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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

290–293

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sasse, Markus

Titel/Untertitel:

Der Menschensohn im Evangelium nach Johannes.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2000. VIII, 336 S. m. Tab. 8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 35. Kart. ¬ 43,00. ISBN 3-7720-2827-6.

Rezensent:

Hans-Christian Kammler

Den Menschensohn-Worten kommt innerhalb der johanneischen Christologie zweifellos ein nicht unerhebliches Gewicht zu. Hinsichtlich ihrer Interpretation sind insbesondere die folgenden Fragen strittig: In welchem Verhältnis stehen die johanneischen Menschensohn-Worte zu denen der synoptischen Tradition? Knüpft der vierte Evangelist bei diesen Worten an bestimmte Texte und Vorstellungen der frühjüdischen Apokalyptik (Dan 7; äthHen 37-71; 4Esra 13) an? Lässt sich im Johannesevangelium eine selbständige Menschensohn-Christologie wahrnehmen, oder sind die johanneischen Menschensohn-Worte nur ein Moment innerhalb einer umfassenderen christologischen Konzeption? Diese Fragen sucht S. in seiner Arbeit, einer Heidelberger Dissertation, zu klären. Die Arbeit wird durch einen knapp gehaltenen "Überblick zum Stand der Forschung" (2-17) und einige wenige Bemerkungen zur eigenen Vorgehensweise (18 f.) eingeleitet. Im anschließenden ersten Hauptteil trägt S. Erwägungen zum theologischen und historischen Standort des Johannesevangeliums vor (20-70). Der sehr viel umfangreichere zweite Hauptteil bietet sodann die Untersuchung der einzelnen Menschensohn-Worte (71-247). Überlegungen zum "Menschensohn im Rahmen der johanneischen Christologie" schließen die Darlegungen ab (248-275).

Innerhalb des forschungsgeschichtlichen Überblicks ist die Darstellung und Würdigung der einzelnen Positionen nicht differenziert genug ausgefallen. So hätte etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die Sicht von M. Theobald eine sehr viel detailliertere Diskussion verdient. Zu kritischen Rückfragen gibt auch der dem historischen und situativen Kontext des Johannesevangeliums gewidmete Teil der Arbeit Anlass, vermag S. doch keineswegs einsichtig zu machen, weshalb es einer derart ausführlichen Rekonstruktion der Abfassungs- und Gemeindeverhältnisse bedarf, um den Sinn und Gehalt der johanneischen Menschensohn-Worte zu bestimmen. Mit dem zutreffenden Urteil, dass sich im Johannesevangelium die nachösterliche Auseinandersetzung zwischen der johanneischen Gemeinde und dem pharisäisch geprägten Judentum widerspiegelt, verbindet S. die These, dass dieser Konflikt als "eine innerjüdische Auseinandersetzung" zu begreifen sei (43 f.), bei der die johanneische Gemeinde den Anspruch erhoben habe, im Gegensatz zur Synagoge das "wahre, gottwohlgefällige" bzw. "messianisch erfüllte" Judentum zu sein (44 f.). Diese These ist schon deshalb unhaltbar, weil die johanneische Gemeinde zur Zeit der Abfassung des vierten Evangeliums der Synagoge bereits als eine eigenständige religiöse Größe gegenübersteht, deren Konstituens einzig der Glaube an Jesus Christus, nicht aber der Gehorsam gegenüber der Tora ist. Die innere Distanz zur jüdischen Religion lässt sich exemplarisch in der für das Johannesevangelium signifikanten Rede von "den Juden" wie auch in der Rede von "eurem Gesetz" (8,17; 10,34; vgl. 15,25) greifen.

Die einzelnen Abschnitte des exegetischen Hauptteils sind recht ungleichmäßig proportioniert. Manchen Texten werden sehr lange Ausführungen gewidmet (zu 3,13: über 70 Seiten; zu 6,25-59: fast 50 Seiten), anderen wird nur eine äußerst knappe Darlegung zuteil (zu 1,51 und 9,35-41: je 6 Seiten), wobei die unterschiedliche Länge keineswegs dem jeweiligen sachlichen Gewicht des auszulegenden Textes entspricht. Dem korrespondiert das methodisch sehr uneinheitliche Verfahren, dass nur bei manchen Texten der Gesamtkontext im Einzelnen analysiert und bedacht wird. Man vermisst darüber hinaus die intensive philologische Arbeit am griechischen Text; die Textebene wird oftmals zu schnell zu Gunsten von traditionsgeschichtlichen Erwägungen oder hypothetisch bleibenden Vermutungen zum situativen Kontext und zur Textpragmatik verlassen. Wo S. eine von der Mehrheit der Ausleger abweichende Meinung vertritt, fehlt nicht selten eine argumentative, in kritischer Auseinandersetzung mit anderslautenden Positionen begründete Entfaltung der eigenen Sicht (s. exemplarisch innerhalb der Auslegung von 6,25-59 die Seiten: 183.202 ff.225 ff.). Was die von S. gebotenen Exegesen der einschlägigen johanneischen Texte anlangt, so beschränke ich mich darauf, zwei für die Arbeit als Ganze kennzeichnende theologische Sachprobleme zu benennen und die Problematik des Gesamtergebnisses anzusprechen.

Das erste Sachproblem betrifft die Christologie. Da S. die im Johannesevangelium reflektierte Kontroverse als eine "innerjüdische" begreift und darauf insistiert, dass die johanneische Gemeinde "ihre jüdische Identität" nicht aufgegeben hat (43), muss er - durchaus konsequent - erklären, dass die johanneische Christologie "immer im Rahmen des jüdisch Möglichen bleibt" (ebd.; vgl. 247). Dem entspricht dann das Urteil, dass der Evangelist den von synagogaler Seite erhobenen Ditheismusvorwurf mit einem "streng monotheistischen Gottesbegriff" zurückweist (253) und ihm "seine spezielle christologische Konzeption" entgegenhält, derzufolge "Zugang zu Gott nur durch Jesus" möglich, "Jesus ... aber nur Zugang zu Gott" ist (263). "Die johanneische Christologie beschreibt die Funktion Jesu - nicht die Person Jesu ... In Jesus wurde Gott erfahrbar - das ist die wesentliche Aussage. Jesus ist ... nur Gesandter Gottes, nur der Sohn, nur Menschensohn, nur guter Hirte, nur der Weg ... Die Person Jesu ist keine selbständige Größe im Johannesevangelium. Es geht also um die Zugehörigkeit zu Gott. Jesus ist zwar der einzig mögliche Orientierungspunkt, aber eben doch nur der Orientierungspunkt" (266). Dass die zitierten Sätze, die sich unschwer vermehren ließen und die Ausdruck einer massiv subordinatianischen Interpretation der johanneischen Christologie sind, dem Christuszeugnis des Johannesevangeliums nicht gerecht werden, bedarf keines ausführlichen Nachweises. Wenn S. etwa zu 9,38 bemerkt, dass hier "eine Verehrung des Menschensohnes" beschrieben wird, "die nicht ihm als solchen [sic!] gilt" (235), dann hat er den klaren Wortlaut des Textes gegen sich. Am Textbefund scheitern auch die These, es gehe beim Glauben an Christus "nicht um den Kontakt mit ihm selbst" (251), sowie die Behauptung, in Jesus begegne der Mensch "einem Stück Gott" (171).

Das zweite Grundproblem betrifft die Soteriologie. S. bestimmt den Glauben an Jesus Christus dezidiert als einen Akt, der vom Menschen nicht nur gefordert, sondern diesem auch sehr wohl möglich ist (s. 121 ff.138 f.162.200 f.233.239.246). So schreibt er z. B. zu 3,15: "Ein positives Verhalten zum Menschensohn ermöglicht Anteilhabe an ihm ... Der Glaubende klinkt sich gewissermaßen in das Geschick des Menschensohnes ein" (139). An anderer Stelle heißt es ganz entsprechend: Die Gemeinde "erhält ... die Chance der Partizipation an ihm durch ihr richtiges Verhalten zu seinem Geschick" (246). Angesichts solcher Äußerungen erhebt sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit den johanneischen Prädestinationsaussagen, die in der gesamten Arbeit kaum zufällig keine Beachtung finden. Überaus problematisch ist auch die Auskunft, dass nach 3,10-12 der Glaube der Wiedergeburt voraufgehe: "Dies ist denn auch der wirkliche Vorwurf, der Nikodemus zu machen ist ... Er ist aufgrund der semeia Jesu ... und aufgrund der Schrift ... nicht zum Glauben an Jesus gekommen ... Dieser Glaube hätte ihn zu Jesus bzw. zur Gemeinde führen müssen. Die dort sakramental in der Taufe vermittelte Neugeburt hätte ihn dann zur Erkenntnis geführt" (121 f.; vgl. auch 233). Das Zum-Glauben-Kommen und das Von-Neuem-Geboren-Werden sind nach Joh 3 stricto sensu identisch. Zudem gibt es der johanneischen Theologie zufolge gerade keine Differenz zwischen Glauben und Erkennen, das Erkennen gehört vielmehr als ein notwendiges Strukturmoment zum Glauben unmittelbar hinzu (s. nur 6,69). Das von S. postulierte Stufenmodell ist mit dem johanneischen Dualismus unvereinbar, der einzig den absoluten Gegensatz von Glauben und Unglauben kennt.

Im Blick auf das Gesamtergebnis der Arbeit ist zunächst zu bemerken, dass m. E. die Bezüge der johanneischen Menschensohn-Worte zu Texten der frühjüdischen Apokalyptik überschätzt (241 f.; vgl. 140-149), die inneren Berührungen mit den synoptischen Menschensohn-Worten hingegen unterschätzt werden (243-245). In der Sache gelangt S. zu der für seine Sicht zentralen These, dass sich im Hinblick auf das Johannesevangelium "von einer Menschensohnchristologie im Sinne einer von anderen unterscheidbaren christologischen Konzeption sprechen" lässt (248). Auf Grund dieser These wird dann behauptet: "Die Menschensohnchristologie hat mit der Sohnchristologie nur wenige Berührungspunkte ... Während sich der Sohn durch sein besonderes Verhältnis zum Vater konstituiert, ist der Menschensohn eine absolute Figur. Seine Funktionen sind ganz im Gegensatz zum Sohn nicht legitimationsbedürftig. Was die Gerichtsfunktion angeht, wird der Sohn durch den Menschensohn legitimiert ... Der Menschensohn läuft auf eigenen Füßen durch das Evangelium. Er wird nicht wie der Sohn vom Vater an der Hand gehalten" (259 f.). Zu überzeugen vermag die skizzierte These nicht. Dass einige Menschensohn-Worte - wie etwa die den synoptischen Leidensankündigungen (Mk 8,31 usw.) entsprechenden "Erhöhungs"-Aussagen (3,14f.; 8,28; 12,34) - einen eigenen theologischen Akzent setzen, kann nicht fraglich sein. Daneben aber finden sich Aussagen über den Menschensohn, die in solchen über den Sohn Gottes ihre Parallele haben (die Herabkunft aus dem Himmel: 3,13/3,31ff; die Verherrlichung: 12,23; 13,31/11,4; 17,1; der Glaube an Jesus: 9,35/3,16.18.36). Besonders instruktiv ist in diesem Zusammenhang der Abschnitt 3,13-17, in dem die auf die Inkarnation abhebende Rede vom Hinabsteigen des Menschensohnes V. 13 der Rede von der Sendung des Sohnes V. 17 entspricht und die das Kreuzesgeschehen thematisierende Rede vom Erhöhtwerden des Menschensohnes V. 14 f. der Rede von der Dahingabe des Sohnes V. 16 korrespondiert. Wie die aufgelisteten Phänomene zeigen, besteht im Johannesevangelium zwischen "Menschensohn" und "Sohn Gottes" inhaltlich eine volle Entsprechung; beide Begriffe bringen das göttliche Sein Jesu zum Ausdruck.

In formaler Hinsicht ist zu notieren, dass die Arbeit vor der Drucklegung offensichtlich keine letzte Durchsicht erfahren hat. Anders lassen sich die Versehen im Deutschen (z. B. die Auslassung ganzer Wörter) und die ungewöhnlich zahlreichen Fehler im Griechischen (Akzentsetzung, Orthographie) nicht erklären.