Oft wird das Problem gelöst, indem der jüdische Teil des Werkes einfach ausgeblendet wird. Die Aufsätze über jüdische Themen, die zahlreichen Talmud-Lektüren wären philosophisch schlichtweg unerheblich. Mancher Lévinas-Interpret ist nach dieser Maxime verfahren, aber auch der Meister selbst weckt oft den Eindruck, es so gehalten zu haben. Er hat jedenfalls immer wieder auf die reine Philosophizität seiner philosophischen Texte bestanden. Diese seien in ihrem eigenen Lichte zu verstehen und hätten es nicht nötig, dass auch der "konfessionelle" (wie er sagte) Teil des uvres herangezogen werde. Die vorliegende Studie setzt gerade hier an. Sie gibt sich mit einer solchen pauschalen Aufteilung nicht zufrieden und versucht eine Bestimmung des fraglichen Verhältnisses, die nicht nur genauer, sondern auch richtiger ist. Auch richtiger - denn bei näherem Zusehen springt es in die Augen, dass Judentum und Philosophie bei Lévinas in Wahrheit auf vielerlei Weise miteinander zu tun haben. Es kommt nur darauf an, diese verwickelten Beziehungen zu klären. Der Vf. bringt sie im Endergebnis auf den gemeinsamen Nenner einer "differenten Relation" (102 ff.351 ff.). Er meint mit diesem Ausdruck einen "offenen Bezug" (343), in dem die zugeordneten Größen zwar irgendwie korrespondieren, aber auch und vor allem unaufhebbar verschieden sind. Das Judentum liegt der Philosophie voraus. Es ist etwas sich Ereignendes und das zwar auf unvordenkliche Weise. Es ist nicht selbst Philosophie, sondern vielmehr deren Anderes. Und es widersteht den philosophischen Eingemeindungen. Ihrerseits kann die Philosophie das Jüdische nicht von sich abschütteln. Sie muss ihm Rede stehen. Sie ist wesentlich Antwort - und zwar auf eine Frage, die sie traf, noch bevor sie sich ihrer Möglichkeiten besinnen konnte.

Der Vf. bedient sich hier recht starker Ausdrücke. Das zuvorkommende Judentum bedeutet die "Störung" der Philosophie; es ist ihr ein "Pfahl im Fleisch", eine offene Wunde. So kann er auch den Satz schreiben: "Lévinas' Philosophie ist ein Leiden an der Wunde, die sich nicht schließt" (352). Kennzeichnungen wie diese zeigen allerdings das höchst Persönliche, das kaum Verallgemeinerbare des Lévinasschen Philosophieverständnisses. Sie zeigen ein Dilemma an, das das ganze Buch durchzieht und am Ende wohl auch ungelöst bleibt, das Dilemma der vorphilosophischen Voraussetzungen. Niemand kann deren Anwesenheit leugnen; werden sie aber verselbständigt, so scheint die Folge unausbleiblich, dass die Philosophie in die Rolle der ancilla, hier "ancilla judaicae" (338) zurückversetzt wird. Doch wird durch dieses Dilemma die Kraft des Buches nicht gelähmt.

Wird die differente Relation selbst Ereignis, so ergibt sich "das Messianische". Hier sind wir bei dem Grundbegriff der ganzen Untersuchung. Auffällig an diesem Ausdruck ist die grammatische Form des Neutrums. Es wird auf die Tradition des jüdischen Messianismus verwiesen, deren Spuren sich un-strittig in Lévinas' Denken bemerkbar machen. Aber die Elemente dieser Tradition werden bei ihm nicht unverändert übernommen. Sie werden "weitgehend formalisiert" (35), d. h. ins Philosophische übertragen. Indessen bedeutet das keine Absage an das traditionelle Vorbild, sondern vielmehr "eine kongeniale Antwort darauf, die als solche weder eindeutig zur Philosophie noch zur Religion zu rechnen ist, sondern die Differenz zwischen beidem konstituiert und erhält" (ebd.). In dieser Differenzgestalt beinhaltet das Messianische eine Reihe von Elementen, die in der jüdischen Philosophie des 20. Jh.s zur Entwicklung gebracht worden sind.

Der Vf. geht in dem dritten Kapitel seines ersten Teiles auf vier deutsche Denker ein, anhand derer Lévinas' Verständnis des Messianischen sich explizieren lässt. Seine diesbezüglichen Ausführungen seien hier detailliert dargelegt. Mit dem "Fortschrittsmessianismus" (62 ff.) H. Cohens hat Lévinas bei allem Unterschied die "Universalisierung des Messianischen" gemeinsam. Bei beiden wird dieses "zum Modell einer fundamentalphilosophischen Struktur" (64). Bei M. Buber ist es die Idee der Gegenwärtigkeit des Messianischen im Alltag, des Einbruchs der Transzendenz in die Profanität, der Lévinas nahe steht. Bubers von der Begegnung her sich konstituierende Anthropologie ist von Lévinas weitergedacht worden. Der Vf. sieht hier eine besonders große Ähnlichkeit. Lévinas' bekannter Einwurf gegen Buber, das zwischenmenschliche Verhältnis sei nicht symmetrisch sondern vielmehr asymmetrisch, wird von ihm heruntergespielt zu Gunsten der Übereinstimmung hinsichtlich der "messianische[n] Qualifizierung der Begegnung mit dem Du, die sich als ein die Fundamente erschütterndes Ereignis artikuliert" (68). Auch in Bezug auf das Verhältnis von Lévinas zu Rosenzweig geht der Vf. eigene Wege. Die bekannte Äußerung im Vorwort zu Tot. et Infini, Rosenzweig sei in diesem Buch zu häufig gegenwärtig, um zitiert zu werden, ist nach ihm ebenso grundsätzlich wie unpräzis (73). In Wahrheit träfen die beiden sich nur in der Totalitätskritik und in dem von Rosenzweig so bezeichneten "Neuen Denken". Am ersten dieser zwei Punkte trete dann allerdings zugleich auch die fundamentale Differenz der beiden Denker zutage. Rosenzweig bleibe nämlich dem Systemdenken verhaftet: Bei aller Distanz von dem spekulativen System Hegels lasse sich sein Stern der Erlösung selbst als "ein andres, dreigliedriges System" (74) lesen.

Auch an anderen Punkten, beispielsweise bei der Rolle des Kultischen oder der Konstitution der Subjektivität, legt der Vf. den Finger auf wichtige Differenzen. Seine Untersuchung zeichnet sich unzweifelhaft durch Unabhängigkeit des Urteils aus. Als viertes Beispiel bringt der Vf. den katastrophischen Messianismus W. Benjamins. Das Messianische ist hier gedacht als das Hereinbrechende und Zu-künftige. Dieser Einbruch bedeutet aber Verzweiflung und Hoffnung in Einem. Es besteht hier eine Spannung, "die an die Verbindung von Exil und Heil in der lurianischen Kabbala gemahnt" (80). Obwohl Lévinas sich nirgends auf Benjamin bezieht und ihn vielleicht nicht einmal gekannt hat, findet der Vf. hier wiederum eine große Ähnlichkeit vor. Bei beiden tritt das Messianische zutage als das Fremde, das "kontingent von außen her einbricht und den Menschen in der Gleichzeitigkeit von Katastrophe und Erlösung, von Leiden und Heil in Beschlag nimmt" (13).

Der philosophische Messianismus des 20. Jh.s kann in seinen Varianten als Übersetzung des traditionellen jüdischen Messianismus gelten. Ist nicht gleicherweise das philosophische Schrifttum von Lévinas als eine Übersetzung seines Judentums, bzw. der Bibel in Anspruch zu nehmen? Obwohl diese Metapher von Lévinas selbst benutzt wird, fällt die Antwort des Vf.s eher verneinend aus. Er hält sie für "geradezu mißverständlich" (28). Diese These zu untermauern, bedarf es der weit ausgreifenden Untersuchungen des zweiten Teils. Dieser Teil ist quantitativ und stoffmäßig gesehen der Hauptteil (106-314). Hier werden die jüdische und die philosophische "Textsorte" bzw. "Wahrheitssphäre" (83.309) miteinander verglichen. Der Vergleich ist so eingerichtet, dass die Untersuchung sich auf Lévinas' Talmud-Lektüren konzentrieren, und zwar auf diejenigen, die sich auf Texte über das Messiasproblem beziehen. Dieses Verfahren hat einen doppelten Vorteil. Einmal hat man in diesen Lektüren das Jüdische und das Philosophische direkt beieinander, zum anderen wird man durch das Thema dieser Lektüren ständig an das Leitthema des ganzen Buches erinnert. Die vier thematischen Kapitel sind auf uniforme Weise aufgebaut aus einem Teil A "Talmud", einem Teil B "Philosophie" und einem Teil C, der jeweils einen Teilaspekt des Messianischen hervorhebt. Die drei Teile verhalten sich in gewisser Hinsicht wie konzentrische Kreise. Um den Mittelpunkt des Talmud-Textes werden immer weitere Kreise der Analyse und Reflexion gezogen. Im A-Teil bewegt sich der Vf. in ziemlicher Nähe zu Lévinas' Kommentaren, die er auch ausführlich im Originaltext und in Übersetzung zitiert. Im B-Teil erörtert er Texte und Gedanken aus Lévinas' philosophischen Schriften, die er als Entsprechungen, Weiterführungen, Gegenstücke, kurzum "Antworten" (35 u. ö.) zu diesen Kommentaren geltend macht. Im C-Teil findet dann der eigentliche Vergleich statt und hier ist es natürlich das Messianische, das das tertium comparationis abgibt; die angesammelten Materialien erfahren in diesem Teil eine Ausleuchtung im Blick auf die Figur des Messianischen.

Im ersten der thematischen Kapitel geht es um das messianische Problem des Menschen. Im A-Teil analysiert der Vf. Lévinas' Kommentar zu Sanhedrin 97b/98a. "Was", so behauptet er, "nach Lévinas in dieser Diskussion der Rabbinen im Gewande der theologischen Frage nach den Bedingungen des Kommens des Messias verhandelt wird, sind die Fragen nach dem Heil und der für das Heil relevanten Freiheit" (128 f.). Entsprechend wird im B-Teil auf Lévinas' Verständnis der Freiheit eingegangen. Es kommen hier die Bezüge und Gliederungen, in denen dieser Begriff in Lévinas' philosophischem Werk steht, ausführlich zur Sprache. Dem C-Teil ist der Titel "der Messias und die Freiheit" mitgegeben. Die wichtigen Themen und Subthemen im vorher erarbeiteten Freiheitsbegriff werden dort wieder aufgenommen in Abschnitten über die Analyse der Unfreiheit, die Einsetzung der Freiheit, das Konzept der Innerlichkeit und den Vorrang des Ethischen als Öffnung des Seins zur Verantwortung. Diese Abschnitte, die je 2 bis 4 Seiten umfassen, sind alle noch weiter unterteilt. So enthält der Abschnitt über das Konzept der Innerlichkeit die Überschriften "Ruhe und Stille", "Ereignis des Unendlichen", "das Messianische" und "Zimzum". Diese exemplarisch bis ans Niveau der konkreten Ausführung gehende, aber noch immer in der Abstraktion verbleibende Aufzählung muss genügen, um einen Eindruck der methodischen Durchführung und thematischen Entfaltung zu geben. Die anderen Teilaspekte des Messianischen, die in den übrigen drei Kapiteln erörtert werden, können hier bloß genannt werden. Es sind respektive der Messias und das Leiden, der Messias und das Gesicht [bzw. die Sprache] und der Messias und die Zeit [bzw. die Zu-kunft]. In dem Bauwerk der vier thematischen Kapitel des zweiten Teiles besteht die Substanz des Buches und die eigentliche Leistung des Vf.s. Es wird hier eine Lévinas-Interpretation vorgestellt, die sich auf der Höhe der neueren Forschung bewegt, die viele frühere Missverständnisse sine ira et studio berichtigt und weiße Flecken auszufüllen vermag. In dieser doppelten Wirkung beschränkt sich die Untersuchung übrigens nicht auf die Lévinas-Interpreten; gelegentlich wird auch der Meister selbst kritisiert oder ergänzt. So, wie gesagt, hinsichtlich seines Gebrauchs der Metapher der "Übersetzung". Um darauf noch kurz zurückzukommen, das Bedenken, das der Vf. hier geltend macht, geht dahin, dass das Original von Lévinas' Übersetztem nicht vorliegt. Es ist nicht ein Text, auf den Lévinas' philosophisches Denken zurückgeht, sondern eben das Andere dieses Denkens, "das Unvordenkliche, die Störung" (345).

Der dritte und letzte Hauptteil des Buches ist, wie der erste, ziemlich allgemein gehalten. Es werden die Erträge der Untersuchung geerntet und einige Ausblicke gegeben. Besonders das Schlusskapitel ist wertvoll für Leser dieser Zeitung. Nachdem der Blick so lange und so streng auf Lévinas' eigene Gedankenwelt beschränkt geblieben ist, macht der theologisch ausgebildete Vf. zuletzt den Versuch, die Brücke zur Theologie zu schlagen. Auch hier weiß er hilfreiche Akzente zu setzen. Natürlich kann man dies und das beanstanden, vermissen oder in Frage stellen - persönlich halte ich eine gründliche Auseinandersetzung dieses messianischen Störungsdenkens mit der sachlicheren, weniger katastrophenartigen Anthropologie, Ethik und Sprachphilosophie anglo-amerikanischen Stils für eine dringliche Aufgabe -, im Ganzen darf man aber sagen, dass mit der vorliegenden Studie nicht nur ein wesentlicher Beitrag zur Lévinas-Forschung geleistet worden ist, sondern auch zur Selbstreflexion der Philosophie und Theologie in den gegenwärtigen Zeitverhältnissen.