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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

310–312

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mencke, Martin

Titel/Untertitel:

Erfahrung und Gewißheit des Glaubens. Das Gewißheitsproblem im theologischen Denken Martin Kählers.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. X, 297 S. gr.8 = Forum Systematik, 6. Kart. ¬ 35,30. ISBN 3-17-016427-9.

Rezensent:

Alf Christophersen

In seiner Tübinger systematisch-theologischen Dissertation aus dem Jahr 1998 untersucht Martin Mencke am Beispiel Martin Kählers streng werkbezogen den Zusammenhang von Erfahrung und Glaubensgewissheit. Ihren Ausgangspunkt finden seine Überlegungen in der Einsicht, dass das "Verhältnis des christlichen Glaubens", gerade des evangelischen, "zur Erfahrung ... alles andere als geklärt" sei. Gegenwärtig könne die Erfahrung als "Wirklichkeitskriterium schlechthin" (IX) angesehen werden. Daraus folge jedoch eine Bedrohung und Erschütterung der Glaubensgewissheit, da der Glaube sich von der Gewissheit nicht trennen lasse. Ausgehend von Kähler, dessen Arbeiten am Ende des 19. Jh.s einen bestimmten Resümeecharakter einnähmen, will M. eine gegenwartsrelevante Konkretion des fraglichen Verhältnisses entfalten.

Die Arbeit ist in drei Hauptteile gegliedert. Einer sachlichen und geschichtlichen Problemskizze sowie einer biographischen Übersicht zu Kähler unter der Überschrift "Horizont der Untersuchung" (1-38) folgt als das umfänglichste Kapitel "Kählers Theologie als Lösungsversuch" (39-222), in dem die Erfahrungsthematik anhand der einschlägigen Texte nachgezeichnet und systematisiert wird. Den Abschluss bildet der Teil "Glaube und Erfahrung" (223-268). Der Vf. lässt ihn nach der Nennung einiger Standpunkte theologischer Zeitgenossen in die Aufnahme von Gegenwartspositionen münden, anhand derer der Ertrag der Auseinandersetzung mit Kähler profiliert werden soll.

Der Vf. bemerkt, dass der Begriff "Erfahrung" in der gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Landschaft zwar eine Konjunktur zu verzeichnen hat, inhaltlich jedoch unterbestimmt ist. Dies gilt ebenfalls für den "Glauben". Aber auch im 19. Jh. lässt sich die durchgängige Präsenz der Erfahrungsthematik, wenn auch nicht immer explizit, aufweisen. In einer allgemeinen Problemanzeige bemüht sich der Vf., einige Facetten dieses, wie er festhält, auch momentan "oft genug an eine schillernde Leerstelle im Zusammenhang theologischer Argumentationen" (5) erinnernden Terminus aufzuzeigen. Diesem dient zunächst eine doch sehr kurz gehaltene Wiedergabe weniger philosophischer Positionen, die zu Kähler hinführen soll. Bewusst möchte sich der Vf. innerhalb seiner Untersuchung auf diesen einen Theologen beschränken, dessen Denken er für komplex genug hält. Im Mittelpunkt stehen dabei die Lehrkreise der "Wissenschaft der christlichen Lehre" in ihrer dritten Auflage von 1905. Ungedruckte Arbeiten Kählers sind für den Vf. ohne weiteren Wert. Bevor sich der Vf. jedoch ganz auf die Analyse des gedruckten Werkes einlässt, charakterisiert er im Rückgriff auf Kählers "Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert" (2. Aufl. 1989) Ausführungen seiner Lehrer und Mitstreiter. So finden R. Rothe, J. Müller, F. A. G. Tholuck, J. T. Beck, aber auch J. C. K. von Hofmann, F. H. R. von Frank und A. Ritschl Erwähnung. Allzu knapp und unspezifisch werden nun auch hier deren Positionen angerissen, so dass dieser Abschnitt ebenfalls nicht zu überzeugen vermag. Gleiches gilt für das sich lediglich an Kählers eigenen Ausführungen orientierende "Biogramm" (s. Theologe und Christ, 1926).

Weitaus gründlicher verfährt der Vf. im Hauptteil der Untersuchung. Zunehmend stört allerdings der hermetische Darstellungsstil, der zu einer schleppenden Lektüre beiträgt. Auch macht sich der Verzicht auf eine Verortung innerhalb anderer zeitgenössischer, aber auch wirkungsgeschichtlicher Entwürfe irritierend bemerkbar. Die Ausführungen Kählers werden zwar angemessen wiedergegeben, doch wäre es nötig gewesen, sie im unmittelbaren Diskurs kritisch zu verankern, um ihren eigentlichen Stellenwert zu kennzeichnen. Ansätze hierzu finden sich bei Kähler zur Genüge, so etwa im Hinblick auf seine Beurteilung des "Historismus", der "sich an der Fiktion historisch-wissenschaftlich neutraler Datenerhebung" (55) orientiere, mitnichten jedoch voraussetzungslos arbeite. Ein bloßer Hinweis darauf, dass E. Troeltsch die Begriffe "Analogie" und "Korrelation" aufnimmt, führt wenig weiter (s. 55, Anm. 107). Gleiches gilt für die Rede von Positivismus, Wert und Tatsache, die ohne eine nähere über Kähler hinausgehende Differenzierung blass bleiben. Der Vf. lässt seine Darstellung, hierin zu Recht den Vorgaben seines Protagonisten folgend, auf den Themenkreis Rechtfertigung und Versöhnung zulaufen. Dabei erkennt er bei Kähler einen doppelten Versöhnungsbegriff. "Versöhnung ist zum einen die geschichtliche Tat Gottes in Jesus Christus, kann dann aber auch für die Vollendung dieses Geschehens im Stand des Gerechtfertigten benutzt werden" (173). Das Versöhntsein ist schließlich der durch Rechtfertigung und Glaube erreichte Stand. Hier realisiert sich das neue Leben, das in der Rechtfertigung anhebt. Ein Übergang zur Ethik vollzieht sich mit Kähler dadurch, dass das Versöhntsein gegenüber dem Gerechtfertigtsein eine Steigerung darstellen muss. Diese kann nur in einer gemeinschaftsbezogenen Verwirklichung liegen. "Versöhnung im zweiten Sinn meint also die Wirklichkeit der Rechtfertigung beim Menschen, die zur Erfahrung kommt" (174). In der geschichtlichen Tat Gottes erfährt dabei die Versöhnung ihre Vermittlung, und es zeigt sich die "eigene sittliche Dimension" (177) der Rechtfertigung. Das Rechtfertigungsereignis lässt den sündigen Menschen erkennen, "daß Gottes Liebe im Geschehen der Versöhnung der Welt auch ihm selbst gilt" (201). Durch die Überwindung der Sünde kann der Mensch in "ein Verhältnis zu dem lebendigen Christus" treten. Der einzelne Gläubige nimmt die Begnadigung durch Gott wahr und "erfährt die Beziehung Gottes auf sich" (201). Auch diese Ausführungen hätten, wären sie in die seinerzeitige Diskussionslage eingebunden worden, eine erhebliche Vertiefung erfahren können. Der Vf. verweist auf A. Ritschl und H. Cremer (s. 173, Anm. 207; 174, Anm. 211), führt deren Ergebnisse aber nicht näher aus, obgleich eine Abgrenzung von ihren klassischen Entwürfen in Versöhnungslehre und Wörterbuch nahe liegt.

Der Vf. lässt seine Argumentation schlüssig auf den Glauben zulaufen; denn auf ihn und nicht auf die Erfahrung stützt sich die Rechtfertigung (s. 202). Bereits Gewusstes wird neu aufgefasst, da im Glauben Erfahrenes neu erschlossen wird. Tragende Bedeutung gewinnt für den Vf. hier die Formulierung E. Jüngels von der "Erfahrung mit der Erfahrung" (213). Diese Prägung seines Doktorvaters hätte für M. Anlass zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dessen Erfahrungsbegriff - gerade auch in "Gott als Geheimnis der Welt" - werden können. Dieser stellt er sich jedoch nicht, sondern wendet sich in seinem Schlusskapitel nach einem erneut kurzen, in sich unorganischen Blick auf "Lösungen" der Zeitgenossen Kählers W. Herrmann, I. A. Dorner, J. Köstlin und F. H. R. von Frank der gegenwärtigen Debatte zu. Sie nimmt ihren Anfang bei K. Barth und läuft ohne lange Verweildauer über P. Tillich, G. Ebeling, D. Lange, W. Mostert zu E. Herms und J. Fischer. Der Vf. betrachtet diesen Durchgang als bewusst unvollständige Skizze. "Es ließen sich auch andere Gesprächspartner mit Gewinn hier einbeziehen (z. B. Bonhoeffer?)" (246). Dieser Teil bleibt ebenfalls hinter dem Potential der benannten Entwürfe zurück, das keinesfalls ausgeschöpft wird, wie sich insbesondere an den lediglich vier Seiten über Kählers Schüler Tillich zeigt, bei dem der bloße Rückgriff auf die "Systematische Theologie" kaum ausreicht. W. Pannenberg ist durch einfache Fußnotenerwähnung wenig gedient (s. 254, Anm. 43f.). Was sollen Sätze besagen wie: "Und dem Verhältnis des Glaubens zu dem ihm Gegenüberliegenden wendet sich Herms nicht zu. Das ist bei Fischer anders" (261)? Am Ende eines kritischen Ganges durch die Monographie bleibt der Eindruck bestehen, dass Kähler vielleicht ganz Recht daran getan hat, den Erfahrungsbegriff nicht zu definieren, sondern in seiner Prozesshaftigkeit zu entfalten.