Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2003

Spalte:

312–315

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wenz, Gunther

Titel/Untertitel:

Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. V, 312 S. gr.8 = Tillich-Studien, 2. Kart. ¬ 30,90. ISBN 3-8258-4523-0.

Rezensent:

Martin Leiner

Als Band 2 der Tillich-Studien haben die Herausgeber W. Schüssler und E. Sturm eine Reihe von grundlegenden Aufsätzen von Wenz in Buchform zugänglich gemacht. Der im Titel erscheinende Name Tillichs sollte dabei nicht streng genommen werden. Der Band enthält nicht nur nicht alle Aufsätze von Wenz zu Tillich; fünf der zehn Aufsätze sind sogar nicht Tillich, sondern anderen Theologen gewidmet. Man hat somit einen Aufsatzband vor sich, in dem W. zentrale Aspekte seiner Arbeit wie die Geschichte der Versöhnungslehre und Hamartiologie, die reformatorische Theologie, Karl Barth und eben auch Paul Tillich vorstellt. Bezüge zur Literatur, insbesondere zu Th. Mann und G. Keller, machen die Lektüre zusätzlich interessant.

Der Band wird eröffnet durch den Aufsatz "Neuzeitliches Christentum als Religion der Individualität?" W. stimmt (unter Berufung auf Graf, Wagner, Rendtorff u. a.) der These zu, dass Individualität und Subjektivität das zentrale Thema des neuzeitlichen Christentums sei, um nach der Behandlung von Schleiermacher, Kant, Tieftrunk, Hegel und Barth zu schließen, dass "die wesentliche ... Aufgabe gegenwärtiger Theologie" darin bestehe, "menschliche Theorie und Praxis vor jener Überanstrengung zu bewahren, die eine Folge ihrer Selbstbegründungsversuche ist" (43 f.). "Die Theologie genügt dieser Aufgabe" nach W. nur dann, "wenn sie die Gabe menschlicher Identität und Freiheit, wie sie im und durch den Geist des in Jesus Christus offenbaren Gottes gegeben ist, so thematisiert, dass mit der Einsicht in die Sinnwidrigkeit und Sündigkeit aller unmittelbaren Selbstbestimmungs- und Selbstdurchsetzungsbestrebungen des Menschen zugleich solche kommunikativen Lebensgestalten eröffnet werden, in denen die Verschiedenen als Verschiedene in der Freiheit des Denkens und Handelns eins sein können" (44). Aus dieser Perspektive sind alle Studien des Bandes geschrieben, wobei sich in den folgenden Aufsätzen zeigt, dass W. diese Aufgabe der gegenwärtigen Theologie im Sinne der lutherischen Rechtfertigungslehre, einer Betonung der traditionellen trinitarischen und heilsgeschichtlichen Differenzierungen und einer Pannenberg nahe stehenden dialogischen Anthropologie zu bewältigen gedenkt.

Der zweite Text, "Eschatologie und Zeitdiagnostik", behandelt Tillichs Äußerungen zur religiösen Deutung der Gegenwart in der Zeit der Weimarer Republik. W. entfaltet den Kontext antidemokratischer Rhetorik von rechts (C. Schmitt, W. Stapel, Moeller van den Bruck, E. Jünger, O. Spengler, K. Jaspers) und links (G. Lukacs, den W. als Anlass zu Th. Manns Figur des Naphta im Zauberberg identifiziert, 95 f.). In diesem Kontext belegt W., dass "viele von jenen Topoi, wie sie für die gegen den Weimarer Staat gerichtete Gesellschafts- und Kulturkritik kennzeichnend sind, auch bei ihm begegnen" (75). Wie bei vielen anderen (nicht C. Schmitt, aber z. B. auch Bloch, Barth, Gogarten) ist Tillichs Gegenwartskritik eschatologisch bestimmt. Sie führt im Gegensatz zu Barth und Gogarten aber zu seiner Auffassung vom positiven und nicht bloß kritischen Paradox, das auf konkrete Gestaltung, auf positive Aufnahme des Geschichtlichen in das Ewige drängt (85-90). Die positive Seite des Paradoxes habe Tillich laut W. aber nur unvollkommen entwickelt, denn: in der Christologie habe Tillich Jesus von Nazareth nur in seiner Selbstpreisgabe als Christus anerkannt und zeitdiagnostisch spiele das positive Paradox in der Weimarer Zeit bei ihm keine wesentliche Rolle. Die kritische Seite des Paradoxes habe es Tillich aber ermöglicht, eine Kritik des totalitären Staates (als "dämonisch") zu entwickeln, die u. a. Grund genug dafür ist, Tillich - trotz terminologischer Nähe zu rechten und linken Radikalkritikern des Weimarer Staates - von diesen grundlegend abzusetzen (anders als K. Tanner und F. Walter).

Es folgen zwei auf dem Leuenberg gehaltene Vorträge zu Barth, G. Keller und Feuerbach. Der erste ist weitgehend eine Paraphrase von KD 17, bei der W. sich u. a. von Rohrmosers These absetzt, die Religionskritik Feuerbachs sei Basis und Voraussetzung der Offenbarungstheologie Barths (127-132). Der zweite Aufsatz "Graf Feuerbach und der Tod" geht von dem Sachverhalt aus, dass der Feuerbach-Anhänger Gottfried Keller mit seiner ganz auf die Schönheit des irdischen Lebens beschränkten Ästhetik positiv von Barth (in KD III/4, 666) rezipiert werden konnte. Das menschliche Leben in seiner Sterblichkeit ist für Barth ein Leben, das durch seine Beschränkung allererst seine Bestimmtheit erhält. Die einmalige Gelegenheit des Lebens gilt es deshalb, so Barth, als von Gott gegeben, ohne Furcht als etwas Positives zu ergreifen. W. kritisiert an dieser Argumentation, dass der Unterschied zwischen Endlichkeit und Sterblichkeit bei Barth verwischt werde (169) und die "Un-heimlichkeit göttlicher Abskondität" (169) ebenso wenig zur Sprache komme wie die Erinnerung an den status integrationis (178).

Der Aufsatz "Tillichs Kritik des Supranaturalismus" versucht, den Begriff des Supranaturalismus näher zu klären und schließt sich schließlich Kants Definition an, ein Supranaturalist sei, wer einen offenbarten und nicht bloß natürlich-rationalen Ursprung der Moral annehme. W. kommt von daher zu einer gewissen Rehabilitierung der Supranaturalisten und zu der schönen Pointe, dass "der strenge Superanaturalismuskritiker Tillich selbst ein - horribile dictu - Supranaturalist" (204) genannt werden kann. Tillichs eigene Definition des Supranaturalismus ist aber eine andere: "Vergegenständlichung des Göttlichen" (199). In seiner Habilitationsschrift zeigt Tillich brillant die logischen Probleme dieser nichtnatürlichen Gegenstände, ohne allerdings allzu kenntnisreich auf die historischen Supranaturalisten einzugehen (inzwischen konnten über W. hinausgehend G. Hummel und D. Lax feststellen, dass nahezu alle Zitate in Tillichs Habilitationsschrift fehlerhaft sind). Wie in Tillichs Begriff von Supranaturalismus Gründe für seine spätere Nähe zu Bultmann und seine Kritik am "Barthschen Supranaturalismus" (GW VII, 247-262, VIII, 214; XII, 33) begründet sind, führt W. nicht näher aus.

"Abstraktion und Absolutes, Vampir alles Lebensblutes, wo der wohlgeschulte Knecht sich erschleicht das Herrscherrecht. Gott, der Feind des Absoluten, läßt um uns die Liebe fluten, setzt in Lebensrelation Menschheit, Menschen und Nation ..." mit diesem "Span von der theologischen Hobelbank" (207) Martin Kählers beginnt der m. E. in der aktuellen Lage der Tillichforschung wichtigste Aufsatz. W. zeigt nicht nur, dass die Darstellung des Ehrenfried Kumpf in Th. Manns "Doktor Faustus" fast wortwörtlich aus einem Brief Tillichs über Kähler entnommen ist, sondern er weist auch nach, dass Tillich zeit seines Lebens von Kählers Theologie geprägt war. Mit Kählers Gedanken von der Rechtfertigung des Zweiflers als Schlüssel zur Theologie weist Tillich eine Begründung der Theologie in der glaubenden Sujektivität ab. Von hier aus erklärt sich eine bleibende Distanz zur liberalen und eine Nähe zur Dialektischen Theologie, wie W. mit einem Zitat Tillichs belegt. Von hier aus ergibt sich aber auch, dass Tillich die Identitätsphilosophie als Begründung der Theologie ausdrücklich ablehnt. "Tillich - soviel ist klar" schreibt W. - "stimmt in" Kähler "insofern ein, als auch er die Begründung des theologischen Fundaments christlichen Glaubens nicht mehr von identitätsphilosophischer Spekulation, nicht mehr vom Vollzug eines unmittelbar mit sich selbst beginnenden Denkens reiner Vernunftimmanenz erwartet" (225 mit einem wichtigen Zitat aus einem Brief an E. Hirsch).

Der Aufsatz "Vom Unwesen der Sünde" geht hamartiologische Positionen von der Neologie über Kant, J. Müller, Hegel, Schleiermacher, Schelling, Kierkegaard bis zu Barth durch, um abschließend eine auf "die Begründung menschlicher communio" (257) zielende "evangelische Liebesgerechtigkeit, die Jesus Christus in Person ist" (256) im Gegenüber zur Sündenerkenntnis, die nach W. nicht allein von der Christologie ausgehen kann, zu entfalten.

In dem Text "De Causa Peccati" behandelt W. im Anschluss an CA 19 das Problem, wie die Allwirksamkeit Gottes mit der Sünde zusammenzudenken sei. Wie Schleiermacher, Schelling und Kierkegaard hatte Tillich in seiner Promotionsdisputation die These vertreten: "Jede Deduktion der Sünde hebt den Begriff der Sünde auf" (278). W. überprüft im Folgenden, ob Tillich dieser (richtigen) These treu geblieben ist. Er kommt zu dem Schluss, dass Tillich sich, wenn er von einem Fall aus träumender Essentialität in verwirklichte Existenz spricht, einer Notwendigkeit der Sünde nähert (284).

Die beiden kurzen abschließenden Texte sind mehr persönlich gehaltene Aktualisierungen der reformatorischen Rechtfertigungslehre im Gespräch mit der Logotherapie V. Frankls und der Tillichschen Rede vom Mut zum Sein; sie runden den Band in gelungener Weise ab.

Fazit: Die - bewusst nicht aktualisierten - Aufsätze in diesem Band sind ein Dokument der überaus anregenden Diskussionen im München der 80er und 90er Jahre. Für die Tillichforschung sind die Aufsätze des Buches, das Dubletten innerhalb des Textes wie auch mit W.s Tillichbuch "Subjekt und Sein" vermeidet, unumgänglich und nach wie vor aktuell. Die neuere Welle übertrieben kritischer Tillichinterpretationen wäre uns bei einer intensiveren Lektüre von W. möglicherweise erspart geblieben (vgl. meine Rezension zu M. Korthaus in ThLZ).