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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

287–290

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kim, Seyoon

Titel/Untertitel:

Paul and the New Perspective. Second Thoughts on the Origin of Paul's Gospel.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2002. XV, 336 S. gr.8. Kart. US$ 26,00. ISBN 0-8028-4974-1; zugleich: Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 140. Tübingen: Mohr Siebeck 2002. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147692-1.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Horn

Die in der jüngeren Vergangenheit von Krister Stendahl, Ed Parish Sanders, James D. G. Dunn u. a. vorgetragenen Anfragen an die bislang vorherrschende, unter dem Einfluss Rudolf Bultmanns stehende Paulusdeutung, wurden bereits 1982 in der Manson Memorial Lecture von J. D. G. Dunn programmatisch zu einer New Perspective on Paul deklariert (BJRL 65, 1983, 95-122; wieder abgedruckt in J. D. G. Dunn, Jesus, Paul, and the Law, 1990, 183-214).

Dunn hat in einer Vielzahl von Publikationen seine Sicht ausgebaut und bekräftigt, zuletzt in 14.1 seines voluminösen Werkes The Theology of Paul the Apostle, 1998). Ed Parish Sanders, dessen Untersuchung Paul and Palestinian Judaism, 1977 neben Krister Stendahls knappem Aufsatz The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56, 1963, 199-215 wohl den entscheidenden Anstoß für die new perspective gab, hat in dem kleinen Reclam-Heft Paulus. Eine Einführung, 1995 die Zentrierung auf die Anthropologie und auf Röm 7 den Grundpfeiler und zugleich den Grundfehler der Interpretation Bultmanns genannt und festgestellt, dass die bisher vorgetragenen Anfragen an die bereits klassische, vorwiegend lutherische Paulusdeutung in Frankreich und England kaum wahrgenommen worden sind, dass aber auch in Deutschland eine wirkliche Auseinandersetzung mit ihr bislang unterblieben ist (171-173). Dem ist in der Tendenz zuzustimmen. Ich verweise allerdings auf: Eduard Lohse, Theologie der Rechtfertigung im kritischen Disput - zu einigen neuen Perspektiven in der Interpretation der Theologie des Apostels Paulus, GGA 249, 1997, 66-81.

Diese forschungsgeschichtliche Orientierung sei vorangestellt, auch um zu verdeutlichen, mit welcher Erwartung man ein Werk wie das nun zu rezensierende in die Hand nimmt, das eine erste monographisch ausholende Auseinandersetzung mit dem als "revolution" (XIII) eingestuften Buch Paul and the New Perspective anstrebt. Der erhoffte Stellenwert dieser Veröffentlichung wird auch dadurch angezeigt, dass sie zugleich als Paralleledition in zwei großen und renommierten Verlagshäusern erscheint. Das Buch soll betont in der Kontinuität des zwanzig Jahre zuvor gleichfalls in der Reihe WUNT publizierten Werkes The Origin of Paul's Gospel (1981; 2. Aufl. 1984) verstanden werden (XIV). Die Lektüre des neuen Buches wird zeigen, dass Kim nicht wirklich eine Auseinandersetzung mit der new perspective führt, sondern dass er in Wahrheit die seinerzeit angelegten Linien weiter auszieht und sie recht apodiktisch der new perspective entgegenstellt. Als eine wirkliche Debatte mit der von Sanders und Dunn eingeleiteten Wende in der Paulusforschung kann das Werk daher von diesem Ansatz, aber auch von seiner Durchführung her zumindest in weiten Teilen nicht begriffen werden.

K. hat insgesamt acht unterschiedliche Beiträge zusammengestellt. Von diesen sind fünf Neuerscheinungen, aber nur drei befassen sich nach eigener Einschätzung (XIV) mit der new perspective: 1) Paul's Conversion/ Call, James D. G. Dunn, and the New Perspective on Paul; 2) Justification by Grace and through Faith in 1 Thessalonians; 4) Paul, the Spirit, and the Law. Neue Beiträge sind auch: 3) Isaiah 42 and Paul's Call; 5) Christ, the Image of God and the Last Adam. Einen Wiederabdruck finden schließlich bereits an anderen Stellen veröffentlichte Beiträge aus den 90er Jahren: 6) 2 Corinthians 5:11-21 and the Origin of Paul's Concept of Reconciliation; 7) The Mystery of Romans 11:25-26 Once More; 8) The Jesus Tradition in Paul.

Dem ersten und im Vergleich mit den anderen Beiträgen mit Abstand umfangreichsten Aufsatz (1-84) muss die meiste Beachtung zukommen. In ihm diskutiert K. im Gespräch mit Dunn vor allem folgende Themen: die in der Berufung des Paulus vermittelte Theologie, der historische Ort der Gesetzesfreiheit und ihr Umfang, die antiochenische und galatische Krise als Geburtsstunde der Rechtfertigungslehre, die Rechtfertigungslehre als Ermöglichungsgrund der Heidenmission, was Paulus mit Werke des Gesetzes meint, das Verhältnis der Rechtfertigung zur Ethik. Während Dunn größten Wert darauf legt, dass mit der Christophanie vor Damaskus für Paulus nicht mehr als die Beauftragung zur Heidenmission verbunden war, und dass zugleich die Rechtfertigungslehre ihre Gestalt in der antiochenischen und galatischen Krise fand, verbindet K. mit der Damaskusstunde für Paulus explizit eine vierfache theologische Einsicht: der Apostel empfängt hier a) das Evangelium von Jesus, dem Christus, Kyrios, Sohn und Ebenbild Gottes; b) die Beauftragung zur Heidenmission; c) die Begabung mit dem heiligen Geist und d) die Offenbarung desjenigen Mysteriums, das Paulus in Röm 11,25 f. erstmals aussprechen wird, dass nämlich dem göttlichen Heilsplan entsprechend die Rettung der Heiden derjenigen der Juden vorausgehen soll. Daneben wird aber auch die Rechtfertigungslehre, der zufolge der Glaube ohne Werke des Gesetzes zählt, mehrfach auf die Vision vor Damaskus zurückgeführt, wie auch die Adam-Christus-Typologie bzw. -Soteriologie (193) oder auch "the structural weakness of the law, its association with the flesh and sin" (163). Während also die wesentlichen theologischen Einsichten nach K. allesamt auf die Damaskusstunde verweisen, belegen die Briefe eine unterschiedliche Ausgestaltung dieser Grundeinsichten, nicht aber eine sukzessive Vertiefung und Ausgestaltung hin zur ausgeführten Gestalt der Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbriefs.

Daher wird größtes Gewicht auf den Versuch des Nachweises gelegt, dass bereits der früheste Paulusbrief, der 1Thess, Zeuge für die Rechtfertigungslehre ist (85-100), obwohl die entsprechende Terminologie fehlt und die Theologie dieses Schreibens wirklich eine andere Ausrichtung hat. Es will geradezu scheinen, als habe die Diskussion der vergangenen Jahrzehnte für K. keinerlei positiven Ertrag zu verzeichnen: "To that extent, the traditional interpretation of the doctrine of justification by grace and through faith without works of the law in terms of acquittal of sinners by God's grace apart from their own good works of observing all the religious and ethical commandments of the law is legitimate" (83).

Da diese Bewertungen der paulinischen Theologie, verbunden mit der Einschätzung, dass die traditionelle Sicht des Judentums als einer Religion, zu der Werkgerechtigkeit bzw. "synergistic nomism" (84, Anm. 274) nachweislich gehören, dem historischen Sachverhalt eher entsprechen als Sanders und Dunn wahrhaben wollen, sieht K. bereits jetzt, dass "the pendulum which had swung too far toward the side of denying any element of work-righteousness in Second Temple has begun to swing back" (83).

Neben diesem massiven Insistieren auf einer die paulinische Theologie unmittelbar vermittelnden Offenbarung in der Damaskusstunde verweist K. weiterhin auf den Einfluss der Lektüre des Alten Testaments und denjenigen der Jesustradition als der zweiten Wurzel der paulinischen Theologie. Das Erste wird an der Prägung der im Anschluss an Ez 1 sich bewegenden Merkabah-Mystik auf die paulinische Adam- und Weisheitschristologie geltend gemacht, sowie im Verweis auf die vielfältigen Einflüsse des ersten Gottesknechtsliedes nicht nur für Jesu Selbstverständnis, sondern auch für die Beauftragung des Apostels. Hier bestehen gewiss Einflüsse, die in der Forschung bereits gelegentlich, wenn auch nicht in dieser Massivität verzeichnet worden sind. Der behauptete Anschluss an die Jesustradition und ihre Bewertung als des zweiten Standbeines der paulinischen Theologie hingegen stehen in dieser Form isoliert im Forschungsraum: "There is a real continuity between Jesus' teaching centered on the kingdom of God and Paul's theology as a whole" (289). Wenige Sätze später werden alle historischen Differenzierungen eingeebnet: "The close similarities between Jesus and Paul in theology and attitude may be taken as evidence of Paul's intimate knowledge of Jesus' teaching and attitude" (289). Betrachtet man aber die "twenty-five instances where Paul certainly or probably makes reference or allusion to a saying of Jesus" (289), so wird man bei nüchterner Betrachtung von einem wesentlich geringeren Bestand ausgehen müssen.

Um dies alles noch verstehen und nachvollziehen zu können, muss man K.s Vorgehensweise exegetischer Arbeit kennen. In einer unglaublichen Hypothesenfreudigkeit und Vorliebe zur Argumentation im Konjunktiv wird aus gelegentlichen Beobachtungen und exegetischen Möglichkeiten flugs ein Lehrgebäude errichtet. Ich verweise zur Illustration nur auf folgenden Sachverhalt: Nach K. interpretierte Paulus die Christophanie vor Damaskus im Licht von Jes 42. Zwar zitiert Paulus diesen Text nicht, mag aber - so K. - gelegentlich auf ihn anspielen. K. trägt insgesamt elf Beobachtungen zusammen, deren Gewicht er im Einzelfall zwar unterschiedlich einschätzt, er vertraut aber auf die kumulative Kraft der Vielzahl der Beobachtungen, um zu sagen: "... the most significant result of following Paul in his interpretation of his Damascus experience in the light of Isa 42 is the discovery that he was conscious of having been commissioned as an apostle with the endowment of the Holy Spirit." Da aber auch in der Jesustradition Jes 42 eine wesentliche Rolle spiele, erweise die postulierte Bedeutung von Jes 42 für Paulus: "So Paul carried on fulfilling the Ebed role of Jesus Christ, or rather the risen Christ Jesus carried on fulfilling the Ebed's role through Paul" (127). Im Blick auf die Adam-Christologie wird das von K. zu Grunde gelegte Bild des Theologen Paulus eindrücklich vorgestellt. Die Kommunikation mit den Mitarbeitern, Gegnern, den Gemeinden oder auch die Erfahrungen der Missionsstationen scheinen völlig unerheblich zu sein. Die Theologie des Paulus hat ihr Zentrum in der Damaskuserfahrung, und um sie herum ordnet Paulus wie ein Schriftgelehrter seine Tradition: "This new discovery has led me to have a glimpse into Paul's theological method of developing new theological insights by using the Damascus revelation, the Jesus tradition, and the Scriptures ...) for mutual interpretation and confirmation" (213).

Nach der Lektüre der insgesamt acht Beiträge möchte man mit K. in einen Dialog eintreten über die Methoden exegetischer Arbeit. Die Kombination einer offenbarungstheologischen Zentrierung der gesamten paulinischen Theologie auf die Damaskusstunde (81.126.165.237 u. ö.) in Verbindung mit einem konstruktiv harmonisierenden, historische Differenzierungen vernachlässigenden Ansatz führt letztlich zu nicht mehr kontrollierbaren Thesen. Ich möchte dies an wenigen Beobachtungen verdeutlichen:

a) K. geht davon aus, dass Paulus bereits in der Damaskusstunde das Mysterium Röm 11,25 f. als Einsicht in den göttlichen Heilsplan bekannt war (242) und dass Paulus seine Mission in Einklang mit dieser Einsicht plante und gestaltete (257). Die Gespräche mit Petrus, der entsprechende Jesustradition wie Mt 8,11 f. par an Paulus weitergibt, sowie die mit Petrus erzielte Übereinkunft auf dem ersten Jerusalembesuch, deren Ertrag Kim in Gal 2,7 f. (in Zustimmung zu Lüdemanns Analyse) findet, und schließlich die Lektüre des Alten Testaments sollen diese Missionsperspektive unmittelbar danach bekräftigt haben. Da Paulus allerdings die Aussage in Röm 11,25 f. als ein Mysterium ankündigt, das eine neue (!) Erkenntnis beschreibt, sollte der Inhalt des Mysteriums nicht gegen die Textaussage mehr als zwanzig Jahre zurückdatiert werden. Auch kann K. nicht wirklich erklären, wie Paulus nach der frühen Übereignung des Mysteriums noch einen Text wie 1Thess 2,14-16, den er als "prophetic hyperbole" entschärft (250), schreiben kann.

b) In der Diskussion um die Gestalt der Rechtfertigungslehre ist der möglichst präzisen Interpretation des Begriffs erga nomou, herkömmlicherweise mit "Werke des Gesetzes" übersetzt, in der new perspective mit Recht hohe Aufmerksamkeit geschenkt worden. Auf die Frage, ob 4QMMT zur Interpretation herangezogen werden darf, geht K. in einer Anmerkung kritisch ein (65, Anm. 221), übergeht hier aber die wesentlichen Arbeiten von Michael Bachmann. In der Sache weist K. dessen, aber auch Dunns Anstoß massiv zurück: "In other words, Paul is opposed to works of the law not because he thinks they prevent from becoming members of the people of God, as Dunn claims, but rather because he perceives them as human, therefore inadequate attempts to earn justification" (60). Hier werden maßgebliche Ergebnisse der jüngeren Forschung ignoriert. Die Formel Gal 2,16 hat einen Hintergrund in der antiochenischen Gemeinde und ist hier wohl auf die Frage der Beachtung der Forderungen der Thora durch Heidenchristen zu beziehen. Die Verwendung dieser Formel über den Gal bis hin zum Röm unterliegt jedoch deutlichen Veränderungen, die K. nicht wahrnimmt, weil er von einer einheitlichen Grundvorstellung seit Damaskus ausgeht. Erst im Röm ordnet Paulus der Frage der erga nomou Ausführungen über die grundsätzliche Verfallenheit aller Menschen an die Sünde zu. Hier überführt er die Formel von einer ursprünglich ekklesiologischen in eine soteriologische Orientierung.

Da K. im Wesentlichen seine eigene Paulusinterpretation apodiktisch vorlegt, ohne den Gesprächspartnern wirklich zu begegnen, bleibt eine Auseinandersetzung mit Paul and the New Perspective eine dringend gebotene Aufgabe der Forschung.