Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/1998

Spalte:

848–850

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Koch, Klaus

Titel/Untertitel:

Europa und der Kaiser vor dem Hintergrund von zwei Jahrtausenden Rezeption des Buches Daniel.

Verlag:

Hamburg: Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften i. Komm. bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997. 171 S. 8 = Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Jg. 15, 1997, 1. Kart. DM 49,-. ISBN 3-525-86291-1.

Rezensent:

Ernst Haag

Der in der Apokalyptik- und Danielforschung als Exeget hochgeschätzte, inzwischen emeritierte Hamburger Alttestamentler unternimmt mit dieser Studie den Versuch, die Rezeptionsgeschichte des Buches Daniel in ihrer neu zu entdeckenden Bedeutung an einem heute aktuellen Thema, nämlich an der Ausbildung des Europabegriffs und Europabewußtseins, anschaulich zu machen. Primär geht es ihm dabei um eine vom Buch Daniel aus dem Alten Orient übernommene viergliedrige Epochentheorie, die Israel im Horizont seines monotheistischen Schöpfungsglaubens zu einer Eschatologie in Beziehung gesetzt hat, die ihrerseits alle Herrschaftssysteme der Weltgeschichte durch das Reich eines zukünftigen, geheimnisvollen Menschensohnes und seine ewige Gerechtigkeit abgelöst werden sieht (Dan 2 und 7). Diesen biblisch begründeten Grundriß der Weltgeschichte, der im Werden und Wachsen Europas eine Schlüsselrolle gespielt haben soll, verfolgt der Vf. in einem instruktiven Durchgang durch zwei Jahrtausende (morgen- und) abendländischer Geschichte: vom hellenistischen Zeitalter an über das Imperium Romanum mit seiner heidnischen Selbstüberschätzung, aber auch mit seiner auf das Rechtssystem von Rom als "aufhaltende Macht" (2Thess 2) gestützten christlichen Legitimation, über die Konstantinische Wende und die Christianisierung des Reiches, die Institution des mittelalterlichen Kaisertums und das sich auf die "zehn Hörner" (Dan 7) berufende Staatensystem gleichberechtigter Monarchien in der frühen Neuzeit bis hin zur napoleonischen Ära.

Im Rückblick auf die Rezeption des biblischen Geschichtsmodells, die auf den ersten Blick, wie der Vf. freimütig gesteht, "den Eindruck von verwirrender Willkür, von grotesken Mißverständnissen und unablässigen Manipulationen" (163) erweckt, glaubt er trotz allem an der Erkenntnis festhalten zu dürfen, "daß das Bewußtsein einer eigenen europäischen ,Identität’ und einer damit zusammenhängenden einzigartigen Bedeutung des lateinischen (und griechischen) Roms für Recht und Frieden in der Völkerwelt durch Jahrhunderte seinen Impuls und seine Legitimation aus jenem biblischen Modell gewonnen hat. Ohne die jüdisch-christliche Hochschätzung des Danielbuches", so meint er, "wäre Europa nicht zum Bewußtsein seiner selbst gelangt" (163). Hat das Danielmodell wirklich diese Bedeutung gehabt?

Die kritische Anfrage richtet sich zunächst auf die Eigenart und die Rolle der Rezeptionsgeschichte, wie sie der Vf. versteht: "Gehört es nicht notwendig", so fragt er, "zu einer vollen Rezeption anspruchsvoller literarischer und religiöser Texte, daß die Leser - gewollt oder ungewollt - aus dem Verstehenshorizont und den Bedingungen ihrer Zeit heraus einen eigenen Beitrag hinzubringen? Ist das ,semiotische Dreieck’ von Autor, verhandelter Sache und Rezipient nicht ein durchweg gültiges geschichtliches Phänomen" (6)? Ohne Zweifel. Theologisch macht es jedoch einen Wesensunterschied aus, ob die Rezeption eines Textes der Heiligen Schrift innerhalb oder außerhalb des Kanons der Bibel und der kirchlichen Lehrtradition erfolgt. Während im ersten Fall die Rezeption ein integrierendes Element der Glaubensüberlieferung des Gottesvolkes ist, stellt sie im zweiten Fall einen Vorgang der Religions- und Kulturgeschichte dar, deren Inhalte bekanntlich nicht mehr dem Offenbarungsanspruch der Bibel verpflichtet sind. Kann dann theologisch noch von einer Rezeption des Danielmodells in der Geschichte Europas die Rede sein?

Kritische Anfragen richten sich daher auch an die Auswertung des Danielmodells selbst. Wenn man nämlich bedenkt, daß die Vorstellung von einer Vier-Monarchien-Sukzession außerhalb des Buches Daniel nirgendwo eine metahistorische Ordnung beschreibt, sondern regelmäßig dazu dient, aktuelle politische Machtansprüche zu proklamieren, und daß erst die Übernahme dieser Vorstellung durch das Buch Daniel in ihrer neuen Funktion als parabolisch gedachte Umschreibung für die Totalität aller der Königsherrschaft Gottes entgegenstehenden Herrschaft in dieser Welt (Dan 2) ihr einen metahistorischen Charakter verliehen hat, der als solcher die Anwendung auf eine historische Sukzession politischer Mächte grundsätzlich verbietet, dann stellt sich die Frage, ob die Rezeption des Danielmodells in Europa theologisch immer dessen Sinn erfaßt hat. Ähnlich verhält es sich bei der Übernahme des Vier-Reiche-Schemas in die Menschensohnvision (Dan 7), wo im Horizont eines die ganze Weltgeschichte erfassenden Theophanigeschehens das Kommen des Menschensohnes als des Repräsentanten der ewigen Königsherrschaft Gottes mit den aus dem Chaosmeer aufsteigenden vier Tieren als der Totalität aller der Königsherrschaft Gottes entgegenstehenden Herrschaft in dieser Welt konfrontiert wird: im Ablauf eines Geschens also, das in der Abrechnung mit der sich in der Gestalt des Antijahwe manifestierenden Bösen und in der Aufrichtung der ewigen Königsherrschaft Gottes seinen unüberbietbaren Höhepunkt erreicht. Waltet hier nicht ein abgrundtiefer Gegensatz zwischen der danielischen Geschichtsdynamik und ihrer Eschatologie einerseits und der sich aus außerbiblischen Quellen herleitenden säkularen Fortschrittsideologie Europas und den Utopien seiner atheistischen Staats- und Gesellschaftssysteme andererseits?

Uneingeschränkte Zustimmung verdient jedoch der Vf., wenn er abschließend beim Aufweis der Perspektiven für die Zukunft im Hinblick auf die Anstrengungen der Gegenwart, eine europäische "Identität" zu bestimmen, die Frage stellt, "ob diese Aufgabe auf die Dauer ohne metaphysische Begründung gelingen mag" (167). Hier kann die Rezeptionsgeschichte des Buches Daniel in der Tat, auch in ihrer religions- und kulturgeschichtlichen Version, wichtige Denkanstöße vermitteln.