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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

191–194

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Baeck, Leo

Titel/Untertitel:

Nach der Schoa - Warum sind Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit. Hrsg. von A. H. Friedländer u. B. Klappert.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002. 558 S. gr.8 = Leo Baeck Werke, 5. Geb. ¬ 115,00. ISBN 3-579-02338-1.

Rezensent:

Hans-Jürgen Becker

Im Mai 1945, dem Monat seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt, war Leo Baeck 62 Jahre alt geworden; im Juli desselben Jahres ließ er sich in London nieder. Dort übernahm er die Präsidentschaft des "Council of Jews from Germany" und der "World Union for Progressive Judaism"; im Jahre 1947 gründete er das später nach ihm benannte "Institut zur Erforschung der Geschichte des Judentums in Deutschland seit der Aufklärung". Neben den damit verbundenen repräsentativen Aufgaben hielt Baeck bis zu seinem Tod am 2.11.1956 zahlreiche Vorträge und Vorlesungen in Europa (auch in Deutschland) und in den USA (vor allem am Hebrew Union College in Cincinnati und New York).

Der vorletzte Band der Werkausgabe - der letzte wird laut Ankündigung "Briefe, Reden, Persönliches" enthalten - ist Baecks "Schriften aus der Nachkriegszeit" gewidmet. Dazu ist allerdings sogleich anzumerken, dass Titel und Untertitel des Bandes seinen tatsächlichen Inhalt nicht präzis wiedergeben. Zum einen handelt es sich nur zum geringeren Teil um "Schriften" im engeren Sinne, zum anderen stammen sie nicht alle aus der Zeit nach 1945.

Alle Beiträge dieses Bandes wurden schon früher, zum Teil mehrfach, veröffentlicht. Neun Aufsätzen für Zeitschriften und Sammelbände sowie einer kleinen Broschüre für die Association of Synagogues in Great Britain ("The Law in Judaism") stehen zwölf Manuskripte bzw. Nachschriften mündlicher Vorträge gegenüber, darunter drei Folgen einer Vortragsreihe im Londoner Rundfunk, fünf weitere öffentliche Vorträge, die umfangreiche Londoner Vorlesungsreihe "Epochen der jüdischen Geschichte" und fünf Reden zu besonderen Anlässen, darunter seine Ansprachen zur Installation der Districts-Gross-Loge Continental-Europa XIX, deren Ehrenpräsident er war, in Basel und Brüssel. Es ist unklar, warum die Reden schon in diesem "Schriften"-Band und nicht erst in Band 6 erscheinen. Zudem wird das genaue Datum der mündlichen Vorträge nicht immer genannt; in einem Fall fehlt außerdem die genaue Angabe der schriftlichen Quelle.1 Die Angaben der Herausgeber zum ersten abgedruckten Text ("Gedenken an zwei Tote") bleiben in mehrerer Hinsicht unklar: Laut Einleitung (13) handelt es sich "um eine Trauerrede im gottesdienstlichen Raum" - der Text ist aber eigentlich nicht im Stil einer Trauerrede gehalten, auch fehlt die Anrede. Es wird nicht gesagt, wo, zu welchem Anlass und vor allem wann dieser Vortrag gehalten wurde. Zuerst veröffentlicht im Jahre 1963, ist er aber den Herausgebern zufolge ausdrücklich nicht "nach der Schoa" entstanden (9). Wenn das so ist, fragt man sich, warum er in diesem und nicht in einem früheren Band erscheint.

Dasselbe gilt auch für die berühmte Pharisäerstudie Baecks (367-410), die bereits 1927 erstmals publiziert und 1934 als Bd. 6 der Schocken-Bücherei wieder aufgelegt wurde. Auch sie findet sich unverständlicherweise in diesem Band, überdies in einer von den Herausgebern "Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam" überschriebenen Sektion. Eine so einseitige Einordnung dieser Studie ist ihrem Inhalt sicher unangemessen, auch wenn die Herausgeber in ihr "eine bis heute nötige kritische Anfrage an das christliche Pharisäermißverständnis" sehen (370). Damit ist bereits ein weiterer problematischer Punkt angesprochen: Baecks Texte werden nicht chronologisch oder nach Gattungen angeordnet, wie es sich doch nahegelegt hätte, sondern inhaltlich unter folgende Kategorien subsumiert: "Wiederbegegnung mit Deutschland" (13-64); "Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte" (65-366); "Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam" (367-492); "Die Sendung des Judentums in die Welt" (493-558). Zwar bezeichnen diese Überschriften Anliegen (unterschiedlichen Gewichts!) in Baecks Spätwerk, systematisieren aber zu stark, als dass sie den unter ihnen versammelten, sehr heterogenen Schriften jeweils gerecht werden könnten.

Selbst die Titel der einzelnen Beiträge (bei denen manchmal unklar bleibt, ob sie von Baeck selbst stammen) vermögen ihren tatsächlichen Gehalt oft nicht angemessen zu beschreiben. Ein Beispiel ist der umfangreichste Text des Bandes, eine Nachschrift der 1956 in London in kleinem Kreis gehaltenen und erstmals 1974 veröffentlichten Vorlesungen "Epochen der jüdischen Geschichte" (207-363).2 Zwar spricht Baeck hier auch über die Periodisierung der jüdischen Geschichte - aber trotz ausführlicher geschichtsphilosophischer, ja sogar entwicklungspsychologischer und astronomischer Überlegungen wird dies doch nicht zum zentralen Thema. Die Vorlesungen geben auch keinen Überblick über verschiedene jüdische Epochen, wie man auf Grund des Titels erwarten könnte, sondern sie beschränken sich auf die biblische Zeit bis zum babylonischen Exil. Gewiss geht es um Geschichte - aber Historiographie bleibt doch nur ein Aspekt dieser Arbeit.

Immer wieder finden sich lange, reflektierende Passagen zur Religionsphilosophie, wie etwa zur Art der Offenbarung am Sinai, zur Einzigartigkeit des Gottesnamens oder zum Charakter der Prophetie. Dabei interessiert Baeck vor allem das spezifische, unvergleichlich Israelitische, das er unter Heranziehung religionsgeschichtlicher Vergleiche zu charakterisieren sucht. Die Geschichte des jüdischen Geistes versteht er als das Ringen mit der Frage, wie das Ewige, Unendliche in die menschliche Sphäre eindringt oder einbricht: "Man kann dieses Eindringen Schöpfung nennen oder Offenbarung oder Verheißung, es ist immer dasselbe." (347) Einzigartig ist für ihn in diesem Zusammenhang das biblische "Ich bin" Gottes und das aus ihm folgende "Du sollst", einzigartig auch das prophetische Verständnis der Utopie als Aufgabe, der göttlichen Zukunft in der Gegenwart den Weg zu bahnen.

Eine über die Einzeltitel hinausgehende Systematisierung der späten Texte Leo Baecks, wie sie die Herausgeber vornehmen, ist wegen der thematischen Bandbreite, die sogar die meisten Einzelbeiträge charakterisiert, wenig hilfreich. Auch philosophische, philologische, historische und aktuelle Aspekte lassen sich in diesem Werk immer weniger voneinander trennen. Fast noch problematischer als die inhaltliche Kategorisierung der Texte erscheinen mir aber Titel und Untertitel des Gesamtbandes, die einen noch weiter abstrahierten thematischen Aspekt mit dem chronologischen verbinden. Dabei könnte überdies die Formulierung "Schriften nach der Schoa" oder "aus der Nachkriegszeit" fälschlich den Eindruck erwecken, die Schoa sei ein zentrales Thema in diesen "Schriften". Das ist aber, vielleicht für manchen überraschenderweise, nicht so. Die Beiträge dieses Bandes setzen in bemerkenswerter Konsequenz das frühere Werk ihres Autors in einem weiten zeitlichen und geistigen Horizont fort. Anknüpfung und Weiterführung charakterisieren diese Arbeiten der letzten zehn Lebensjahre. Die Texte beziehen sich nur sehr selten auf das unmittelbar Vergangene, noch weniger auf Baecks eigene leidvolle Erfahrungen. Wo sie dies dennoch tun, verbinden sie den Rückblick mit dem in die Zukunft. Auch wenn Baeck der Glaube an eine deutsch-jüdische Symbiose im Rückblick als Illusion erschien und die Epoche der Juden in Deutschland für ihn ein für allemal vorüber war, zerschnitt er das Band zu Deutschland doch nie, sondern hoffte auf Umkehr und ein neues Miteinander im Verhältnis zwischen Deutschen und Juden ("Israel und das deutsche Volk"; 49-61).

1946 äußerte sich Baeck zu dem zurückliegenden "Verhängnis" und "Unheil" (ordeal; disaster) in seiner Ansprache zum 5. Weltkongress der World Union for Progressive Judaism ("The Task of Progressive Judaism in the Post-War World"; 65-71). Darin versteht er die Ereignisse nicht nur als Unglück für das jüdische Volk, sondern darüber hinaus auch für die ganze Menschheit, denn die Verantwortlichen in verschiedenen Teilen der Welt hatten die Sünde des Stillschweigens und Zusehens auf sich geladen, als sie eingreifen und helfen mussten. Baeck beklagt den diesem Versagen zu Grunde liegenden Mangel an Enthusiasmus und moralischer Leidenschaft, der die Katastrophe erst möglich machte, und zitiert zur Verdeutlichung das Wort des Propheten Jeremia: "Sie heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: Friede! Friede!, und ist doch nicht Friede." Denen, die taktierten, statt zu handeln, fehlte die aus der Religion erwachsende Kraft: Wahrer Friede kann nur dann erreicht werden, wenn im Menschen das göttliche Gebot den Sieg über Vorteil und Interessen davon trägt (66). Dabei ist Baeck vor allem an den Konsequenzen und Lehren gelegen, die sich daraus für die gesamte Menschheit ziehen lassen. Dort, wo jüdische Gemeinden überlebten, gingen sie nicht geschwächt aus der Katastrophe hervor, sondern im Bewusstsein ihrer inneren Stärke - und ihrer moralischen Verpflichtung: "We are Jews also for the sake of humanity." (68) Im Blick auf das wieder erstarkende jüdische Leben, insbesondere im verheißenen Land, spricht Baeck (1946!) von einem Gefühl der Dankbarkeit (67).

Die Beiträge dieses Bandes der Werkausgabe sind geprägt von dem weiten geistigen Horizont ihres Autors, auch dann, wenn sie kleinere, enger umrissene Themen behandeln. Das Ganze der wissenschaftlichen Arbeit Baecks, seine umfassende Gelehrsamkeit und seine menschlichen Erfahrungen scheinen überall auf. Unter den vorwiegend philosophischen Werken seien zumindest noch die hier wieder abgedruckten ersten drei der im Deutschen Dienst des Londoner Rundfunks 1946 gesendeten Vorträge zum Thema "Der Sinn der Geschichte" (23-34) und der bedeutende Eranos-Vortrag von 1947, "Individuum Ineffabile" (72-108), genannt. Manches aus den "Epochen der jüdischen Geschichte" ist hier bereits vorweggenommen und detaillierter entwickelt, insbesondere die Bedeutung des für Baecks Philosophie und Ethik entscheidend wichtigen Phänomens der Individualität und der Unerklärlichkeit des Individuums. Unter den eher religionsgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten bleibt die schon genannte Schrift über "Die Pharisäer" (367-410) aus dem Jahre 1927 die wichtigste. In Baecks Beschäftigung mit dem Neuen Testament und dem Christentum markiert 1952 "Der Glaube des Paulus" (420-446) die letzte Etappe auf seinem Weg zu einer innerjüdischen Paulus-Deutung. Dieser Aufsatz und nahezu alle anderen Texte des Bandes verdienen weiterhin mehr als nur biographische Beachtung, wenn auch natürlich manches durch die neuere Forschung überholt ist.

Einleitende Worte der Herausgeber zu den einzelnen Beiträgen geben zumeist nützliche Hinweise zu den Umständen ihrer Entstehung. Den darüber hinaus gebotenen Interpretationsansätzen und Schwerpunktsetzungen konnte ich nicht immer folgen. Das größte Defizit liegt aber darin, dass der vorliegende Band nur eine Auswahl der zwischen 1946 und 1956 entstanden Texte Baecks bietet. Eine so groß angelegte Werkausgabe sollte eine Gesamtausgabe sein, zumal offenbar nur relativ wenig fehlt. Was aber fehlt und aus welchen Gründen, darüber lassen uns die Herausgeber im Unklaren. Es bleibt zu hoffen, dass der letzte Band eine vollständige Bibliographie enthält.

Fussnoten:

1) "The Psychological Root of the Law" (526-532); dazu lediglich der kryptische Vermerk auf S. 526: "Wingate Lecture gehalten an der Hebrew University London, London 1951".

2) Die Vorlesungen wurden nach Auskunft von H. I. Bach, der die diesem Band beigegebene Einleitung zur Erstveröffentlichung im Jahre 1974 schrieb, lediglich mit Hilfe einiger weniger notierter Stichworte frei gehalten, dem Tonband nachgeschrieben und vom Herausgeber mit Anmerkungen versehen. Die Anmerkungsziffern waren in der Erstpublikation unzutreffend - dies wurde im vorliegenden Band ohne Hinweis belassen. Lesehilfe: zwischen Anm. 2 und 28 liegen sie immer eine Nummer zu hoch.