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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

195 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bukdahl, Jørgen

Titel/Untertitel:

Søren Kierkegaard and the Common Man. Transl., revised, ed., and with notes by B. H. Kirmmse.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2001. XVIII, 154 S. gr.8. Geb. US$ 19,00. ISBN 0-8028-4738-2.

Rezensent:

Jürgen Boomgaarden

Das Buch ist eine englische Übersetzung von Jørgen Bukdahls Søren Kierkegaard og den menige mand (erschienen 1961, Munksgaard Forlag, Copenhagen). B.s Werk ist aus einer Reihe von Vorlesungen hervorgegangen, was man dem lebendigen und flüssigen Stil auch in der Übersetzung anmerkt. Der Autor versteht in hervorragender Weise, den Leser anhand des Themas über die geistige und kirchliche Situation in Dänemark zur Zeit Kierkegaards zu orientieren. Insofern bietet das Werk keine Spezialuntersuchung zu Kierkegaard, sondern ist eher als Hinführung zu ihm unter einem besonderen Blickwinkel zu verstehen.

Der Titel mag auch dem Kierkegaard-Kenner zuerst seltsam anmuten. Was hat der einfache oder gemeine Mann mit dem hochkultivierten religiösen Schriftsteller Kierkegaard zu tun? Ist Kierkegaards gelegentliche Erwähnung des einfachen Mannes nicht bloß ein polemischer Kontrast gegen einen Intellektualismus, dem das Existieren fremd geworden ist? Aber gerade die Lektüre der letzten Publikationen Kierkegaards, die durch eine einseitig am philosophischen und theologischen Gehalt des Kierkegaardschen uvres interessierte Rezeption allzu schnell den Stempel des Minderwertigen und Retardierenden aufgedrückt bekamen, muss hier nachdenklich stimmen.

Kierkegaard wendet sich direkt an den einfachen Mann von der Straße, dem er sich zugehörig fühlt, und von dem er sich nie abgesondert habe (vgl. Samlede Værker, 1. Aufl., Bd. XIV, 356f. = Gesammelte Werke 34, 334 f.). B. kann glaubhaft machen, dass dies nicht bloß eine Phrase war, und verweist zum Beispiel auf die große Anzahl Menschen der unteren sozialen Schichten, die Kierkegaard die letzte Ehre erwiesen. Die in der letzten Lebensphase öffentlich gemachte Solidarität mit dem einfachen Mann mag erstaunlich sein für jemanden wie Kierkegaard, der eine natürliche Hinneigung zu jenem Triumvirat von Universität, Kirche und Theater im damaligen Kopenhagen verspürte. Aber nicht nur die Herkunft Kierkegaards - sein Vater hatte noch seine Kindheit als armer Schafhirte gefristet -, sondern vor allem die religiösen Bewegungen und ihre Führer im damaligen Dänemark lassen Kierkegaards Engagement in einem anderen Licht erscheinen. Besonders Jacob Christian Lindberg (1797- 1857), ein dänischer Theologe und Orientalist, ist hier zu nennen. Er stand frühzeitig mit N. F. S. Grundtvig (1783-1872), dem großen Theologen, Poeten und Kirchenreformer Dänemarks, in Verbindung und hielt selbst religiöse Versammlungen in seinem Haus ab. In diesen Versammlungen lag der Bruch mit der Staatskirche in der Luft und Lindbergs kirchenkritische Äußerungen waren in ganz Kopenhagen und natürlich auch Kierkegaard bekannt. Bischof Mynster schrieb einmal, dass selten einer der Feinde des Christentums so viel Anstoß erregt habe wie dieser Lindberg (41). Kierkegaard hat nach Aussage der Tochter Lindbergs eine Zeit lang jede Woche mit einer Anzahl Grundtvigianer Lindberg besucht (49). Sicher war er selbst nicht als Grundtvigianer noch als Lindbergianer einzustufen, aber gerade von Lindberg gingen Impulse aus, die Kierkegaards eigenes Wirken wesentlich beeinflussen sollten. B. zeigt, wie die Verbundenheit und Hinwendung zum einfachen Mann Lindberg und Kierkegaard einte (22). Besonders auffällig sind überdies biographische Parallelen zwischen beiden. Lindberg war in den frühen dreißiger Jahren des 19. Jh.s zum Spott Kopenhagens geworden und viele Zeitungen mokierten sich über ihn und seine Versammlungen, bei denen sich das niederste Volk einfand. B. sieht hier bei Lindberg selbst das Schicksal vorgezeichnet, das zwei Jahrzehnte später auch Kierkegaard treffen sollte (42). Kierkegaards Sympathie für den Magister Lindberg ist greifbar in einer Passage über das Kirchenverständnis in der Unwissenschaftlichen Nachschrift (vgl. bes. SV VII, 34 = GW 16/1, 42 f.). Neben dem Blick auf weitere, für Kierkegaards Entwicklung bedeutsame Gestalten bietet das Buch immer wieder interessante biographische Aspekte, die bis heute nachwirkende Vorurteile zurechtrücken. So stellt B. gegenüber dem in der allgemeinen Wahrnehmung dominierenden Einfluss des Vaters auf Kierkegaard den der Mutter gebührend zur Seite (44ff.). Gerade der Rückgriff auf Quellen aus dem Umfeld Kierkegaards bringt immer wieder Überraschendes zum Vorschein.

Man mag B.s These bezüglich Kierkegaard: "the common man was a crucial term for him" (105), für überspitzt halten und eine vertiefte sozialwissenschaftliche Fundierung dieses Terminus vermissen. Doch B. gelingt es überzeugend, das immer noch die Nachwelt beherrschende Bild eines in sich gekehrten Stubengelehrten und Schriftstellers zurechtzurücken, dessen publizistische Agitation kurz vor seinem Tod eben nicht als Niedergang oder Verirrung, sondern entsprechend Kierkegaards eigener Deutung vielmehr als Erfüllung seiner Intentionen anzusehen ist. - Das lesenswerte Buch wurde von dem renommierten Kierkegaard-Forscher Bruce H. Kirmmse sorgfältig übersetzt und ediert.