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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

197–200

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ferreira, M. Jamie

Titel/Untertitel:

Love's Grateful Striving. A Commentary on Kierkegaard's Works of Love.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2001. XI, 316 S. gr.8 Geb. £ 35,00. ISBN 0-19-513025-1.

Rezensent:

Ulrich Lincoln

Wer einen Kommentar bekommt, der hat es geschafft. Denn es gibt zwar viele Bücher, aber nicht jedes Buch wird dazu auserkoren, exklusiver Gegenstand einer umfangreichen und detailierten Textanalyse zu werden. Im vorliegenden Fall mag die Mitgliedschaft in diesem durchaus elitären Buchclub allerdings überraschen. Sören Kierkegaards Schrift "Die Taten der Liebe" (=TL) aus dem Jahr 1847 hat es nämlich bisher - zumindest im deutschsprachigen Forschungsraum - kaum in den engeren Kanon der repräsentativen Texte dieses Autors geschafft, geschweige denn in die noch ehrwürdigere Ruhmeshalle der Klassiker europäischer Ethik.

Die amerikanische Religionsphilosophin Jamie Ferreira, die seit Jahren mit zahlreichen Publikationen zum inner circle der angelsächsischen wie der internationalen Kierkegaard-Forschung gehört, will dieses Buch über die christliche Liebe aus seiner Nische herausführen. Ihr "Kommentar zu Kierkegaards Die Taten der Liebe" ist ein gewichtiger Beitrag innerhalb einer internationalen Kierkegaard-Debatte, die seit einigen Jahren TL als einen zentralen Text Kierkegaards neu entdeckt. Es gelingt ihr, das Werk in seiner ganzen Breite und Komplexität zu entfalten und zugleich immer wieder das Überraschende herauszuarbeiten, das Kierkegaard hier für eingespielte Lesarten und Leseerwartungen bereithält. Dabei sollte der Untertitel die interessierten Leser nicht abschrecken. Denn F.s Buch hat glücklicherweise nichts von der Redundanz und gelehrten Ereignislosigkeit, die einem Kommentar sonst so oft anhaftet.

F.s Arbeit folgt im äußeren Aufbau streng dem Kierkegaardschen Werk, indem sie die 19 Reden, die den Korpus von TL bilden, nacheinander diskutiert. Dabei verfolgt sie eine doppelte Strategie: Einerseits setzt sie sich immer wieder ausführlich mit der Auslegungsgeschichte auseinander, andererseits versucht sie, in zahlreichen Verbindungen zu gegenwärtigen Theorieentwürfen die aktuelle Relevanz des Textes aufzuzeigen. In der Auslegungsgeschichte sind es vor allem die ebenso kritischen wie einflussreichen Interpretationen von Adorno und Lögstrup, die sie in vielen Punkten erfolgreich zu wiederlegen vermag. Es gelingt ihr, die Vorwürfe der Objektlosigkeit und Rigorosität des Kierkegaardschen Liebesbegriffs zu entkräften und dadurch den Blick auf diese Texte neu zu öffnen. Der angebliche Gegensatz von Agape und Eros, von christlich-selbstloser Nächstenliebe und vitaler Vor- und Eigenliebe, den eine ältere Lesart oft in diesem Buch entdeckt hatte, wird als falsche Alternatie entlarvt. TL entwickelt demnach keine Ethik der radikalen und abstrakten (Über-)Forderung, sondern beschreibt die christliche Liebe als personale, responsorische und auf Konkretion zielende "Gabe". Der Begriff der Gabe wird für F. zum theologischen Leitbegriff dieser Liebesethik: Die "radical gift" (257) der vorausgehenden Liebe Gottes, die alles menschliche Liebenkönnen und -sollen erst ermöglicht, steht im Hintergrund aller Äußerungen in TL. Die zweite zentrale, anthropologische Auslegungskategorie ist der Begriff "need". F. zeigt auf, wie stark Kierkegaard die Liebe und das Liebesgebot von dem Bedürfnis oder dem Drang nach Liebe und Liebesäußerungen her denkt. Argumentationsstrategisch dient F. dieses Motiv dazu, dem Eindruck einer strengen, auf radikaler Selbstlosigkeit beruhenden Pflichtenethik entgegenzuwirken. Das "need" der Liebe, als der eigentliche Inhalt der Gabe Gottes und als basale anthropologische Bestimmung, ist grundlegender als das Gebot der Nächstenliebe und wird von jenem vorausgesetzt (41). Zudem wird es als prinzipiell unabschließbare, unendliche Bewegung behauptet. Diese Interpretation, die augustinisch-neuplatonisch anmutet (ohne dass F. auf diese wichtige Tradition zu sprechen käme, ebenso wenig wie auf einen möglichen Einfluss der Romantik!), verzichtet allerdings weitgehend auf Begründungen (etwa gegenüber einem möglichen naturalistic fallacy-Vorwurf). F. argumentiert hier rein theologisch, wobei sie den schöpfungstheologischen Gedanken einer universalen Schöpfungsgabe im naturrechtlichen Sinne einer bestimmten, aufweisbaren Qualität im Geschöpf zu verstehen scheint. In dieser begrifflichen Gestalt wird der Begriff des Bedürfnisses (dän. "Trang") zum Anker der gesamten Argumentation. Man mag hier allerdings zurückfragen, ob es von Kierkegaard aus gerechtfertigt ist, diesen Begriff, der sicherlich im Zentrum der Kierkegaardschen Sprache steht, mit einem derartigen ontologischen Gewicht (und mit einer derartigen Ontologie!) zu beladen.

"Gift-Love" und "Need-Love" (255) sind somit die entscheidenden Koordinaten, in denen F. Kierkegaards Begriff der christlichen Liebe einzeichnet. Sie rekonstruiert damit freilich nicht einen einzelnen Begriff, vielmehr entfaltet sie ein Netz von Begriffen und Perspektiven. Dieses entspricht dem multiperspektivischen Vorgehen Kierkegaards, der versucht, ausgesprochen unterschiedliche Akzente in ein und demselben Text zusammenzuhalten: die eindringliche und auf Universalität zielende Betonung des Liebesgebotes einerseits und die überaus konkrete und individuelle Nachzeichnung von Situationen und Geschichten der Liebe andererseits, systematische Präzision gleichzeitig mit narrativer Konkretion. Immer wieder versucht F., den Liebesbegriff Kierkegaards gegen einseitige Wahrnehmungen zu verteidigen und die komplexe Struktur und Diskussionslage des Textes aufzuzeigen. Die Gattung des Kommentars ist für diese Aufgabe überaus angemessen.

Im Gang durch die 19 Reden von TL entfaltet F. einen großen Reichtum an ethischen Fragestellungen: Das Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit, von Gleichheit und Individualität, von Selbstlosigkeit und Gegenseitigkeit, die Unauflösbarkeit der Alterität des Mitmenschen, diese und andere Fragen werden an Kierkegaards Text erhoben und zugleich auf zeitgenössische ethische und religionsphilosophische Debatten bezogen. Ihre Gesprächspartner findet F. dabei vor allem im Bereich der französischen Philosophie: E. Levinas' Ethik des Anderen etwa erweist sich als Anknüpfungspunkt für Kierkegaards Interpretation des biblischen Nächstenliebegebotes. F. liest diese Interpretation im Licht des Levinasschen Verständnisses des anderen Menschen als Quelle eines unbedingten und nichtreduzierbaren Verantwortungsverhältnisses. Und J. Derrida dient als zeitgenössische Autorität, die den Begriff der Gabe als unendliche Auf-Gabe explizieren hilft.

Darüber hinaus werden weitere und so unterschiedliche Autoren wie z. B. Rosenzweig, Kant, Ricur und Hume mehr oder weniger ausführlich herangezogen. Alle diese Zwiegespräche über die Jahrhunderte hinweg sollen - und können - die Stellung von TL als philosophisch ernst zu nehmenden Text unterstreichen, können aber auch den Eindruck einer gewissen Zufälligkeit und methodischen Unbekümmertheit auf Seiten der Kommentatorin nicht verhindern. F. bringt TL in einen offenen Dialog mit anderen Autoren, ohne damit die historisch-genetische Frage nach Einflüssen zu stellen. In dieser Hinsicht wertvoller sind die stetigen Verweise auf Luther, insofern hier eine geistesgeschichtliche Quelle für Kierkegaard entdeckt wird. Insbesondere Luthers "Sermon von den guten Werken" kann F. als wichtigen Hintergrund für Kierkegaards theologische Ethik aufzeigen. Was dagegen völlig fehlt, ist die Frage nach dem Einfluss des Deutschen Idealismus. Die Aufnahme und Umwandlung transzendentalphilosophischer Denkfiguren in TL lässt sich ja möglicherweise nicht nur für den Fall Hegels aufweisen (Ringleben), sondern ebenso für Fichte und Schelling. So bewegt sich F.s Interpretation im Medium einer gewissen Geschichtslosigkeit, zumal sie auch darauf verzichtet, die zeitdiagnostischen Bemerkungen und Fragestellungen vonTL für ihre Analyse zu nutzen.

Einen besonderen Akzent legt F. auf die Bedeutung des Sehens in TL. "Love's vision" (99 ff.) steht für die Wahrnehmung des Einzelnen, Konkreten, Differenten, das in dieser Ethik F. zufolge besondere Berücksichtigung findet. Und so versteht F. dann auch das Kompositionsprinzip des gesamten Buches von der Stellung der Visualität aus: Die entscheidende Zäsur des Buches ist für sie nicht, wie für nahezu alle übrigen Interpreten, der äußerlich markante Wechsel vom ersten zum zweiten Teil des Buches (ein Wechsel, der sonst oft als Unterschied von Gebot und Erfüllung, von Entwurf und Ausführung verstanden wird), sondern findet in der 4. Rede im ersten Teil statt: Diese Rede mit dem Titel "Unsere Pflicht, die Menschen zu lieben, die wir sehen" trennt F. zufolge zwei unterschiedliche rhetorische Kontexte: Geht es in den ersten drei Reden (I.-III.) um die Frage der unbedingten und universalen Gültigkeit der Liebespflicht, so fragt Kierkegaard im Folgenden nach der Konkretion ethischer Situationen und der Wahrnehmung ethischer "actuality" und "distinctiveness".

Unbedingte Allgemeinheit und konkrete Unterschiedlichkeit- auch dies ist also ein weiteres Begriffspaar in diesem Text, und um das Bearbeiten von begrifflichen Paaren und Polaritäten geht es immer wieder bei F. Man kann ihr Buch als den Versuch einer Interpretation lesen, die den immensen phänomenologischen und konzeptionellen Reichtum von TL bergen will, ohne in eine einseitige Perspektive zu verfallen. F. sucht nach einer "Via media" zwischen den Extremen, die der Kierkegaardsche Text und seine Auslegungsgeschichte bieten. So mancher Stachel wird dem Text dabei gezogen - ob zu Recht, bleibt indes manchmal fraglich, etwa im Fall der Interpretation der Pflicht zur Nächstenliebe durch den "need"-Begriff (s. o.). Ihr Verfahren hat dabei gelegentlich auch mehr den Charakter eines kummulativen Sammelns, weniger den einer begrifflichen Synthese. Die Aufgabe, Kierkegaards eigene Begriffe systematisch zu rekonstruieren und zu ordnen, geht zuweilen verloren gegenüber dem Überfluss an Konzepten und Vergleichen. Auch gerät der Vfn. der Ton ihrer Interpretation gelegentlich zu apologetisch: Der Versuch, TL gegen eine falsche Lesart in Schutz zu nehmen, bedient zu sehr die Binnenperspektive der Kierkegaardspezialisten und ihrer internen Debatten. Und das hermeneutische Prinzip eines "charitable reading" (258) erweist sich zwar in der Tat als fruchtbar, kann aber andererseits auch nicht die Notwendigkeit kritischer Rückfragen an die Voraussetzungen der eigenen Interpretation außer Kraft setzen.

Diese kritischen Bemerkungen ändern nichts daran, dass F. ein überaus wichtiges und dazu sehr gut lesbares Buch geschrieben hat, das in vorbildlicher Weise in die Textarbeit an einem ungewöhnlichen Werk einführt. Es lohnt sich, diesen Weg mitzugehen. Die Methode der textnahen Interpretation macht das Buch dabei zwar nicht immer zu einer leichten Lektüre. Doch ist diese Schwierigkeit ihrem Gegenstand durchaus angemessen. Denn Kierkegaards "christliche Erwägungen" über die Liebe sind ja selbst, wie es im Vorwort zu TL heißt, "die Frucht vieler Erwägungen" und "wollen langsam verstanden werden".