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Ausgabe:

März/2003

Spalte:

276–278

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fox, Michael V.

Titel/Untertitel:

Character and Ideology in the Book of Esther. Second Edition with a New Postscript on A Decade of Esther Scholarship.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmanns 2001. X, 333 S. gr.8. Kart. US$ 26,00. ISBN 0-8028-4881-8.

Rezensent:

Harald Wahl

Selten genug in unseren Tagen, da wissenschaftliche Monographien sintflutartig die Bibliotheken und mitunter auch das dabei erlahmende Kleinhirn der Theologen überschwemmen, dass eine alttestamentliche Studie, auch wenn ihr Gehalt es verdiente, mit einer zweiten Auflage gewürdigt wird. Michael V. Fox ist es mit seiner vor gut einer Dekade publizierten Untersuchung gelungen, ein abseitiges Thema aufzugreifen und in einer Weise allgemein verständlich so gewinnend zu präsentieren, dass sein Buch vergriffen ist und nun in einer zweiten Auflage erschienen ist.

Es ist nicht das erste Buch, das F. der jüdischen Königin in der persischen Diaspora widmet. In einem Jahr erschienen gleich zwei Bücher des amerikanischen Exegeten von der University of Wisconsin in Madison. Zugegeben, seine Studie über The Redaction of the Books of Esther. On Reading Composite Texts, SBL.MS 40, Atlanta 1991, ist ungleich schwerer zu verdauen, mischt sie sich doch ein in die turbulente Diskussion der vergangenen Jahre über die traditionsgeschichtliche Interdependenz der in den drei schriftlichen Fassungen (M, A und B) und ihren griechischen Zusätzen (A-F) konservierten und immer wieder redigierten Überlieferungen. Und gerade deshalb wird in ihr das text- und redaktionsgeschichtliche Fundament für das Buch gelegt, dem wir uns nun zuwenden.

Die erstmals 1991 publizierte Monographie ist, soweit ich sehe, die erste ihrer Art. Die auf die Studie zur Textgeschichte rekurrierende allgemeinverständliche Monographie ist eine anregende Mischgattung, deren Titel Character and Ideology in the Book of Esther das Programm vorgibt: Neben einer Einleitung (1-12) bietet sie zunächst eine umfassende Kommentierung des hebräischen Buches (13-130), ehe sie dann die Themen der Historizität (131-140), Gattung (141-152), Komposition (153- 163), der Darstellung der Protagonisten (164-211) sowie der jüdischen Gemeinde (212-234), der Theologie (235-247), des Milieus (248-253) und der Textgeschichte (254-273) behandelt.

Greifen wir exemplarisch einige Punkte heraus. Die komplexe Text- und Redaktionsgeschichte1 stellt sich für F. vereinfacht so dar: Der Masoretische Text und die Vorform des A-Textes gehen auf eine gemeinsame semitische Vorlage zurück, die mit c. 8 endet. Noch im textgeschichtlichen Stadium wird die hebräische Fassung um die c. 9-10 erheblich ergänzt. Die um die Zusätze erweiterte griechische Langfassung (B) fußt auf dieser fortgeschriebenen hebräischen Vorlage. Von den Erweiterungen der Langfassung abhängig wird auch der A-Text redaktionell überarbeitet (254-273). So erklärt sich für F. die in der Forschung allerdings umstrittene Präferenz der semitischen Tradition.2

Die zunächst in der Reihe Studies on Personalities in the Old Testament veröffentlichte Untersuchung porträtiert ihrer Konzeption entsprechend ausführlich die Protagonisten Vashti (164-170), Xerxes (171-177), Haman (178-184), Mordechai (185-195), Esther (196-205) - mit dem Exkurs The Image of Woman in the Book of Esther (205-211) - und allgemein die jüdischen Repräsentanten (212-234). Losgelöst von dem erzählenden Kontext wird so die Rolle und die Bedeutung der einzelnen Personen für das Drama beleuchtet. Inzwischen ist auch in der deutschsprachigen Exegese das Interesse an den Hauptpersonen von Erzählungen wieder erwacht.3

Konzentrieren wir uns auf das feinsinnige Porträt der beiden Protagonisten Esther und Mordechai. "Mordecai", so F., "is the dominant figure in the book" (185). Sein unbeugsames Bekenntnis und seine Weisheit, sein Stolz und Mut, seine Führungsqualitäten und Treue zu seinem Volk, seine Selbstlosigkeit, Offenheit und sein Glaube erheben ihn zu einem Vorbild des exilierten Israels (185-191). "Mordecai is an ideal figure, a repository of virtues, a shining example of how a Jew of the diaspora should behave. Yet he is not entirely a bore" (185). Für den Leser vereitelt diese literarisch stilisierte Idealgestalt jedoch die Möglichkeit der Identifikation. "We can try to follow his example but cannot easily identify with him" (195).

Anders verhält es sich dagegen mit Esther. "In the Scroll, it is Esther who stands at the center of the book's artistic interest. She emerges as the most distinct and memorable character in the book, the one with whom the reader most naturally identifies. Mordecai's character forms a solid frame around the smaller and more finely executed depiction of Esther" (196). Esther entwickelt sich von der jungen jüdischen Schönheit zur umsichtigen Königin Persiens, die mit ihrem Dekret dafür sorgt, dass Purim reichsweit eingesetzt wird. Sie wird lebendiger und auch in ihren Schwächen menschlicher gezeichnet, wodurch sich der Leser leichter mit ihr identifizieren kann (204-205).

Seit jeher ist die Theologie ein zentrales Problem der Auslegung des Buches: Gott erscheint in der Megilla nur hinter dichtem Schleier (235-247). Das erschwert die Darstellung ihrer Theologie, denn "God is not one of the characters in the book of Esther" (235). Die Versuche, Gott in verschiedenen Anspielungen, Themen sowie durch sein Wirken zu erkennen, hält F. für unbefriedigend. Vielmehr entspricht das Schweigen Gottes seinem intentionalen Handeln, mit dem Jahwe das sehnsüchtige Suchen des Menschen nach dem Retter Israels verstärkt. "The author of Esther wishes us to hold to faith even when lacking certitude and an understanding of details" (247).

Als Postscript ist unter der überschrift Decade of Esther Scholarship eine Forschungsübersicht angehängt, die sich auf die chronologisch aneinander gereihte Besprechung englischsprachiger Monographien konzentriert, einzelne Artikel bleiben unberücksichtigt (288-303). Ausführlich werden die neueren Kommentare (288-291), Studien zur Gattung (291-295), zu einzelnen Themen (295-300), zur Text- und Redaktionsgeschichte (300-302) sowie zur rabbinischen Auslegung (302-303) vorgestellt.

Die ohnehin spärlich keimende deutschsprachige Literatur vernachlässigt F. leider völlig. Nur am Rande streift er die umfangreiche Dissertation von R. Kossmann4 (301-302). Den Kommentar von J. A. Loader5, die gründliche Auslegung der Zusätze von I. Kottsieper6, den anregenden Beitrag der jüdischen Exegetin P. Navè-Levenson7 und vor allem die wesentlichen Monographien von D. Börner-Klein8 und B. Ego9 zur rabbinischen Rezeption der Megilla übergeht der Vf. ganz.

Außerdem fristen die beiden griechischen Texte einschließlich der nicht ganz unerheblichen sechs Zusätze (A-F) gegenüber der hebräischen Tradition ein Schattendasein. Doch gerade die griechischen Traditionen bieten eine eigenständig profilierte Charakterisierung der Protagonisten10 sowie eine den jeweiligen Gemeinden entsprechende Theologie11. Eine komplementäre Schau des komplexen Estherstoffes bietet F. nicht.

Dennoch: Gemeinsam bilden die beiden Bücher von F. eine prächtige Ouvertüre für die letzte Dekade der Erforschung der Megilla. An ihrer Entwicklung hat der amerikanische Gelehrte maßgeblichen Anteil. Man kann nicht anders, als die Monographie von F. die umfassendste Einführung in ein abseitiges biblisches Buch zu nennen, die gender studies, Text- und Redaktionsgeschichte, Erzähltheorie und Religionssoziologie ebenso wie Gattungskritik und Theologie ergänzend im Dienste einer Gesamtschau sinnvoll verbindet.

Wer die erste Auflage von Character and Ideology bereits sein eigen nennt, braucht sich die zweite nicht zu kaufen, ist sie doch nur um den Forschungsüberblick (288-303) erweitert. Dadurch verschiebt sich die Paginierung der anschließenden Register um 16 Seiten, ansonsten ist die zweite Auflage mit der ersten identisch. Für diese zweite Auflage gilt dann, was auch schon für die erste galt: Als basale Einführung gehört das Buch in die Hand von interessierten Laien ebenso wie von Lehrern, Pfarrerinnen und Exegeten - und selbstverständlich in jede theologische Bibliothek.

Überlassen wir dem Kenner selbst im Rückblick auf die vergangene Dekade der Erforschung der Megilla das Schlußwort. "Scholarship of the 1990s showed an increased appreciation for the book of Esther: its artistry, its subtlety, its moral values, its treatment of female characters, the process of its formation. Most important, recent scholarship has been free of the attitudes that tained much of Esthers' scholarship in earlier years: contempt for the book and hostility toward the people whose salvation it recounts" (303).

Fussnoten:

1) Das Buch Esther liegt in drei voneinander abweichenden Traditionen vor. Der hebräischen Megilla mit ihren 10 Kapiteln stehen zwei davon erheblich abweichende griechische Fassungen zur Seite: die um 6 ausführliche Zusätze (A-F) versehene Langfassung (B-Text oder G für Septuaginta) und eine von nur vier Minuskeln überlieferte Kurzfassung (A-Text oder L-Text = lukianische Fassung), die bereits mit c. 8 endet.

2) Vgl. H. M. Wahl, Esther-Forschung, ThR 66, 2001, 103-130.

3) Vgl. beispielsweise die von Christfried Böttrich und Rüdiger Lux edierte neue Reihe Biblische Gestalten, die bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig erscheint. Als ersten Band hat Rüdiger Lux Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern, 2001 vorgelegt.

4) Vgl. R. Kossmann, Die Esthernovelle - Vom Erzählten zur Erzählung. Studien zur Traditions- und Redaktionsgeschichte des Estherbuches, VT.S 79, Leiden u. a. 2000.

5) Vgl. J. A. Loader, Das Buch Ester, ATD 16,2, Göttingen 41992, 199-280.

6) Vgl. I. Kottsieper, Zusätze zu Ester, ATDA 5, Göttingen 1998, 109-207.

7) Vgl. P. Navè-Levinson, Esther erhebt ihre Stimme. Jüdische Frauen beten, Gütersloh 1993.

8) Vgl. D. Börner-Klein, Eine babylonische Auslegung der Ester-Geschichte. Der Midrasch in Megilla 10b-17a, JudUm 30, Frankfurt a. M. u. a. 1991.

9) Vgl. B. Ego, Targum Scheni zu Esther. Übersetzung, Kommentar und theologische Deutung, TSAJ 54, Tübingen 1996.

10) Vgl. L. Day, Three Faces of a Queen. Characterization in the Books of Esther, JSOT.S 186, Sheffield 1995.

11) Vgl. H. M. Wahl, "Glaube ohne Gott?" Zur Rede vom Gott Israels im hebräischen Buch Esther, BZ 45, 2001, 37-54; ders., "Jahwe, wo bist DU?" Gott, Glaube und Gemeinde in Esther, JSJ 31, 2000, 1-22.