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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

293–296

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmeller, Thomas

Titel/Untertitel:

Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit. Mit einem Beitrag von Ch. Cebulj zur johanneischen Schule.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2001. XI, 396 S. gr.8 = Herders Biblische Studien, 30. Geb. ¬ 55,00. ISBN 3-451-27621-6.

Rezensent:

Theo K. Heckel

Manchen inhaltlichen Widerspruch in neutestamentlichen Schriften, der noch vor Jahren literarkritische Operationen hervorrief, wollen neuere Ausleger durch Schulhypothesen lösen. Aus der älteren Exegese übernommen und bis heute aktuell sind die Vermutungen über eine johanneische und eine paulinische Schule. Die Annahmen stützen sich weitgehend auf Analogieschlüsse und Vermutungen.

Schmeller und sein Schüler Cebulj (C.) haben nun monographisch einen Überblick zu den Thesen vorgelegt. Der durch S. vorangestellte Forschungsüberblick strebt keine Vollständigkeit an und spitzt die Fragestellung schnell zu auf die Schule des Paulus und des Johannes, etwa eine Schulthese zum Mt lehnt S. ebenso ab (6) wie eine solche zum Hebr oder 1/2Petr (31). Weitere vermutete Schulen aus dem Umfeld des NT nennt S. nicht, etwa zum Barnabasbrief (z. B.: K. Wengst: Tradition und Theologie des Barnabasbriefes, AKG 42, 1971).

Die knappen Referate zu Schulen im Judentum beschränken sich auf die Hinweise für Schulen aus der Zeit vor 70 n. Chr. (33-45), wobei S. Ergebnisse der Sekundärliteratur zusammenfasst. In der patristischen Literatur genannte frühe christliche Schulen wie die des Justin in Rom (MartJust 3) übergeht S. Sein eigentliches Thema, zu dem er dann auch breitere Ausführungen bietet, sind die hellenistischen Philosophenschulen.

S. stellt uns die Pythagoreer, die Akademie und den Mittelplatonismus, den Peripatos, die Schule Epikurs, die Stoa und in einem Anhang den Kynismus vor (50-61). Auch hier schöpft er vor allem aus wenigen Überblickswerken. In einem zweiten Schritt lässt S. einen fiktiven Studenten durch die verschiedenen Schulen wandern, um hinter deren Eigenheiten das Typische einer Philosophenschule zu erheben (48.63-92). Die Darstellung ist eingängig gehalten, schwierigere Detailfragen und die dazugehörige Literatur finden sich nur selektiv in den Anmerkungen. Etwa zum Mittelplatonismus verweist S. auf Dörrie und nennt als einzige Quelle Plutarch. Namen wie Eudoros v. Alexandrien oder Albinos/Alcinoos sucht man vergebens. Auch Philons Verhältnis zum Mittelplatonismus behandelt S. nicht (vgl. 43 f.). So bleiben die faktischen Verknüpfungen zwischen den griechischen Philosophenschulen und der Platonrezeption im Judentum des ersten Jahrhunderts dünn belegt.

Aus seiner Darstellung gewinnt S. ein "Raster philosophischer Schulen" (91 f.), mit dem er das Phänomen "Schule" definiert. Bei den Beobachtungen unterscheidet S. nicht zwischen wesentlichen Merkmalen einer Schule und beobachteten faktischen Gegebenheiten der genannten Schulen. So erschwert er eine überzeugende Übertragung der Verhältnisse in den frühjüdisch-christlichen Raum. Etwa die soziale Privilegierung beobachtet S. bei den philosophischen Schulen, doch ist dies wesentlich? Kann dieses Moment bei christlichen Schulen nicht ebenso dahinfallen wie bei Epiktet, den S. als Ausnahme nennt (66)? Für eine überzeugende Anwendung der hellenistischen Schulen auf frühjüdisch-christliche Gegebenheiten wäre ein Blick auf die Schulen des rabbinischen Judentums und der frühen Christenheit bedeutsam gewesen, weil diese späteren Schulen zeigen, welche Momente einer hellenistischen Schule sich unter den inhaltlich geänderten Verhältnissen durchgehalten haben.

Das weitere Buch wendet sich den zwei großen Schulen zu, die hinter den paulinischen und den johanneischen Schriften vermutet werden. In zwei Runden sammelt S. zunächst, welche Merkmale seines Rasters für Philosophenschulen das Entstehen des Corpus Paulinum erklären. Dabei arbeitet S. überzeugend heraus, dass von einer Paulusschule zu Lebzeiten des Apostels nur mit großen Vorbehalten zu sprechen ist (93-182). S. widerlegt vor allem Thesen Conzelmanns und seiner Schülerin Ludwig (vgl. 167-169), übergeht aber die neueren Thesen D. Trobischs, der die Paulusbriefsammlung auf eine Autorenrezension des Apostels selbst zurückführen will.

In einem zweiten Schritt wendet sich S. den pseudepigraphen Paulusbriefen des Neuen Testaments zu (183-253). Für Kol und mit starken Einschränkungen für Eph findet S. genügend Übereinstimmungen mit seinem Raster, um diese Werke einer Schule zuzuordnen (221). Bei den Past will er schließlich nicht mehr von einem Schulzusammenhang reden (247; modifiziert 348), letztlich aus inhaltlich theologischen Gründen (247). Etwa die "grundlegende Bedeutung der göttlichen Gnade" sei "ein entscheidender Unterschied zur philosophisch-didaktischen Konzeption" (247). Bei der Übertragung der Schulform aus den Philosophenschulen auf christliche Lehre sollten inhaltliche Veränderungen nicht zur Ausgrenzung führen. Dass Analogien nur mit inhaltlichen Unterschieden möglich sind, versteht sich von selbst.

Den 2Thess zählt S. nicht zu einer Paulusschule, vor allem weil es sich bei diesem Brief nicht um durchschaubare Pseudepigraphie handle (252). Tatsächlich erwägt S. für Kol (210), Eph (211) und die Past (224; 227-229; 246; 347), dass diese Briefe als Pseudonym erkennbar sein wollten. Die dazu angeführten Vermutungen (vor allem 227-229) können kaum überzeugen. M. E. verbinden Eph und Past etwa Kol und Protopaulinen als ihre Quellen, weil sie denselben Verfasser hinter den Schreiben vermuten; hätte der Verfasser des Eph und hätten gar seine Adressaten von der Pseudonymität des Kol gewusst (dies erwägt S. für die Gebildeten unter den Adressaten 211; vgl. 347), wäre diese Zusammenstellung wenig pietätvoll mit dem Schulgründer umgegangen. Nachdem die Authentizität für Kol, Eph, Past nicht mehr wirklich zu diskutieren ist, auch die Sekretärshypothesen weitgehend aufgegeben wurden, zeichnet sich hier ein neuer Versuch ab, die formale Aufrichtigkeit der Paulusschüler zu retten.

Innerhalb des Buches hat C. den Abschnitt zur joh Schule bearbeitet (254-342.349 f.), der sich mit dem JohEv und 1-3Joh befasst. Das Verhältnis der Offb zu den übrigen joh Schriften hatte bereits S. ausgeblendet (10 f.), C. folgt ihm (256 Anm. 9).

Auch C. geht von dem durch S. vorgestellten Raster aus, um nach einem Schulhintergrund zu fragen. Dabei nennt C. in einer Anmerkung einige der zahlreichen Vertreter einer joh Schule (254 Anm. 5, fälschlich auch Schmithals, der eine joh Schule ablehnt). C. diskutiert dann vier Bereiche, die gerne zu einer Schulthese herangezogen werden: 1) die Wir-Stellen der joh Schriften (256-277), Gruppentermini wie "Freunde", "Brüder" etc. (277-298), den Lieblingsjünger als Lehrer (298-320) und einen womöglich schulischen Schriftgebrauch in den joh Schriften (321-340). Keiner der vier Bereiche lege einen institutionalisierten Schulbetrieb nahe (340; 349).

Die Ausführungen zu den Wir-Stellen sind m. E. widersprüchlich: Zum einen erlauben sie, innerhalb der joh Gemeinde eine Gruppe auszugrenzen (277), später heißt es dann, in der Wir- Gruppe artikuliere sich in der Regel die joh Gemeinde in ihrer Gesamtheit (340). Den etwa für Schnelles Schulthese wesentlichen Ausgangspunkt der einheitlichen Gruppensprache (Soziolekt) missversteht C., wenn er feststellt, "daß sich in den Wir-Formen nicht der joh Soziolekt ... artikuliert" (341, vgl. 257).

Nach C. werde nicht dem Lieblingsjünger, sondern nur dem Parakleten die Rolle eines Interpreten Jesu zugeschrieben, und daher scheide der Lieblingsjünger als Schulhaupt aus (342). Dass 21,24 den Lieblingsjünger als den Verfasser des JohEv ausweist und ihn als wahren Zeugen versteht, will C. zwar als Authentizitätshinweis (313), nicht aber als Hinweis auf seine Auslegungskompetenz verstehen (314 f.; 342). Hier konstruiert C. eine wenig überzeugende Alternative.

Die frühe Nachgeschichte der joh Literatur untersucht C. nicht, er befasst sich auch kaum mit den frühen patristischen Zeugnissen, die eine Gruppe von Vertrauten um den Evangelisten kennen (vgl. 272; 299).

Recht zahlreiche Fehler sind im Druck stehen geblieben, von denen sich die im letzten Drittel gehäuften Akzentfehler noch recht leicht korrigieren lassen, gelegentliche sprachliche Härten stören schon stärker ("Im Neuen Testament ist dieser Wir-Stil ist kein joh Spezifikum"; 256), Abschreibfehler (aus Canon Muratori Z. 10 f. macht C. 272 Anm. 80 mit Hengel "Canon Muratori 2,10 f."), Dopplungen (72 Anm. 168/79; 283 Anm. 133/285 Anm. 140; 331 Anm. 335/332 Anm. 339) und Falschangaben bei den Kurztiteln erschweren die Nachprüfbarkeit: Statt: "Roloff, Gemeinschaft", 255; 280, lies: "Rusam, Gemeinschaft"; es fehlen die Lit.-Angaben zu Kurztiteln (59 Anm. 86 [der Art. findet sich im AncBD 6, 210-214]; 299 Anm. 205: Schürer, Stand; 301 Anm. 212: Tilborg, Theology; Fehler in der Lit.-Liste z. B. bei Roloff; Ruckstuhl; Schneemelcher (372 f.).

Das Buch zeigt, wie schwierig es ist, die Verhältnisse griechischer Philosophenschulen bei frühchristlichen Schulen wiederzufinden. Die soziologisch ausgerichtete Fragestellung des Buches erreicht nur in Ansätzen die übliche Ausgangsbasis von Schulthesen, nämlich die theologisch-terminologische Verwandtschaft bestimmter neutestamentlicher Schriften. Diese theologische Verwandtschaft bleibt erklärungsbedürftig. Sie führte und wird weiterhin zu Schulthesen führen, auch wenn man nach S.s und C.s Beitrag mit größerer Vorsicht auf die vermeintliche Analogie von Philosophenschulen verweisen wird.