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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

222–224

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schöll, Albrecht, u. Heinz Streib

Titel/Untertitel:

Wege der Entzauberung. Jugendliche Sinnsuche und Okkultfaszination. Kontexte und Analysen.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 232 S. m. 6 Abb. gr.8 = Schriften aus dem Comenius-Institut, 1. Kart. ¬ 20,90. ISBN 3-8258-4825-6.

Rezensent:

Gabriele Klappenecker

In diesem ersten Band aus der neuen Reihe des Comenius-Institutes in Münster, das gegenwärtige "Bildungs- und Erziehungsprobleme aus evangelischer Verantwortung" fokussiert, wird ein spezifischer Zugang zur Okkultfaszination Jugendlicher gewählt. Bisherige, vorwiegend quantitativ-empirische Studien zu dieser Thematik (die in Kap. 1 zusammengefasst werden), enthalten zwar wertvolle Hinweise zu diesem Phänomen, so die Autoren. Diese Studien vermögen aber keine Auskunft zu geben über die biographische Kontextualisierung der Okkultfaszination, über die Rolle, die die (kirchliche) Religiosität dabei spielt, sowie über psychische Krisen und suizidale Neigungen.

Um Antworten aus der Biographie- und Religionsforschung geben zu können, die es ermöglichen, sich mit der nicht ungefährlichen Okkultfaszination Jugendlicher auseinander setzen zu können, haben die Autoren Erzählinterviews mit okkultfaszinierten Jugendlichen durchgeführt im Rahmen eines Projektes mit dem Titel: "Wege der Entzauberung. Fallanalysen okkultfaszinierter Jugendlicher". In den Hauptteil ihres Buches haben die Autoren 15 repräsentative narrative Interviews mit Jugendlichen im Alter von 13 bis 23 Jahren aus diesem Projekt aufgenommen (Kap. 2-4). Es war an der Universität Bielefeld als Drittmittelprojekt verankert und wurde im Forschungsverband mit dem Comenius-Institut durchgeführt. Das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg hat die Forschung finanziell unterstützt.

Für die Untersuchung grundlegend, so die Autoren, waren folgende Einsichten: Aus der Ethnologie wurde die Sensibilisierung dafür aufgenommen, dass es eine Differenz gibt zwischen Fremddeutungen aus der Perspektive außenstehender Beobachtender und den Deutungen der Akteurinnen und Akteure selbst. Darüber hinaus sollte aus der Orientierung an qualitativen Methoden biographisch-rekonstruktiver Sozialforschung der Zugang zur Tiefe der Motivation für die Okkultfaszination und zur (zeitlichen) Weite biographischer Entwicklung, in die diese Faszination eingebettet ist, gewonnen werden. Die neue Theorieperspektive auf die Okkultfaszination beinhaltet nun Folgendes: 1. Okkultismus wird als "magisches Denken und Handeln" interpretiert, welches Streib definiert als "... expressives Verhalten, das ... einem fremden Denken auf[ruht] ... und sich in Formen von Symbolisierung und Ritualisierung entfaltet ..." (22), 2. "Lebensthemen" werden wahrgenommen, d. h. "tief gehende ... Prägungen, die ... die Aufmerksamkeit der Person erfordern und zu Bearbeitungsversuchen ... Anlaß geben" (Streib, 23), 3. Stile magischen Denkens und Handelns werden berücksichtigt: In Anlehnung an die Stufen- bzw. Phasenmodelle James W. Fowlers, Robert Kegans und anderer Entwicklungspsychologen und Theologen wird ein Modell entworfen, das bestimmte, mit der biographischen Entwicklung "mitwachsende" Stile magischen Denkens und Handelns voneinander zu unterscheiden erlaubt. Es gibt einen ozeanisch-partizipativen Stil, dem der defensiv-beschwichtigende, der reziprok-instrumentelle, der mutuell-partizipative, der systemisch-kontrollierende Stil und schließlich der Stil eines komplementär-integrativen Zu- und Umgangs mit Magie aufruht. Streib setzt in diesem sehr komprimiert geschriebenen Teil leider eine Vorkenntnis der Stufenmodelle und Biographieforschung voraus, die nicht von allen Leserinnen und Lesern erwartet werden kann. 4. Auf einem religionssoziologischen Hintergrund werden die Rituale jugendlicher Religion interpretiert und typisiert. 5. Die Okkultfaszination wird von der Adoleszenz-Forschung in der Soziologie beleuchtet. Albrecht Schöll gelingt es in diesem von ihm verfassten Kapitel auf der Basis reicher Theorieverarbeitung, die Okkultfaszination Jugendlicher im Kontext der Moderne plausibel zu interpretieren: Jugendlichen eröffnen sich einerseits immer weitere Entfaltungsmöglichkeiten und Freiheitsräume. Sie stehen andererseits aber auch unter dem Zwang, Lebenslauf und Lebensführung ganz selbst gestalten zu müssen, was zu vereinzelten und atomisierten Tagesabläufen führen kann. In diesem Kontext kommt es dazu, dass okkulte Praktiken verstärkt zur Biographiebewältigung herangezogen werden. Dies kann aber dazu führen, dass Jugendliche ihre Lebensgestaltung an "Geister" oder psychomotorische Automatismen delegieren.

Die in den folgenden drei Kapiteln niedergelegten narrativen Interviews zusammengefasst wiederzugeben, würde ihnen die von den Autoren gerade intendierte Anschaulichkeit nehmen und das differenzierte "Hören" auf die Sprache des jeweiligen Falles einschränken, durch welches sich die Interviewenden (d.h. die Autoren sowie Sabine Grenz und Andrea Wyschka) besonders auszeichnen. Die Interviews können daher nur der eigenen Lektüre empfohlen werden. Es ist sogar anzuraten, hier mit der Lektüre einzusetzen und sich erst dann in die theoretischen Grundlegungen im 1. und 5. Kapitel zu vertiefen.

Spätestens in diesem letzten Kapitel wird deutlich, dass jugendliche Okkultpraxis nicht nur als Ausdruck einer irregeleiteten theoretischen Weltsicht zu begreifen ist. Vielmehr lässt das hierin zum Ausdruck kommende magische Denken und Handeln Entwicklungspotentiale erkennbar werden. Diese sind von denjenigen aufzugreifen, die Jugendliche im Kontext von Schule, Kirche und Therapie lebensgeschichtlich begleiten. Bildungs- und Erziehungsarbeit, so die Autoren, muss darin bestehen, die Sinnsuche Jugendlicher zu unterstützen. Das bedeutet, sie aus dem dinghaft-konkreten Geisterverständnis herauszuführen und ein entmythologisierendes oder sogar symbolisches Verständnis zu ermöglichen, etwa auf dem Weg der Symboldidaktik. Ein narratives Durcharbeiten von Lebensthemen kann dazu beitragen, dass ein unkontrolliertes oder unreflektiertes Überhandnehmen schwerwiegender Lebensthemen im Okkultpraktizieren zwar nicht ganz auszuschließen ist, aber bearbeitbar wird. Die Unterstützung bei der Beschäftigung mit der Sinnsuche kann, wie im Fall eines der beschriebenen Jugendlichen besonders deutlich wird, dazu führen, dass er die Kommunikationsformen, die er im Okkultismus ausagierte, später im Raum schulischer, kirchlicher oder vereinsmäßiger Angebote auf einer neu gewonnenen Stil-Ebene leben kann.

Es bleibt folgende Anfrage: Im Schlusskapitel wird sozusagen als "Idealziel" der Begleitung okkultfaszinierter Jugendlicher immer wieder genannt: "Erwachsenwerden in hinreichend autonomer Weltbild- und Lebensgestaltung." (213) Wird der Begriff der Autonomie, der von Lawrence Kohlbergs kognitiv-strukturellem Ansatz her dahingehend vorbelastet ist, dass dessen Kehrseite sich als Solipsismus darstellt, hier nicht überstrapaziert? Könnte man nicht - ganz im Sinne der Kritik Carol Gilligans an Kohlberg - formulieren: "Erwachsenwerden in hinreichend beziehungsfähiger Weltbild- und Lebensgestaltung"?

Das Buch eröffnet auf Grund der hier vorgestellten "hörenden", rekonstruierenden und eben nicht ausschließlich vordefinierenden oder rein theoriegesteuerten Verfahrensweise einen sensibilisierten, erfahrungsgesättigten Zugang zu Jugendlichen, die Okkultismus praktizieren.