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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

301–304

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Elm, Veit

Titel/Untertitel:

1) Die Moderne und der Kirchenstaat. Aufklärung und römisch-katholische Staatlichkeit im Urteil der Geschichtsschreibung vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne.

2) Die Revolution im Kirchenstaat. Ein Literaturbericht über die jüngere Forschung zur Vorgeschichte und Geschichte der Repubblica Romana (1798-1799).

Verlag:

1) Berlin: Duncker & Humblot 2001. 317 S. gr.8 = Historische Forschungen, 72. Kart. ¬ 74,00. ISBN 3-428-10344-0.

2) Frankfurt/M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2002. 258 S. 8 = Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte, 13. Kart. ¬ 35,30. ISBN 3-631-38827-6.

Rezensent:

Klaus Fitschen

"In diesem Buch geht es um das Verhältnis der modernen Geschichtswissenschaft zur Religion" (5). An dem im Buchtitel "Die Moderne und der Kirchenstaat" ins Auge gefassten Gegenstand wird dieses Verhältnis dargestellt, und so ergibt sich, "daß die Bewertung der Zukunftsfähigkeit des Papsttums seit den Untergangsprognosen der aufklärerischen Geschichtswissenschaft fest in den politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Gegenwart verankert war" (243) und "daß die aus der Aufklärung hervorgegangene Geschichtsschreibung ihr Verhältnis zum Katholizismus kontinuierlich revidiert hat", wobei "die jeweils aktuellen Transformationen von Katholizismus und Moderne in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden" (243 f.). Kehrt man wieder an den Anfang der Darstellung zurück, ist der Ausgangspunkt demnach: "In dieser Arbeit wird die These vertreten, daß das Überdauern bestimmter vormoderner Denk- und Lebensformen unter den Bedingungen der Moderne signifikante Strömungen des modernen Geschichtsdenkens seit dessen Anfängen in der Aufklärung zur Revision der aufklärerischen Modernisierungstheorie veranlaßt hat" (15). Diese Leitthesen bilden die Eckpfeiler der hier vorliegenden, von Hagen Schulze betreuten Dissertation.

In einem Einleitungsteil (A: Modernisierungstheorie und Religion) stellt der Vf. dar, wie nach dem Abschied vom Historismus nun auch die Theorie einer fortschreitenden Modernisierung der Menschheit in der Geschichte in eine Krise geraten ist: Die Wissenschaft, die sich in der Postmoderne ihrer selbst nicht einmal mehr gewiss ist, hat die Religion nicht in die Vergangenheit verbannen können (15). Schon seit der Aufklärung aber richtete sich das Wissenschafts- und Fortschrittsbewusstsein auf das Papsttum und den Kirchenstaat, Institutionen also, die geradezu ein Gegenbild zur Moderne abgaben und die in den nachrevolutionären Umbrüchen des späten 18. Jh.s dann auch an ein Ende gekommen schienen. Im 19. Jh. aber formulierte der Katholizismus im Zeichen der Neokonfessionalisierung und des Ultramontanismus sein eigenes Modernisierungsprogramm, das sich in den politischen Kontexten als lebensfähig erwies und quer zur aufklärerischen Modernisierungstheorie stand, wobei diese ihrerseits das Feld zu behaupten suchte und im Herrschaftsanspruch des Katholizismus eine vormoderne Denk- und Lebensform sah. "Die Selbstbehauptung des Christentums stellte alle bisher entwickelten Modernisierungs- und Säkularisationstheorien vor die Aufgabe, die Relativierung der aufklärerischen Modernisierungstheorie und die Wandlungen des modernen Christentums theoretisch zu verarbeiten" (27).

Der zweite Teil (B: Moderne Geschichtsschreibung und moderne Politik: Kirchenstaat, Aufklärung und päpstliche Reformpolitik im Urteil der Geschichtsschreibung von der Aufklärung bis in die Gegenwart) geht diesem Prozess nach. Die Aufklärung erwartete mit ihrem Fortschrittsdenken einen Untergang von Papsttum und Kirchenstaat, und als sich dieser am Ende des 18. Jh.s tatsächlich vollzog, erschien das als Bestätigung dieser Einschätzungen und zudem als Ergebnis einer Modernisierungsverweigerung der "Zelanti" und Pius' VI. Der Despotie wurde in dieser Sichtweise konsequent durch den Einmarsch des fortschrittlichen Frankreichs ein Ende gemacht. Im Risorgimento wurden Papsttum und Kirchenstaat dann entweder als Garanten der Einheit Italiens oder in aufklärerischer Tradition als vormoderne Relikte angesehen. Liberale Katholiken betrachteten den Kirchenstaat gar als Keimzelle einer politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Erneuerung. Die Kombination von Vernunft, Fortschritt und Katholizismus galt somit als historisch verifizierbare Konzeption für die Zukunft Italiens und Europas. Mit dem zweiten vorläufigen Ende des Kirchenstaates 1870 war dieser für die Historiographie wiederum ein Faktor der Vergangenheit, der aber besondere wirtschaftsgeschichtliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Vf. zeigt, dass die Wiedererrichtung des Kirchenstaates 1929 auch im Zusammenhang mit einem Friedensangebot an das katholische Gesellschafts- und Wirtschaftsverständnis erfolgte und die Politik Mussolinis nun in eine Linie mit der reformfreudiger Päpste gestellt wurde. Oppositionelle Theoretiker wie Antonio Gramsci aber werteten das Weiterbestehen der feudalen Papstherrschaft im 19. Jh. als eine Vorbedingung des italienischen Faschismus. Wirtschafts- und politikgeschichtliche Fragen, die sich auf die Reformfähigkeit des Kirchenstaates und der Päpste (z. B. Benedikts XIV.) in der Zeit der Aufklärung richteten, blieben nach 1945 in Italien virulent: Positive oder negative Antworten auf diese Fragen konnten christlich-demokratische oder linke Politik stützen. Der Vf. stellt hier selbst die interessante Frage (die man allerdings eher für das Ende des 18. Jh.s und späterhin vor allem im Blick auf den europäischen katholischen Liberalismus stellen müsste), "ob eine schon am Anfang des 18. Jahrhunderts aus der Kirche selbst hervorgegangene christlich-demokratische Bewegung den das 19. und 20. Jahrhundert bestimmenden Gegensatz von Revolution und Gegenrevolution, Kirche, Liberalismus und Demokratie hätte vermeiden können" (194).

Der dritte Teil (C: Die narratologische Untersuchung der Geschichten von Papsttum und Moderne: Das Erzählmodell als Organisationsform von Wissenschaftsbegriff, Staats- und Kirchenverständnis) systematisiert die im zweiten Teil vorgestellen Interpretationsansätze. Es werden also epochenübergreifende Muster und Erzählmodelle für das Verhältnis von Katholizismus und Aufklärung festgestellt: Waren die Päpste und der Kirchenstaat fortschrittlich oder dekadent, waren die europäischen Staaten oder die katholische Kirche die Protagonisten der Modernisierung in Europa und Italien?

Der Schluss (D: Mythische Erzählmodelle in Politik und Geschichtsschreibung) weist zusammenfassend darauf hin, dass die Deutungsmuster des Verhältnisses von Katholizismus und Moderne im Wesentlichen konstant blieben (und insofern doch nur in Grenzen "kontinuierlich revidiert" wurden): "Das spricht dafür, daß sie nicht anders als die christlich-jüdischen Mythen im Modus der Tradition und nicht dem der kritischen Revision fortgeschrieben wurden" (248).

Der Vf. kann es sich und seinen Leserinnen und Lesern nicht immer leicht machen, und so bietet er auf der Grundlage der von ihm in reichem Maße herangezogenen Quellen eine teilweise recht komplexe und theoriegeladene Darstellung (was "christlich-jüdische Mythen" sind, bleibt allerdings unreflektiert). Die vielfältig dargebotenen wirtschafts- und politikgeschichtlichen Aspekte werfen ein neues Licht auf die "Römische Frage" - so wird man auch eine Reflexion auf die nicht nur in Deutschland zu findende Kulturkampfmotivik nicht unbedingt vermissen. Den Theologen lädt die Arbeit zu der Frage ein, ob und wie sich die "Erzählmodelle" im Blick auf die Rolle der christlichen Religion und der Kirchen in einem demokratischen und aufgeklärten Europa fortschreiben lassen.

In dem zweiten zu besprechenden Buch des gleichen Vf.s wird nicht nur dem Titel entsprechend ein Literaturbericht gegeben, sondern es werden Ansätze zu einer umfassenderen Darstellung sichtbar. Nach einer Einleitung (A) entwickelt der Vf. anhand der von ihm ausgewerteten Literatur Beobachtungen zur Verfassungsgeschichte (B), zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (C) und zur Geistes- und Mentalitätsgeschichte (D) in den Umbrüchen der aus Frankreich durch das Direktorium importierten und in Rom kopierten Revolution, die den Kirchenstaat für kurze Zeit zur Repubblica romana machen sollte. Dieses Projekt scheiterte allerdings aus diversen politischen und ökonomischen Gründen, da die Reformen die bisherigen Defizite auf diesen Gebieten nicht wirksam beheben konnten, nicht zuletzt scheiterte es aber, weil es in der Bevölkerung zu wenig Akzeptanz fand.

Über die Gründe der Resistenz gegenüber den revolutionären Reformen gibt der Teil D Auskunft. Der Bruch mit den politischen und wirtschaftlichen Strukturen des Kirchenstaates war radikal, ebenso radikal war der religiös motivierte militärische Widerstand der Bauern, die den französischen Truppen die Herrschaft streitig machten, so dass gar "eine Volksrevolution, wenn auch mit anderen Vorzeichen, stattgefunden hat" (134). "Der Eindruck, dass die neue revolutionäre Kultur als ein Fremdkörper über den Kirchenstaat hereinbrach und als solcher auch nach 1799 schnell wieder verdrängt wurde, täuscht nicht" (136). Die katholische Aufklärung hatte in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s im Kirchenstaat erheblich an Boden verloren, und das Leben war von einem kirchenstaatlich verordneten Barockkatholizismus geprägt. Einzig eine dünne Schicht von Intellektuellen konnte sich davon emanzipieren. Dementsprechend war eine wirkliche Trägerschicht fortschrittlicher Ideen nicht vorhanden.

Die Etablierung der Römischen Republik zog alsbald Konflikte auf religiöser Ebene nach sich, zumal man im Kirchenstaat durch die Maßnahmen gegenüber der Kirche in Frankreich vorgewarnt war und auch der Josephinismus im österreichischen Norditalien sozusagen vor der Haustür lag. Zwar sollte die Kirche keiner Zivilkonstitution des Klerus unterworfen werden, die ja in Frankreich auch längst nicht mehr in Geltung stand, doch waren staatskirchliche Maßnahmen geplant, die durchaus an den Josephinismus erinnern: Zu nennen sind Einschränkungen der Barockfrömmigkeit und Klosterreduktionen (187). Radikaler und ganz im Sinne der revolutionären Spätphase unter dem Direktorium war die Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit und die Etablierung eines republikanisch-patriotischen Ersatzkultus (189). Die Reaktion darauf war das Festhalten am alten Glauben und den Ausprägungen der Volksfrömmigkeit, das sich in einer Welle "sanfedistischer" Aufstände manifestierte. Strittig ist dabei die Deutung dieser Phänomene bzw. ihre Gewichtung im Blick auf die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren (214 f.).

Bei allen wichtigen und detaillierten Beobachtungen wirkt das Buch eher wie eine Vorstudie. Der Vf., von Hause aus ja kein Kirchenhistoriker, hat ein spannungsreiches und somit spannendes Stück Kirchengeschichte in einen größeren Horizont eingeordnet, in dem Spätjansenisten, Josephiner, Jakobiner und wundergläubige Bauern für eine kurze Zeit auf der Bühne erscheinen. Lässt sich "histoire totale" (Vorwort) aber nur noch als totale Auswertung der Forschungsliteratur schreiben (vgl. 19)? Es ist zu wünschen, dass für den deutschsprachigen Raum aus dieser Vorarbeit eine größere, eigenständige Darstellung erwächst, die die politik-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtliche Dimension gerade im Sinne einer "histoire totale" miteinander verknüpft.