Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2003

Spalte:

283–287

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan

Titel/Untertitel:

Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. XIV, 354 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 134. Lw. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147415-5.

Rezensent:

Udo Schnelle

In dieser Hamburger Habilitationsschrift unternimmt Stefan Alkier (jetzt Frankfurt a. M.) den Versuch, das antike Wirklichkeitsverständnis hinsichtlich des Wunderhaften am Beispiel des Apostels Paulus darzustellen. Ziel seiner Analysen ist es nicht, die grundsätzliche Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Wundern zu erörtern, sondern zu zeigen, dass ein Wunderverständnis immer Teil eines vorgängigen Wirklichkeitsverständnisses ist, das sich in die Texte einzeichnet. Die unbestritten authen-tischen Paulusbriefe werden daraufhin befragt, welche Wirklichkeitsannahmen sie bezüglich von Zeichen, Wundern und machtvollen Taten enthalten.

Den Aporien der Forschungsgeschichte versucht der Vf. mit einem semiotischen Ansatz zu entgehen. Nach der Formulierung der Fragestellung im ersten Kapitel und einer kurzen forschungsgeschichtlichen Skizze im zweiten Kapitel bildet die Entfaltung dieses Ansatzes in der Form einer semiotischen Reformulierung der Wunderproblematik das dritte Kapitel. Die semiotische Fragestellung sieht der Vf. deshalb als besonders geeignet an, weil sie nicht mit einem fremden Wirklichkeitsverständnis an die Texte herantritt, sondern die Texte nach ihrer jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion befragt. Weil die Voraussetzung jeglicher Kommunikation Zeichenprozesse sind, muss die Wunderfrage in die semiotische Frage transformiert werden. Auf diese grundsätzliche Standortbestimmung folgt eine Darstellung des Zeichenverständnisses bei Ferdinand de Saussure und Charles Sanders Peirce. Im Anschluss an Peirce schlägt der Vf. vor, Texte über Wunder als Zeichen zu begreifen, die all jene Interpretationen aus sich heraussetzen, die ein Text als Ausschnitt einer Enzyklopädie ermöglicht. Ein Text hat keine in sich geschlossene Struktur, sondern steht immer in Beziehung zu anderen Texten, die einen Bezugs-Verstehens-Rahmen bilden. "Die Gesamtheit aller Texte mit all ihren faktischen und möglichen Beziehungen bildet das unüberschaubare und unabschließbare Universum der Texte" (70).

Im Anschluss an Umberto Eco verbindet der Vf. dieses Modell einer unabgeschlossenen Intertextualität mit dem Konzept der Enzyklopädie, wonach jede Textherstellung und jede Textlektüre auf eine Enzyklopädie kulturellen Wissens angewiesen ist, die jeweils zumindest potentiell mitgedacht werden muss. Während sich die Enzyklopädie auf die Gesamtheit des kulturellen Wissens einer bestimmten Sozialität bezieht, meint Diskursuniversum die Welt eines konkreten Zeichenzusammenhanges. Jeder Text kann und muss danach befragt werden, wie er auf ein oder mehrere Diskursuniversen Bezug nimmt und welche Denkvoraussetzungen innerhalb dieses Diskursuniversums gelten. Die semiotische Frage nach dem Wunder "kann nun präzisiert werden als Frage nach der Verortung von Aussagen über Wunder im jeweiligen Diskursuniversum eines Textes" (78). Diese Fragestellung wird vom Vf. auf die einzelnen Paulusbriefe angewendet. Zunächst fragt er nach Wunder und Wirklichkeit im 1. Thessalonicherbrief. Das Präskript des Briefes ist von großer Bedeutung, denn es eröffnet das Diskursuniversum des Briefes. Paulus erinnert die Adressaten an die sie tragende gemeinsame Wirklichkeit und schafft so die Voraussetzungen für eine gelingende Kommunikation. Zwar finden sich im ältesten Paulusbrief keine Wundergeschichten und Paulus tritt auch nicht erkennbar als Wundertäter in Erscheinung, aber 1Thess 1,5 lässt die Strategie des Apostels erkennen, Gott als Handlungsträger des gesamten Evangeliumsgeschehens zu benennen. Die Adressaten des Briefes sollen zu der Einsicht geführt werden, Gott als das Subjekt der Machttaten der Auferweckung Jesu von den Toten und der sich anschließenden Evangeliumsverkündigung zu begreifen. Indem Paulus an das gemeinsame eschatologische Wissen von Absender und Adressaten appelliert, schafft er die Basis für ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis, das eine Lösung der akuten Gemeindeprobleme erlaubt. Das Diskursuniversum des 1. Thessalonicherbriefes ist durchgängig bestimmt von den machtvollen Wundertaten Gottes, die für die Gemeinde Heil bedeuten. Auch im Galaterbrief wird durch das Präskript 1,1-5 ein Diskursuniversum eröffnet, das die gesamte Kommunikation des Briefes vorstrukturiert. Paulus setzt seine Berufung durch Jesus Christus, den Gott von den Toten auferweckt hat, als Wirklichkeit. Als von Jesus Christus und von Gott beauftragter Apostel partizipiert er an der göttlichen Ebene, so dass die Adressaten ihn als den göttlich beauftragten Apostel akzeptieren müssen. Innerhalb der narrativen Konfliktlösungsstrategie des Paulus kommt der Geschichte von der Verwandlung des Paulus in Gal 1,13-24 eine ganz besondere Bedeutung zu. Der Vf. schlägt vor, sie "sowohl auf der semantischen als auch auf der syntagmatischen Ebene als Wundergeschichte zu lesen" (137). Auch im Galaterbrief tritt allein Gott als Wundertäter auf, er bewirkte die wunderbare Gabe des Geistes (Gal 3,2), dass die 90-jährige Sarah ein Kind gebar und erweckte Jesus Christus von den Toten. Schließlich ließ er die heidnischen Galater zu Söhnen Abrahams werden. Diese wunderbaren Verwandlungen bringt Paulus mit dem Syntagma kaine ktiois (Gal 6,15) auf den Begriff, das Gottes alleiniges wunderbares Handeln prägnant zum Ausdruck bringt.

Im 1. Korintherbrief bildet ein vielschichtiger Wunderdiskurs die Basis der gesamten Argumentation. Die neuschaffende und erwählende Kraft Gottes haben der Apostel und die Korinther gleichermaßen in ihrer Berufung erfahren. Auch die durch den Geist vermittelten Gaben verdanken sich dem Wunderhandeln Gottes. Der Wert solcher Gaben wird jedoch nicht an ihrer Spektakularität gemessen, sondern an der dem Gemeindeaufbau dienenden Liebe. Wer diesen Gemeindeaufbau durch sein unwürdiges Verhalten in Gefahr bringt, setzt sich Strafwundern aus, die sich in Form von Tod und Krankheit zeigen. Auch die Auseinandersetzungen innerhalb der korinthischen Gemeinde verstoßen gegen das vom Apostel verkündigte Evangelium. Den Höhepunkt des wundermächtigen schöpferischen Handelns Gottes bildet die Auferweckung Jesu Christi von den Toten, die in 1Kor 15,3 ff. als Wundergeschichte zu lesen ist. Der Vf. legt Wert darauf, "daß es sich bei dieser Totenerweckungsgeschichte nicht um eine Metapher handeln kann. Die Zeichen gestorben und begraben liegen anders als die Zeichen Totgeburt und die Ekklesia Gottes verfolgen auf derselben semantischen Achse, nämlich des realen Todes" (209). Was für die Auferstehung gilt, trifft auch für alle anderen Wunder zu: Gott ist das aktive Subjekt des Geschehens, so dass nicht Unerklärbares, Numinoses oder Geheimnisvolles im Mittelpunkt steht. Vielmehr geht es allein um den Schöpfergott, der über unermessliche Macht verfügt und souverän seinen Willen vollziehen kann. Im 2. Korintherbrief verteidigt Paulus sein Apostolat mit dem Hinweis, dass Gott ihn in wunderbarer Weise aus mannigfaltigen Gefahrensituationen gerettet und bewahrt hat. Gottes Wunderkraft wird auch an dem Entrückungswunder (2Kor 12,1-6) und der göttlichen Verursachung der körperlichen Gebrechen des Apostels sichtbar (2Kor 12,7-10). Die wunderbare Schöpferkraft Gottes erweckte den in Schwachheit gekreuzigten Sohn von den Toten und nimmt sich nun der Ohnmächtigen an, deren Existenz als kaine ktiois allein Gottes Werk ist. Auch innerhalb des Philipperbriefes installiert Paulus im Präskript seine Lektüreanweisung. Im Mittelpunkt steht die Herrschaft des göttlichen Kyrios Jesus Christus, dessen Herrschaftsantritt und Herrschaftsausführung als Basisgeschichte für die himmlische Staatsbürgerschaft der Gemeinde dient. Der Kyrios erwarb seine Herrschaft nicht selbst, sondern erhielt sie als wunderbares Geschenk von Gott. An dieser Wundergeschichte sollen sich die Bürger dieses Himmelreiches orientieren. Die Genesung des todkranken Epaphroditos signalisiert, dass die göttliche Zusage der wunderbaren Überwindung des Todes kein leeres Versprechen ist.

Die Wunderkraft des Schöpfergottes steht auch im Zentrum des Diskursuniversums des Römerbriefes. Gott bestraft all jene, die Geschöpf und Schöpfer vertauschen, zugleich zeigt sich aber seine Langmut in der Auferweckung Jesu Christi von den Toten. Damit begann die Zeit der Gerechtigkeit, in der Absender und Adressaten sich befinden. Angesichts des gerechten Zornes Gottes vermag nur das göttliche Wundermittel des glaubenschaffenden Evangeliums die Menschen zu retten. Zu seiner Verkündigung an die Völker weiß sich Paulus von Gott beauftragt. Das Evangelium erzählt die Geschichte von Tod, Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi, in der sich Gott als liebender, Gerechtigkeit schaffender und mit Wunderkraft ausgestatteter Schöpfergott erweist. Auffälligerweise wird Röm 9-11 vom Vf. nur am Rande behandelt, obwohl sich Röm 11,26 als Spitzensatz paulinischer Soteriologie vom Ansatz des Vf.s her glänzend erschließt: Gottes Wunderkraft wird am Ende der Zeiten Israel zum Heil führen.

In zwei abschließenden Kapiteln fasst der Vf. das Ergebnis seiner Analysen zusammen. Die Frage nach dem in den paulinischen Briefen jeweils installierten Wirklichkeitsverständnis wird so beantwortet: "Der Wunderdiskurs im paulinischen Christentum erhält seine Kohärenz durch die intertextuelle Anknüpfung an die Enzyklopädie des Judentums, und zwar insbesondere der Schöpfungstheologie. ... Gott der Schöpfer ist der Wundertäter des Anfangs, Gott der Totenerwecker ist der eschatologische Wundertäter, der mit derselben Macht neue Schöpfung hervorbringen wird. Der Wunderdiskurs im paulinischen Christentum erhält auf der Basis einer jüdischen Enzyklopädie seine Plausibilität im Rahmen einer Theo-Logie der Schöpfung" (304). Mit dieser Feststellung ist noch nicht die neuzeitliche Frage nach der Tatsächlichkeit der Wunder beantwortet. Diesem Problem wendet sich der Vf. kurz im letzten Kapitel zu. Die Wunderfrage darf auf keinen Fall als erledigt oder nebensächlich betrachtet werden, denn "sie fragt danach, welche Kräfte unsere Wirklichkeit bestimmen; sie fragt danach, womit wir im Leben und Sterben rechnen und worauf wir uns verlassen können" (305). Eine solche Rückfrage darf nicht mit dem Hinweis auf die Enzyklopädie der eigenen Zeit und dem damit verbundenen Überlegenheitsgefühl beiseite geschoben werden, denn jedes Wirklichkeitsverständnis ist aus der Perspektive der Zukunft überholt. Für das paulinische Christentum gilt, dass Wunder gerade nicht zum Bereich des Rätselhaften oder Sensationellen gehören, sondern als Geschehnisse von Gott her verstanden werden, die menschliches Vermögen übersteigen. Nachdrücklich betont der Vf., dass für die paulinische Theologie das Wunderverständnis ein grundlegender Bestandteil ist, denn ohne Gottes Wundermacht kann die paulinische Weltsicht nicht erklärt werden. Zugleich ist klar, dass Paulus nicht für den Beweis oder die Tatsächlichkeit von Wundern im neuzeitlichen Sinn in Anspruch genommen werden kann. Aber deutlich spricht sich im paulinischen Wunderverständnis die Zuversicht aus, dass Gottes Macht über menschliche Kräfte hinausgeht.

Die Stärke ist zugleich die Schwäche der Arbeit: Der Vf. wählt einen sehr weiten Wunderbegriff, der einerseits den paulinischen Briefen zutreffende Beobachtungen abgewinnt, andererseits aber weder formgeschichtlich klassifiziert noch in die antike Enzyklopädie eingeordnet wird. Dennoch kann die Studie in mehrfacher Hinsicht als innovativ bezeichnet werden:

1. Sie integriert textwissenschaftliche Fragestellungen mit herkömmlichen exegetischen Methoden, ohne die eine Disziplin gegen die andere auszuspielen. 2. Die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis neutestamentlicher Texte wird über die plumpe Alternative historisch oder unhistorisch hinausgeführt. 3. Für die paulinische Theologie eröffnet die bisher vernachlässigte Wunderfrage wichtige neue Aspekte, die auch für die Beurteilung des Auferstehungsgeschehens von grundlegender Bedeutung sind.

Insgesamt eine ausgezeichnete Studie, die dazu verhilft, das paulinische Denken präziser zu erfassen.