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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

298–301

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Dirksen, Hans-Hermann

Titel/Untertitel:

"Keine Gnade den Feinden unserer Republik". Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945-1990.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2001. 939 S. m. zahlr. Abbildungen. gr.8 = Zeitgeschichtliche Forschungen, 10. Geb. ¬ 34, 00. ISBN 3-428-10217-7.

Rezensent:

Andreas Fincke

Seit dem Ende der DDR und der Öffnung der Archive sind einige Untersuchungen bzw. Aufsatzsammlungen zur Geschichte der Verfolgung der Zeugen Jehovas in der DDR erschienen. Die nunmehr vorliegende Arbeit von Hans-Hermann Dirksen ist jedoch die bei weitem umfang- und faktenreichste Analyse. Zweifellos wird sie auf absehbare Zeit Maßstäbe setzen. Es ist dem Vf. gelungen, eine enorme Fülle von Material in den Archiven des früheren DDR-Staatsapparates bzw. aus der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes zu sichten und in eine sinnvolle innere Logik zu bringen. Denn eine der großen Schwierigkeiten besteht darin, dass die politischen Ereignisse und Maßnahmen (besonders in den ersten Jahren nach 1945) keineswegs einer klaren Linie folgten und somit widersprüchlich und verwirrend sind.

Eine weitere Stärke der Arbeit besteht darin, dass der Vf. mit mehr als 100 in der DDR verurteilten Zeugen Jehovas sprechen konnte und deren Erinnerungen in die Untersuchung eingeflossen sind. Diesen Umstand muss man besonders würdigen, weil viele der Zeitzeugen inzwischen in einem hohen Alter sind und befürchtet werden muss, dass ihr Wissen verloren geht.

Dass es dem Vf. möglich war, solche Interviews zu führen, verdankt sich einem einfachen, aber für die Entstehung der Arbeit wichtigen Umstand: Der Vf. ist selbst Zeuge Jehovas und seine Bemühungen wurden von der Wachtturmgesellschaft (WTG) energisch unterstützt. So stand ihm das Geschichtsarchiv der WTG in Selters/Ts. offen, zahlreiches Bildmaterial stammt aus dieser Quelle und die vielen Zeitzeugen hätten kaum mit dem jungen Wissenschaftler zusammengearbeitet, wenn die Leitung der Zeugen Jehovas dieses Projekt nicht unterstützt hätte. Das sah vor wenigen Jahren noch völlig anders aus: Anfang der 90er Jahre erfuhr Detlef Garbe, der Verfasser einer wichtigen Studie über die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, keinerlei Unterstützung durch die WTG. Inzwischen hat die Leitung der Zeugen Jehovas erkannt, dass sich die Erinnerung an die Verfolgung der Glaubensgeschwister in den beiden deutschen Diktaturen auch nutzen lässt, um das Ansehen der Organisation in der Öffentlichkeit aufzubessern. Der Vf. ist sich dieser Frage durchaus bewusst, auch wenn er sie nicht reflektiert. So schreibt er bereits im Vorwort: "Aufgrund ihrer religiösen Einstellung machten Jehovas Zeugen nach 1945 nicht viel Aufhebens um ihre unmenschliche Verfolgung unter dem Nationalsozialismus. ... [Es lag] den Überlebenden des Holocausts fern, ihre Taten zu verherrlichen oder Menschen als Märtyrer zu feiern. Sie wollten diese Tatsache in keiner Weise politisch nutzen oder dadurch Aufmerksamkeit auf sich oder ihr Predigtwerk lenken." (7) Sicher sind die Alternativen etwas überzeichnet, denn man kann durchaus die Erinnerung an das Leid wach halten, ohne Menschen zu verherrlichen oder als Märtyrer zu stilisieren, aber in der Sache hat die WTG ihre Position etwa 1993/94 (vgl. 8) klar korrigiert. Insofern ist diese Publikation einerseits eine wissenschaftliche Arbeit, mit der der Vf. an der Juristischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald promoviert wurde, andererseits aber auch der Versuch einer kleinen Religionsgemeinschaft, eine gute Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Das merkt man der Publikation stellenweise deutlich an, so z. B. auf den Seiten 52 ff., wo der Vf. eine (gemessen am Zweck der Arbeit viel zu ausführliche) Einführung in die Geschichte und Theologie der Zeugen Jehovas gibt. Hier verliert der Autor deutlich die Distanz zum Thema und präsentiert Sätze wie: "Seit ihrem Bestehen äußern sie (d. h. Jehovas Zeugen) Kritik an den christlichen Religionen, vor allem an den Großkirchen, deren Vertreter ihrer Ansicht nach die Wahrheiten der Bibel verdrehen oder verwässern." (72) Es ist bedauerlich, dass der Vf. diesen Satz nicht mit Blick auf das eigene Thema reflektiert hat: Schließlich drängt sich die Frage auf, warum der atheistische SED-Staat, der ja seinerseits ebenfalls die großen Kirchen massiv kritisiert und bekämpft hat, nicht den Versuch unternahm, die Zeugen Jehovas zu instrumentalisieren.

Ausdruck einer einseitigen Geschichtswahrnehmung des Vf.s ist auch, dass er völlig ignoriert, dass der Rat der Evangelischen Kirche im Sommer 1951 seine Sorge über die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der DDR geäußert hat. Das mag wenig bewirkt haben, gehört aber zur Geschichte der Zeugen Jehovas in der DDR hinzu.

Die vorliegende Arbeit präsentiert eine Fülle von Fakten, die bisher nicht bekannt waren. So schreibt D., dass von den ca. 20.000 Zeugen Jehovas, die in der DDR gelebt haben dürften, mehr als 6000 verhaftet wurden. Über die Zahl der Verurteilungen macht D. unterschiedliche Angaben. Auf S. 7 schreibt er, dass mehr als 5000 Zeugen Jehovas zu langjährigen, teilweise lebenslänglichen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Auf S. 30 liest man, dass zwischen 1950 und 1966 (als es den letzten großen Prozess gegen Jehovas Zeugen gab) ca. 2300 Zeugen zu Haftstrafen verurteilt wurden. Hinzu kommen noch etwa 3000 junge Männer, die wegen der Verweigerung des Wehrdienstes verurteilt wurden. (7) Unterschiedliche Zahlen nennt D. auch bezüglich der Zeugen Jehovas, die bereits vor 1945 von der nationalsozialistischen Justiz in Zuchthäusern oder KZ interniert waren und in der DDR erneut zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Auf S. 25 spricht er von "annähernd 270", S. 879 nennt er "ungefähr 300" (vgl. auch 849).

Dem Autor sind 56 Fälle bekannt, in denen Zeugen Jehovas in der Haft bzw. unmittelbar danach an deren Folgen verstorben sind. Unklar und vermutlich nie mehr zu ermitteln ist die Zahl derer, die in der Haft auf Grund unmenschlicher Haftbedingungen oder direkter Übergriffe zu Tode kamen. D. weist darauf hin, dass in der Justizvollzugsanstalt Bützow (Mecklenburg-Vorpommern) die meisten Todesfälle zu beklagen waren (879). Jenseits dieser nackten Zahlen ist es wichtig und zu begrüßen, dass der Vf. die Opfer aus der Vergessenheit holt und ihnen Namen und Geschichte gibt. Hierin liegt die Stärke der Arbeit.

Strittig bleibt in meinen Augen die Deutung der Ereignisse. D. bietet auf S. 855 ff. unter der Überschrift "Warum wurden Jehovas Zeugen in der DDR verfolgt?" und "Wie ist das Verhalten der Zeugen Jehovas in der DDR zu bewerten?" auffällig dürftige Erklärungen an: Die "insgesamt christlich neutrale Haltung verbunden mit politischer Abstinenz", die religiöse Verkündigung von einem Königreich, dem Gottes Gericht vorausgeht, die Botschaft davon, dass kein irdisches System dauerhaft Bestand hat, und er verweist auf die Resonanz, die Jehovas Zeugen angeblich "bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie bei Frauen" und bei einigen SED-Funktionären gefunden hätten. Das sind Kriterien, die so oder ähnlich auch auf zahlreiche andere Religionsgemeinschaften zutreffen würden und die nicht ausreichen, um die irrationale und politisch völlig unsinnige Verfolgung einer Gemeinschaft zu erklären, der von 17 Millionen Ostdeutschen lediglich 20.000, also jeder 850te DDR-Bürger angehörte.

Auch in der phrasenhaften Beschreibung der Position der Zeugen Jehovas spürt man die Befangenheit des Vf.s, indem er beispielsweise schreibt, dass die Zeugen Jehovas "bezüglich ihrer biblisch begründeten Ansichten und Verhaltensweisen keine Kompromisse machten" (857). Das klingt so, als gäbe es nur die Wahl zwischen (faulen) Kompromissen und (biblischer) Gradlinigkeit. Viele Zeugen Jehovas unterschätzen, dass die Ideologie der WTG mit ihrem Totalanspruch auf den Menschen zwangsläufig mit dem Totalanspruch der SED-Ideologie kollidieren musste. Insofern hätte die WTG alles tun müssen, um ihre Anhänger in der SBZ/DDR zu schützen. Stattdessen hat man noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen, indem die WTG beispielsweise am 3. August 1949 in der Westberliner Waldbühne eine Resolution verabschieden ließ, in der den SBZ-Behörden "politische und religiöse Hetze" in der Art des "Stürmers" vorgeworfen wurde. (196) Das war zwar faktisch richtig, aber politisch unklug. Und "unpolitisch", das reklamiert die WTG ja immer für sich, war eine solche Resolution im geteilten Berlin gewiss nicht.

Schließlich ist noch ein Desiderat zu benennen: Man hätte sich gewünscht, dass der Vf. auch offen legt, was aus den Stasi-Informanten in den Reihen der Zeugen Jehovas nach 1990 geworden ist. In der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes finden sich zu diesem Thema interessante Hinweise. Gab es eine Überprüfung der Zeugen-Jehovas-Funktionäre auf Stasi-Mitarbeit? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Auch das hätte zum Thema gehört.