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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

227–233

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Gnilka, Joachim

Titel/Untertitel:

Der Matthäuskommentar von Ulrich Luz*

Das Kommentarwerk ist abgeschlossen. Mit der Vorlage des vierten Bandes konnte U. Luz seinen großen Matthäuskommentar vollenden, sein "halbes Lebenswerk", wie er selbst sagt, das ihn viele Jahre lang beansprucht hat. Innerhalb der ökumenischen Kommentarreihe des Evangelisch-Katholischen Kommentars ist damit ein wichtiger Schritt vorwärts getan und auch ein Zeichen gesetzt, dass es mit der Kommentarreihe weitergeht. 25 Jahre sind seit dem Erscheinen des ersten Evangelienkommentars in dieser Reihe (Markus) vergangen. Schon äußerlich betrachtet imponiert der Kommentar durch seinen enormen Umfang, vier Bände mit zusammen über zweitausend Seiten. Inzwischen ist fast gleichzeitig mit dem vierten Band die "völlig überarbeitete" 5. Auflage des ersten Bandes erschienen. Für den Rez. ist es sicherlich ein reizvolles Unterfangen festzustellen, welche Positionswechsel erfolgt sind, zumal in diesem Band die Einleitungsfragen abgehandelt werden.

Es sei erlaubt, zu Beginn einen Blick in die Vorworte zu werfen, die der Vf. den einzelnen Bänden in relativer Ausführlichkeit beigibt. Sie lassen etwas von den persönlichen Intentionen erkennen, die für die Beurteilung des Gesamtwerkes nicht unwichtig sind. Ganz am Anfang steht das Bekenntnis zum Text: "... der Kommentar ist wohl diejenige Literaturgattung, wo am unmittelbarsten zum Ausdruck kommt, daß wir Exegeten alles, was wir sind, unseren Texten verdanken und in allem, was wir tun, ihnen zu dienen haben" (Vorwort Bd. I1). Daneben und sogar von Band zu Band sich immer stärker in den Vordergrund schiebend, steht die Betonung der Wirkungsgeschichte der Texte. Dabei liegt der Ton auf den Kirchenvätern und der Exegese des 16.-18. Jh.s (Bd. I1). "Was meine Absicht war und ist, kommt vor allem bei der Wirkungsgeschichte heraus. Sie zeigt, wie die Texte bei verschiedenen Menschen, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Konfessionen immer wieder neu verstanden worden sind." Von hermeneutischer Relevanz ist die Wirkungsgeschichte insbesondere dort, wo der Vf. die Texte als "Produzenten von Sinn in neuen Situationen" begreift. An der Produktion des neuen Sinns seien sowohl jene beteiligt gewesen, die mit den Texten umgegangen sind als auch die Kirche, die die Texte eingebettet sah in die Gesamtheit des Evangeliums und der Bibel. Auch wir könnten biblische Texte heute im vollen Sinn nur verstehen, wenn wir uns selbst in sie hineinbegeben und unseren eigenen Sinn in ihnen entdecken (Bd. II), das heißt doch, einen neuen Sinn für uns. Es ging dem Vf. darum, die eigenen Aussagen, Offenheiten und Sinnpotenzen der Texte und ihren Richtungssinn im Gespräch mit der Wirkungsgeschichte herauszuarbeiten und im Blick auf die eigene heutige Situation vorsichtig zu positionieren. Die Frage nach der "richtigen" oder "falschen" Exegese spiele im Kommentar nur eine "sehr geringe Rolle", weil die Texte nicht in erster Linie Norm, sondern Quelle des Lebens sein wollen. Der Vf. ist von der Hoffnung beseelt, der Kommentar könne eine "indirekte Hilfe" sein, die verlorene Gottesnähe und die Kraft seiner Auferstehung neu zu entdecken (Bd. IV).

Es muss noch erwähnt werden, dass in diesen Zusammenhängen der Begriff "Kontext" eine Rolle spielt. Der Kontext sind die Adressaten des Kommentars, also jene, für die der Kommentar geschrieben wurde, und ihr Umfeld. Im Vorwort zu Bd. I1 wurden die Adressaten schlicht als die praktizierenden Seelsorger ("Priester, Pfarrer und Religionslehrer") bestimmt. In Bd. IV wird das Umfeld soziologisch bestimmt (schweizerisch, nordeuropäisch, postkonfessionell und postchristlich). Und der Vf. sagt: "Lebte ich in Südamerika, in Afrika oder in Asien, oder lebte ich in einem noch stärker christlich geprägten osteuropäischen oder südeuropäischen Land wie z. B. Rumänien, Polen oder Italien, hätte ich ihn vor allem in seinen wirkungsgeschichtlichen Teilen ganz anders schreiben müssen."

Durch diese Vorinformationen angeregt, kann sich der Leser an die Lektüre machen.

1. Einleitungsfragen

Die herkömmlichen und vieldiskutierten Probleme der Einleitung werden eingangs in acht Punkten (I5, 21-114) behandelt, in der älteren Auflage waren es sechs. Ich greife die interessant erscheinenden heraus.

Gegenüber der Auffassung, dass es eine Gesamtgliederung des Matthäusevangeliums gibt, ist der Vf. skeptisch: "Eine klare Disposition liegt offenbar nicht auf der Hand" (25). Mt legt größeren Wert auf einen lückenlosen Erzählablauf als auf eine klare Unterscheidung von Hauptteilen. Es ließe sich aber eine sorgfältig disponierende Arbeit in kürzeren Textabschnitten erkennen (zahlreiche Beispiele). Der Vf. sieht darin einen Hinweis darauf, dass das Evangelium dazu bestimmt gewesen sei, nicht als Ganzes, sondern in diesen mehr oder weniger großen Texteinheiten vorgelesen zu werden. Die Redekompositionen, die die Aneignung der Verkündigung Jesu erheblich erleichtern, werden als glänzende didaktische Leistung gewertet. Der Vf. will fünf Reden zählen und sie zum Pentateuch in Beziehung setzen, allerdings erst in der Neuauflage: "Mt schreibt also für seine Gemeinde eine ähnlich wie der Pentateuch strukturierte Grundgeschichte" (39). In der älteren Auflage hieß es noch: "Man sollte nichts in die Fünfzahl hineingeheimnissen" (26).

Es bleibt die Schwierigkeit, dass die eschatologische Rede - dann die sechste - wie auch die anderen Reden ein eigenes Eingangsszenario und Publikum erhält (Mt 24,1 f.). Wird sie dadurch nicht verselbständigt?

Eine wichtige Korrektur, der man nur zustimmen kann, erfährt die inhaltliche Bestimmung des Erzählablaufs im Evangelium in der Neuauflage. Während es in der älteren Auflage im Wesentlichen einfach hieß, dass das Matthäusevangelium die Geschichte des Gottessohnes Jesus erzählt (26), also der christologische Aspekt als der allein entscheidende angesehen wurde, wird in der Neuauflage der "ekklesiologische" Aspekt mit eingeholt. Jetzt ist erkannt, dass Matthäus die Geschichte des Wirkens Jesu in Israel erzählt, dass es eine Konfliktgeschichte ist, dass die Jüngergemeinde in Israel entsteht, dass sich in der matthäischen Jesusgeschichte Erfahrungen der matthäischen Gemeinde widerspiegeln, dass diese Geschichte so zu einer "inklusiven Geschichte" wird, zu einem "two-level-drama", in dem die Jesusgeschichte gleichzeitig die Gegenwartsgeschichte der Gemeinde darstellt (35-37).

Die Frage nach der Gattung des Matthäusevangeliums hat der Vf. erweitert, zu einem eigenen Punkt erhoben und mit dem Zusatz versehen "Gattung und Absicht des Evangeliums". Dieser zusätzliche Punkt in der Neuauflage ist besonders interessant, weil er eine - wenn auch knappe - Auseinandersetzung mit dem amerikanischen literary criticism bietet, der den Vf. seit der Erstauflage eingeholt hat. In der Bestimmung der Gattung bleibt er wie in der Erstauflage bei der durchaus Zustimmung verdienenden Meinung, dass Matthäus sich seiner Vorlage des Markusevangeliums anschließt, also die von Markus neu geschaffene Gattung des Evangeliums übernimmt, und somit die Ausschau nach Analogien in der Umwelt nicht zum Ziel führt. Freilich wird damit die Frage nach einer Gattung für Matthäus zu einer sekundären Frage. Die unjüdisch erscheinende Geschichte eines Menschen von seiner Geburt bis zum Tod ist bewusst in biblische Farben gekleidet.

Das Aufgreifen von Ideen des literary criticism konzentriert der Vf. auf die Frage nach literarischen Strategien, mittels derer die Leser und Leserinnen in die matthäische Jesusgeschichte hineinkommen und ihre eigenen Erfahrungen mit ihr verschränken. Im Blick ist also der "wirkliche" Leser des Matthäusevangeliums, womit jener Leser gemeint ist, den schon Matthäus im Visier hatte. Die historische Perspektive wird demnach nicht verlassen. Das ist sympathisch. Es stellt sich aber doch die Frage ein, was die Herausarbeitung der Strategien Neues bringt. Dass Jesus im Evangelium "eine ganz außerordentliche Autorität" für die Leser einnimmt (44) oder dass das Evangelium eine Hoffnungsgeschichte ist (47), haben wir doch eigentlich schon gewusst. Ich weiß nicht, ob es gelingen könnte, mit Hilfe des literary criticism den heutigen Leser auf beeindruckende Weise in die Auseinandersetzung mit dem Text hineinzunehmen, ein Anliegen, das gemäß den Vorworten dem Vf. entgegenkäme. Das könnte lohnen. Der Vf. aber scheint hier skeptisch zu sein und hat einen anderen Weg gewählt, eben den der Wirkungsgeschichte.

In den Punkten 3-5 bietet der Vf. gleichsam einen Blick auf den Schreibtisch des Evangelisten: Quellen, Stil mit Syntax und matthäischem Vorzugsvokabular, das Verhältnis zu seinen Quellen. Hier findet sich eine gute Zusammenfassung der Argumente, die für die Zweiquellentheorie sprechen, daneben eine akribisch zusammengestellte, 20 Seiten umfassende Liste des matthäischen Vorzugsvokabulars (57-77). Der Stil wird als gestrafft, wiederholend, stark durch die Septuaginta geprägt, jüdisch, gelegentlich rabbinisch charakterisiert. Der Vf. sieht den Evangelisten als Exponenten seiner Gemeinde geprägt. Zum einen überliefere er gottesdienstliche Traditionen (Unservater, Eucharistie, Taufe, Sündenvergebung). Zum anderen stehe hinter ihm eine Schule von christlichen Schriftgelehrten. Diese alte These wird dahingehend eigengeprägt, dass Matthäus nicht zu dieser Schule gehörig, sondern von ihr abhängig gesehen wird.

Auch Punkt 6 der Einleitung: "Die Situation des Matthäusevangeliums", der gegenüber der älteren Auflage nicht unerheblich erweitert worden ist, ist für das Verständnis des Gesamtkommentarwerks von Bedeutung. Wenn der Vf. das Evangelium in einer judenchristlichen Gemeinde entstanden und von einem judenchristlichen Autor abgefasst sieht, wird man ihm gern zustimmen. Das vieldiskutierte Papiaszeugnis möchte er - allerdings sehr zögerlich - im Sinne J. Kürzingers interpretieren, wonach Matthäus "in jüdischer Darstellungsweise" die Überlieferungen ordnete (also kein Sprachbezug).

Die Gemeinde des Matthäus ist von wandernden Boten und Propheten der palästinischen Logienquelle in Syrien - möglicherweise in Antiochien - gegründet worden, mit denen sie weiterhin in engem Kontakt steht. Matthäus befindet sich demnach nicht nur in sprachlicher und theologischer, sondern auch in historischer Kontinuität zu Q. Ist dies auch nicht neu, so wirkt doch die These überraschend, dass die Mitglieder der Gemeinde, für die Jesus der "einzige Lehrer" (23,8) geworden ist, einem dem "Volk des Landes" zugehörigen Judentum, näherhin dem Am ha-arez, entstammen. In dieser zugegebenermaßen sehr schwierigen Frage wird man wohl noch stärker damit rechnen müssen, dass die Gemeinde bereits auf eine Geschichte, auch die der theologischen Binnendiskussion (vgl. besonders 5,17-20), zurückblickt und dass ein hellenistisch-judenchristliches Element mit einzubringen ist, das die Entscheidung für die Heidenmission beschleunigte.

Kaum zu lösen ist die Frage nach dem Verhältnis der matthäischen Gemeinde zum Judentum. Hier stehen konträre Auffassungen einander gegenüber wie: die Gemeinde stehe noch ganz im Verband der Synagoge, oder aber: sie habe mit dieser gebrochen. Der Vf. schlägt eine elegante Zwischenlösung vor, indem er zwischen Innen und Außen unterscheidet. Nach außen habe die Gemeinde mit der Synagoge gebrochen, nach innen aber würden sich die Gemeindemitglieder nach wie vor mit Israel identifizieren. Was fängt man bei dieser These von der "gespaltenen Identität" (98) mit Mt 23,2 f. an?

2. Exegese

Die Kommentierung ist streng gegliedert in Analyse, Erklärung, Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung und gelegentlich "heutiger Sinn", Letzteres besonders bei kritischen Perikopen wie Judasverrat (IV, 75), leeres Grab (IV, 414), Missionsbefehl (IV, 458), Weherede (III, 314.352.375). Immer wieder wird auch die Wirkungsgeschichte in die Erklärung einbezogen, was die Lektüre flüssiger macht. Acht größere Exkurse sind dem Kommentar beigegeben, oft finden sich zusätzliche stichwortartig gekennzeichnete Sacherklärungen. Insgesamt bietet der Vf. eine schier unermessliche Fülle von Informationen, bei der man fast den Eindruck gewinnt, dass möglichst alles erfasst werden sollte. Diese Informationen betreffen nicht nur den Text, sondern eben auch die Wirkungsgeschichte. Hier unterscheidet der Vf. zwischen Auslegungs- (bezogen auf Kommentare) und Wirkungsgeschichte (alles übrige miteinbeziehend). Um nur einen ersten Eindruck von der Reichhaltigkeit des Kommentarwerks zu vermitteln, verweise ich auf die Wirkungsgeschichte zur Passionsgeschichte (IV, 13-48), die auch Grundmodelle der Passionsfrömmigkeit von der Alten Kirche über Hoch- und Spätmittelalter bis zur reformatorischen Passionsfrömmigkeit, die Passion in der Musik, in der bildenden Kunst (mit Bildbeigaben) und Passions- und Osterspiele mit umgreift. Als besonders hilfreich können die zusammenfassenden Überlegungen zu den einzelnen sechs (!) Redekompositionen und im Sinn der Grundintention des Vf.s die übergreifenden Reflexionen gelten, die die Titel tragen: Überlegungen zur Praxis der Bergpredigt heute, zur Bedeutung der matthäischen Wundergeschichten heute, zum Sinn der Weherede heute, zur Bedeutung der Jesusgeschichte des Matthäus heute usw.

Angesichts der überströmenden Fülle des zu besprechenden Materials sieht sich der Rez. in einer gewissen Verlegenheit. Um der Bedeutung des Kommentarwerks einigermaßen zu entsprechen, greife ich Beispiele heraus, die exemplarisch Licht auf die Kommentierung werfen in der Art, wie ich sie allgemein angezeigt habe. Weil, wie ich sehe, der Vf. in rein textinterpretatorischen Fragen zu einem beträchtlichen Teil mit meinem Matthäuskommentar übereinstimmt, auf den ich unbescheidenerweise hinweisen darf,1 lege ich den Akzent auf die Wirkungsgeschichte als das Proprium des Luz-Kommentars.

a) Bergpredigt. "Die Bergpredigt ist die grundlegende und programmatische Darstellung der Verkündigung des Lehrers Jesus, des Messias Israels" (I5, 541). Sie befinde sich in Kontinuität zur Predigt Jesu mit spezifischen Akzentunterschieden. Der bedeutendste ist der andere Akzent in der Eschatologie. Während Jesus "die zeichenhafte Realisation des ankommenden Gottesreichs inmitten der alten Welt" (I5, 545) wahrnimmt, ist für Matthäus das Himmelreich Zukunft. Nach Ostern sei eine Neuorientierung notwendig gewesen.

Der eigentliche Knackpunkt der Interpretation ist das hermeneutische Problem. Sind die radikalen Forderungen praktikabel? Wenn für Matthäus das Tun des Willens Gottes zentral ist, wenn nur als Christ gelten kann, wer gemäß den Weisungen Jesu handelt, wenn die Bergpredigt erfüllter Nomos ist, muss man ihm nicht Werkgerechtigkeit vorwerfen? Der Vf. legt überzeugend dar, dass dem nicht so ist, dass das Evangelium der Tat vielmehr Ausdruck der Gnade ist (ähnlich schon G. Strecker), dass dem Wirken des Menschen ein unverfügbares Geschenk vorausgeht, insofern es Jesus, der Heilbringer ist, der uns die Bergpredigt vorlegt. Bestechend erscheint, was der Vf. anhand der Wirkungsgeschichte für das Verständnis beibringen kann. So hat etwa die altkirchliche und mittelalterliche Auslegung die sieben Seligpreisungen, die Matthäus ethisiert hatte, in ihrer ganzheitlichen Auffassung von der Schrift neben die sieben Gaben des Heiligen Geistes und die sieben Vaterunserbitten gestellt, um die Verbindung von Gebet, Gnade und Tugend zu dokumentieren. Wollte sie damit ein Defizit von Mt 5 ausgleichen? Protestantische Exegese hatte oft Schwierigkeiten mit der matthäischen "Gerechtigkeit" und interpretierte sie von Paulus her. Dagegen Luz: Der ethischen Deutung, die die Alte Kirche mit gutem Gespür fast ausschließlich vertreten hat, steht "nichts" entgegen (I, 284). M. Luther warf Matthäus Werkgerechtigkeit im Kontext von 5,16 vor und sah in den Forderungen der Bergpredigt einen Anlass, dem Menschen sein Sündersein zum Bewusstsein zu bringen. Dazu Luz: "gründlicher konnte der Text nicht mißverstanden werden" (I, 302). Allerdings darf ich als katholischer Exeget in Erinnerung rufen, dass auch Luther seinen "Kontext" (siehe oben) hatte, der ihn bestimmte und bewegte. Freilich macht der Vf. bleibende Anliegen des reformatorischen Interpretationsansatzes geltend in der Auslegung für das Heute. Im weitesten Sinn sei dies mit dem Primat der Gnade die Widerlegung der Vorstellung von der Autonomie des Menschen und der Machbarkeit der Grundlagen des Lebens.

Der Vf. hält die Forderungen der Bergpredigt unbedingt für realisierbar. Immer wurden sie für praktikabel angesehen, "für Mt wie für die gesamte Kirche bis in die nachreformatorische Zeit" (I, 542). Die mittelalterliche Armutsbewegung (Franziskus) bezeuge die Kraft des "Salzes" der Bergpredigt. Gerade heute sei die Bergpredigt realisierungsbedürftig, auch im politischen Bereich, entgegen bekannten anderen Auffassungen (Helmut Schmidt: "Ende aller menschlichen Politik"). Muss die Kirche zur Sekte werden? Auch auf diese Frage geht der Vf. ein. Er schätzt die matthäische Gemeinde als Sekte ein gemäß den soziologischen Regeln von M. Weber, E. Troeltsch und anderen. Zu diesen Regeln gehören die kleine Zahl, die Tendenz zu einem Exklusivitätsanspruch, ein elitärer Charakter (Ausschlussverfahren in 18,15-17), das Streben nach ethischer Heiligkeit. Der Vf. fügt aber notwendig korrigierend hinzu, dass der Sektencharakter aufgesprengt werde (III, 83-86). Am Schluss steht immerhin der universale Missionsbefehl (28,16- 20)!

Entsprechend dem Duktus des Kommentars sieht der Vf. im Blick auf unsere "Volkskirchen" heute voraus, dass sie künftig zur Sekte im besagten Sinn und eventuell auch wider Willen werden müssten, wenn es ihnen neben anderen notwendigen Veränderungen gelingt, die Leitlinie der "Niedrigkeit" zu bewahren.

b) Antijudaismus? Diese Frage ist an verschiedenen Stellen anwesend, konzentriert sich aber auf Mt 23. In einer auch hier gelungenen Exegese vermag der Vf. im Verständnis der Folge von sieben Scheltworten und zwei Gerichtsankündigungen die ganze Wucht der Rede aufzufangen, die auf ganz Israel - und nicht bloß die Schriftgelehrten und Pharisäer - gerichtet ist und an die sich 27,25 nur konsequent anfügt. Der Vf. warnt vor Umdeutungen, die auf Paränese oder neue Sinndeutungen ausweichen. Die Rede sei "härter und definitiver" als alle prophetische Schelte (III, 395), weil der Menschensohn Jesus spricht. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte - man hört es mit Staunen- habe Mt 23 in der christlichen Polemik gegen das Judentum eine "verhältnismäßig geringe Rolle" gespielt (III, 397), sie habe aber unser Bild des Judentums entscheidend geprägt. Unter sozialpsychologischem Aspekt sei die Polemik "in hohem Maße" verständlich (III, 400). Hier äußere sich ein Judenchrist, der die Trennung von der Synagoge - erneut kommt diese Problematik zur Sprache - zutiefst bedaure ("Geschwisterkonflikt") und der sich nicht als Vertreter einer neuen Religion, sondern als "Israelit" begreift. Den Vorwurf des Antijudaismus hätte er niemals begriffen (III, 395). Darf man ihn dann aber erheben? Erst als das Matthäusevangelium von der heidenchristlichen Kirche kanonisiert wurde, sei eine neue antijüdisch besetzte Situation entstanden. Der Vf. fordert mit Recht und mit scharfen Worten zur theologischen Sachkritik auf, bei der man nur an die von Mt sonst gesetzten Kriterien zu erinnern brauchte (z. B. Gebot der Feindesliebe).

c) Mt 16,17-19. In einem ökumenischen Kommentar verdient die Interpretation dieses Textes besondere Aufmerksamkeit. Der Text, der von der Gründung der Kirche handelt, die in Israel geschieht, schließt an die Auseinandersetzung mit Israel an und schafft einen Übergang. Der historische Petrus bleibt nach Meinung des Vf.s, der sich hier O. Cullmann anschließt, das "Fundament für alle Kirchen aller Zeiten" wegen der "Verwurzelung des Bleibenden im Einmaligen" (II, 471). Eine Sukzession im Petrusamt kennt Mt nicht, wohl aber die Fortsetzung des Petrusdienstes, der insbesondere in der öffentlichen Bezeugung des unverkürzten Christusglaubens und der bleibenden Verpflichtung auf das Programm Jesu besteht (Hinweise auf Mt 16,16.19 und 18,18). Volle Zustimmung!

Informativ ist der Abriss der Interpretationsgeschichte, für die drei Deutungstypen referiert werden: der ostkirchliche, der augustinische und der römische. Hier setzt der Vf. nun mit seiner eigenen Hermeneutik der Wirkungsgeschichte ein, nach der der Sinn eines biblischen Textes nicht bloß in der Reproduktion seines Ursprungssinnes besteht, sondern in der Produktion von neuem Sinn in neuer Situation. Dies schafft die Möglichkeit, für jede Deutung offen zu sein, auch für die römische. Um nicht dem Verdikt zu verfallen, dass die Schrift keine Möglichkeit mehr biete, kritische Instanz der Kirche zu sein, gilt es das zu erarbeiten, was der "Richtungssinn" der Schrift genannt wird. Und hier wird der römischen Deutung bescheinigt, dass sie sich am weitesten vom Text entfernt habe, weil nach dieser in einem einzigen besonderen Amtsträger Petrus vergegenwärtigt wird. Doch allen drei Deutungstypen wird zugestanden, dass in ihnen "ein Stück Wahrheit des christlichen Glaubens" fortlebt (II, 480). Der Vf. favorisiert den augustinischen Deutungstyp der Repräsentation und spricht pluralistisch von Petrusämtern, um an alle Kirchen - mit Nachdruck an die römisch-katholische - die kritische Frage zu richten, inwiefern die "Petrusämter" in ihnen der Einheit der ganzen Kirche dienen.

3. Fazit

Der vorliegende Mt-Kommentar des EKK, über den hier nur exemplarisch referiert werden konnte, ist eine Musterleistung der Exegese. Interpretatorisch zuverlässig informierend, bietet er als Novum den weitreichenden Einblick in die Interpretationsgeschichte, von der aus man die Texte in einem neuen Licht lesen lernt. Der subjektiven Auslegung wird relativ weiter Raum gewährt, das Stellung beziehende Ich des Vf.s kommt oft zu Wort. Vielleicht wird das, was Gadamer den Horizont nannte, manchmal etwas zu irenisch betrachtet. Die "gefährliche Erinnerung" W. Benjamins, die provozieren will, ist zurückgestellt. Der Versuch, die Texte in das Heute einzubeziehen, ist mutig und für einen weiteren Leserkreis hilfreich, mag er vielleicht auch manchem weniger gefallen. Wenn man einen ernsthafteren Einwand vorbringen will, so ist es der enorme Umfang, mit dem sich das gelungene Kommentarwerk, dem man eine weite Verbreitung wünscht, doch selbst etwas im Wege steht. Um das reichhaltige Material besser ausschöpfen zu können, wäre es zu wünschen, dass jedem der vier Bände, nicht bloß dem vierten, ein größeres Sachregister beigegeben würde. Man muss Ulrich Luz zu seinem Kommentarwerk beglückwünschen!

Fussnoten:

* Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1-7. 4., durchges. Aufl. XII, 420 S. Kart. ¬ 49,90. ISBN 3-545-23118-6 u. 3-7887-1331-3; 1. Teilband: Mt 1-7. 5., völlig neu bearb. Aufl. XIV, 554 S. m. 3 Abb. u. 1 Leporello. Kart. ¬ 79,00. ISBN 3-545-23135-6 u. 3-7887-1829-3; 2. Teilband: Mt 8-17. 3., durchges. Aufl. XIV, 537 S. Kart. ¬ 79,00. ISBN 3-545-23128-3 u. 3-7887-1571-5; 3. Teilband: Mt 18-25. XII, 561 S. Kart. ¬ 79,00. ISBN 3-545-23129-1 u. 3-7887-1580-4; 4. Teilband: Mt 26-28. XII, 483 S. m. 58 Abb. Kart. ¬ 79,00. ISBN 3-545-23134-8 u. 3-7887-1681-9. Düsseldorf-Zürich: Benziger u. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997/2002/1999/1997/2002 gr.8 = Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, I/1-4.

Luz, Ulrich: Matthew 1-7. A Continental Commentary. Transl. by W. C. Linss. Minneapolis: Augsburg Fortress Press 1989. 460 S. gr.8. Geb. $ 49,00. ISBN 0-8006-9600-X.

Luz, Ulrich: Matthew 8-20. A Commentary. Transl. by E. Crouch. Ed. by H. Koester. Minneapolis: Augsburg Fortress Press 2001. XXXVII, 608 S. gr.8 = Hermeneia - A Critical and Historical Commentary on the Bible. Lw. $ 69,00. ISBN 0-8006-6034-X.

1) J. Gnilka, Das Matthäusevangelium (Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament) 2 Bände, Freiburg-Basel-Wien 1986 und 1988, 2. u. 3. Aufl. 1992 u. 1993, Taschenbuchausgabe 2000.