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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

215–217

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lange, Dietz

Titel/Untertitel:

Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis. 2. Aufl.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 551 S. 8 = UTB für Wissenschaft, 2293. Kart. ¬ 25,90. ISBN 3-525-03235-8.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Zehn Jahre nach ihrer Erstpublikation ist die von Dietz Lange verfasste evangelische Ethik nun in zweiter Auflage erschienen. Gegenüber der ersten Auflage sind Veränderungen oder Erweiterungen nicht vorgenommen worden (vgl. den Hinweis auf 6). Da das Buch formale Grundlagenfragen evangelischer Morallehre erörtert, jedoch keine materiale oder angewandte Ethik beinhaltet, keine Bereichsethiken anspricht und daher auch nicht die Neuentwicklungen in der Wirtschafts-, Umwelt-, Medizin- oder Bioethik zu berücksichtigen hätte, bringt der unveränderte Nachdruck der Erstauflage keine Beeinträchtigung des Gehaltes des Buches mit sich.

Es ist in zwei Teile aufgegliedert. Der erste Teil stellt die Ethikdebatte der evangelischen Theologie seit 1918 dar. Nun mag man geteilter Meinung sein, inwieweit sich die dem Jahr 1918 vorausgehende Tradition, namentlich die liberale Theologie und der Kulturprotestantismus, sinnvollerweise ausblenden lassen, wenn die für heutige evangelische Ethik relevanten geistesgeschichtlichen Hintergründe zur Sprache gebracht werden sollen. Indes werden Leitideen dieser zurückliegenden Epoche, darunter Vorstellungen Schleiermachers, im zweiten, systematischen Teil des Buches durchweg berücksichtigt (z. B. 249), so dass eine Kompensation stattfindet. Als besonders großer Vorzug des ersten, die neuere Theologiegeschichte darstellenden Buchteils ist herauszuheben, dass er sich nicht auf die deutschsprachige evangelische Ethik beschränkt. Beachtung verdient die Entfaltung hierzulande kaum bekannter skandinavischer Positionen. Für Dänemark wird auf E. Geismar, N. H. Soe und K. E. Logstrup, für Schweden auf Nygren, Aulén, Wingren sowie weitere Autoren aufmerksam gemacht. Dabei tritt zutage, dass in Skandininavien die dogmatisch bekenntnishaft angelegte Ethiklehre K. Barths keinen nennenswerten Einfluss gewonnen hat. Stattdessen dominierten dort die lutherische Tradition und die Auslegung der Zweireichelehre.

Der skandinavische lutherische Akzent ist auch für L.s eigenen Ansatz von Belang, denn es handelt sich um ein im engeren Sinn lutherisches, nämlich sündentheologisch ansetzendes Ethikmodell. Daher legt L. Wert darauf, dass in der Schule von Lund, besonders im Opus von Gustaf Aulén, "mit dem - zunächst archaisch anmutenden - Motiv des Kampfes Gottes gegen das Böse ... ein wichtiger Aspekt der ethischen Wirklichkeit beleuchtet" worden sei, "der in vielen kontinentalen Ethiken zu kurz kommt" (157). Der gleiche Schwerpunkt wird aus der US-amerikanischen Ethik rezipiert: Gewürdigt wird der bei Reinhold Niebuhr zutage tretende Reflexionsstrang, der die Sündenlehre und, im Widerspruch zu nationalen zivilreligiösen Ideologien in den USA, das strukturell Böse thematisierte (200).

In Bezug auf amerikanische Denkansätze grenzt L. sich von Stanley Hauerwas' kirchlich-kommunitaristischem story-Konzept christlicher Ethik mit guten Gründen deutlich ab. Kritisiert werden Hauerwas' Moralismus, seine selektive Rezeption von Bibelstellen, die einseitige Binnenzentrierung seiner kirchlich-moralischen Urteilsfindungen bzw. seine Marginalisierung der modernen Säkularisierung (198 f.200 f.).

Zur deutschsprachigen Ethik des 20. Jh.s berichtet das Buch ausgehend von K. Barth über so unterschiedliche Autoren wie Thielicke, Arthur Rich oder Trutz Rendtorff. Dieser einleitende Buchabschnitt (29-102) ist für Studien- und Repetitoriumszwecke gut geeignet. Es trifft ins Schwarze, wenn L. zur deutschsprachigen evangelischen Ethik des 20. Jh.s das skeptische Fazit zieht, sie sei über weite Strecken hinweg durch die Antithese zwischen einer von Barth geprägten dogmatisch-deduktiven, rationale Argumentationen und Plausibilitätsanfordernisse beiseite rückenden konfessorischen Morallehre einerseits und andererseits einem staats- und sozialkonservativen lutherischen Ethiktypus - kulminierend in der ideologieanfälligen Ordnungstheologie - geprägt und beeinträchtigt gewesen. Beide Stränge waren- so bringt L. es auf den Punkt - von einem "ausgesprochen antiliberalen Affekt" bestimmt (101). Inzwischen ist, etwa durch die Bioethikdebatte seit 2000, noch deutlicher geworden, dass die jahrzehntelange Reduktion evangelischer Ethik auf den Antagonismus dieser beiden Traditionslinien zum Verlust der Anschlussfähigkeit an allgemeinethische, rechtspolitische und kulturelle Gegenwartsdiskurse beigetragen hat.

Dem systematischen Teil des von L. vorgelegten Buches geht es sinnvollerweise um eine Überwindung der enggeführten Antithese von Barthianisch-konfessorischer versus statisch-sozialkonservativer Ethik. Wegweisend erscheint mir, dass L. anthropologisch ansetzt und unter anderem die Geschichtlichkeit sittlicher Erfahrung in Rechnung stellt (311 ff.). In der Kontinuität zu gewichtigen evangelischen Denktraditionen wird der Stellenwert des individuellen Gewissens herausgearbeitet (219). Beachtung finden sodann ethisch relevante Phänomene der Lebenswelt, darunter das Phänomen der Macht (322 ff.). Ein besonders gewichtiger Bezugspunkt für L.s Konzeption ist die Gegebenheit ethischer Konflikte. Näherhin seien Konflikte zwischen der Unbedingtheit der ethischen Forderung und der Relativität ihrer Verwirklichung, zwischen eigentlichem und faktischem Wollen des menschlichen Subjekts sowie Pflichten-, Güter- und Rollenkonflikte bedenkenswert (336-347). Für die menschliche Existenz breche angesichts solcher ethischer Konflikte die Schuld- und die Gottesfrage auf (347), woraus die Konsequenz zu ziehen sei, die Sündenlehre sei derjenige dogmatische Topos, der für die Grundlegung evangelischer Ethik zentral sei (383). Hiermit bindet L. seine Ethikkonzeption an die genuin lutherische Gesetzes- und Sündenlehre zurück; aber auch Kierkegaard spielt hierbei eine Rolle (393.419). Indem die evangelische Theologie die Sündenvergebung thematisiere, befähige sie den Einzelnen zugleich zu realitätsgerechtem ethischem Handeln (412 ff.425 f.) und ermögliche im Übrigen auch das "Wagnis einer Schuldübernahme" (423).

Auf die methodische, rationale Plausibilität ethischer Urteilsbildungen legt das vorliegende Buch zu Recht hohes Gewicht (vgl. 519 ff.). Aus meiner Sicht ergibt sich aber die Rückfrage, ob die anthropologisch pessimistische Seite des Luthertums, d.h. die Sündenlehre und die sog. anklagende Funktion des Gewissens (402 ff.) so einseitig zur Basis evangelischer Ethik erklärt werden sollten. Denn für die anthropologische Grundlegung der Ethik besitzen doch auch das Phänomen individueller sittlicher Intuition, darunter die intuitive Evidenz der von dem protestantischen Kulturphilosophen Albert Schweitzer herausgearbeiteten Ehrfurcht vor dem Leben, und überhaupt die orientierende Funktion des Gewissens zu Gunsten des Guten sowie die Spielräume menschlicher Willensfreiheit fundamentalen Rang. Die letztere Thematik lässt sich inzwischen interdisziplinär im Dialog mit medizinischer oder sozialwissenschaftlicher Anthropologie zur Sprache bringen. Über solche anthropologischen bzw. subjektivitätstheoretischen Gesichtspunkte hinaus scheint mir eine Wert- und Kulturhermeneutik, d. h. der Rekurs auf die jüdisch-christlichen ideengeschichtlichen Hintergründe, die auch noch die säkularisierte Gegenwartsgesellschaft beeinflussen, für die heutige protestantische Ethik konzeptionell relevant zu sein. Doch davon abgesehen: Wegweisend ist meines Erachtens zum Beispiel, dass der Ethikentwurf L.s das Thema des ethischen Konfliktes und deshalb zugleich den Gedanken des Kompromisses (516) betont. L.s Ethik regt dazu an und setzt wesentliche Impulse, Begründungsprobleme protestantischer Ethik auf heutigem Niveau, im Kontext des modernen Pluralismus, neu zu durchdenken.