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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

183–185

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Keding, Volker

Titel/Untertitel:

Theologia experimentalis. Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold.

Verlag:

Münster-Hamburg-Berlin-London: LIT 2001. XII, 285 S. gr.8 = Theologie, 37. Kart. ¬ 30,90. ISBN 3-8258-5334-9.

Rezensent:

Christian Peters

Der Band basiert auf einer Marburger theologischen Dissertation vom Dezember 2000 (Prof. Dr. Hans Schneider). Er untersucht das letzte Buch Gottfried Arnolds (1666-1714), die "Theologia experimentalis" von 1714. Dabei handelt es sich um ein bisher kaum erforschtes voluminöses Predigtwerk mit ausführlicher Einleitung, das aus Arnolds siebenjähriger Tätigkeit als Pfarrer und Inspektor in Perleberg/Prignitz/Altmark (1707- 1714) erwachsen ist.

Der in kleiner Type gesetzte Band spiegelt ein intensives Quellenstudium. Er umfasst drei Teile: "A Annäherungen" (3- 64): Die Untersuchung beginnt mit einer knappen, aber instruktiven bio-/bibliographischen Skizze Arnolds, die insbesondere dessen späte Jahre in den Blick nimmt (3-15). Danach werden in einem zweiten Anlauf die spannungsreichen "Grundstrukturen" des Erfahrungsbegriffes erarbeitet (16-19): "Erfahrung ist aktiv und passiv, restaurativ und innovativ, subjektiv und objektiv, speziell und allgemeingültig zugleich. Diese Polaritäten lassen sich weder im allgemeinen, philosophischen, noch im religiösen Verstehensrahmen auflösen. Die Grundstrukturen der äußeren Erfahrung sind denen der inneren vergleichbar. Im Folgenden wird die Kategorie der inneren Erfahrung im thematischen Brennpunkt stehen" (19). Vor diesem Hintergrund wendet sich die Arbeit dann der "religiösen Erfahrung" als Thema der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte zu (19-32). Sie schlägt einen (relativ groben) Bogen von den Anfängen der Christenheit bis zur lutherischen Reformation und leitet von hier aus rasch zu Johann Arndts (1555-1621) "Wahrem Christentum" und der "Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts" über. Das Folgekapitel (33-64) untersucht die Entwicklung des Erfahrungsbegriffes in den Schriften Arnolds zwischen 1696 ("Die Erste Liebe") und 1714 ("Theologia Experimentalis"). Es zeigt, dass dessen Äußerungen zum Thema zwar zahlreich und vielfältig waren, dabei aber durchaus unterschiedliche Akzente setzten: "Die Radikalität der Sophienmystik ["Das Geheimnis der göttlichen Sophia", 1700] wiederholt sich nach 1701 nicht mehr, dennoch enthält [!] die Mystische Theologie [1703] sowie das Inwendige Christentum [1709] auch nach der äußeren Lebensveränderung [gemeint sind Arnolds Eheschließung und seine Übernahme der Hofpredigerstelle in Allstedt/Sachsen-Eisenach] eine große innere Nähe zu Arnolds Frühzeit. Die Erfahrungstheologie Arnolds bekommt in späterer Zeit eine zunehmende Erdung, ohne die tiefe Glut ihres mystischen Ursprungs zu verlieren. Nach wie vor ist die Sehnsucht nach mystischer Einung mit Gott sein [= Arnolds] Leitmotiv, und, sofern sie partiell erreicht wird, die Tiefendimension seines Erfahrungsbegriffs" (64).

"B Entfaltung" (65-219): Am Anfang dieses Hauptteils steht die (überraschend schmale) Forschungsgeschichte (65-68). Obwohl die Bedeutung der "Theologia experimentalis" bereits seit längerem erkannt ist, fehlte es bisher an einer eingehenden Analyse ihres Inhalts. Es folgt die Druckgeschichte (68-81). Arnold hätte sein Werk gern in Halle/Saale (Verlag des Waisenhauses) herausgebracht, stieß hier aber auf den Widerstand des Verlagsleiters, Heinrich Julius Elers (1667-1728), der damals ganz bewusst "von umstrittenen Autoren wie Arnold" (72) abrückte. Notgedrungen musste er daher schließlich nach Frankfurt/Main (Verlag Zunner und Jung) ausweichen. Die Genese des Buches war kompliziert. Sie verlief in sechs Schritten: (1) Abfassung und Sammlung der Perleberger Predigten, (2) Überarbeitung der ersten Sammlung der Postille (Predigten 1-45), (3) Überarbeitung der zweiten Sammlung der Postille (Predigten 46-83), (4) Erstellung des Registers, (4) Abfassung der "Einleitung" und Tod Arnolds (30.5.1714), (5) Postume Widmung des Buches an Graf Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz (jüngere Linie) durch Arnolds Witwe Anna Maria Sprögel und (6) Druck des Buches. Auch die Vorgeschichte ist nunmehr zu rekonstruieren (81-94): Arnold verfasste sein Buch in Reaktion auf die bereits 1708 gehaltene, aber erst 1711 gedruckte "Oratio de Theologia experimentali" des Rostocker Theologieprofessors Albrecht Joachim (von) Krakewitz (1674-1732). Der hatte hier Arnolds "Historie der mystischen Theologie" von 1702 attackiert und diesen dabei als "theologum experimentalem" bezeichnet. Arnold nahm das Etikett auf. Er fasste den Plan, seiner "Theologia mystica" eine "Theologia experimentalis" an die Seite zu stellen, war beides doch auch in seinen Augen letztlich dasselbe (so seit 1702 im Reflex auf Francis Rous' [1579-1659] Traktat "The mystical Marriage" von 1635).

Nach diesen Vorarbeiten setzt die Textanalyse ein. Sie orientiert sich an den entstehungsgeschichtlichen Rekonstruktionen, weiß dabei aber durchaus zu differenzieren: "Entsprechend der Genese des Buches wird die Predigtsammlung vor der zuletzt verfassten Einleitung zu Wort kommen. Dabei wechselt freie, zusammenfassende Paraphrase mit wörtlicher Wiedergabe des Wortlauts der Quellenschrift. Zwischen der Darstellung der Postille und der Einleitung liegt ein wesentlicher methodischer Unterschied hinsichtlich der Systematik. Während die Postille einer vom Verfasser [= Keding] entworfenen Systematik subsumiert wird, kommt der Gedankengang der Einleitung in der Gliederungsstruktur Arnolds zur Sprache. Der Unterschied im Genre zwischen einer Postille und einer systematischen Grundbestimmung, wie die Einleitung es sein will, ist groß genug, um diesen Methodenwechsel zu rechtfertigen" (95).

Den Auftakt bildet eine detaillierte Analyse von Arnolds Gebrauch des Wortfeldes "Erfahrung/erfahren/erfahrbar usw." in seinen Predigten (96-133). Sie widerlegt - einmal mehr - das verbreitete "Klischee vom weltentrückten mystizierenden Theologen" (Dietrich Blaufuß): "Zunächst gilt die Beobachtung, daß Arnold sich treu geblieben ist. Christentum ist inwendig, es ist ein im Inneren des Menschen spürbarer Vorgang, bei dem sich die Seele mit Gott vereint, ihn schmeckt und empfindet, und so zu ihrer ursprünglichen Bestimmung findet. Christsein ist ein von innen nach außen führender Prozess; wo die Seele nicht erfüllt ist vom Geheimnis des Glaubens, entsteht auch keine Frucht. Deshalb ist Kritik an veräußerlichtem Heuchelwesen ein Kontinuum in Arnolds Werk. Besonders nachhaltig ist sein kirchenkritischer Kampf gegen Veräußerlichung beim Thema Abendmahl" (132). Anschließend wird der Aufriss der "Einleitung" interpretiert (134-137). Diese umfasst insgesamt 97, auf 6 Themenblöcke aufgeteilte Paragraphen ("I. Der geistlichen Erfahrung Unschuld" [ 1-9], "II. Der Erfahrung Beschaffenheit" [ 10-13], "III. Der Erfahrung Möglichkeit" [ 14-23], "IV. Der Erfahrung Nothwendigkeit" [ 24-86]; "V. Der Erfahrung Seeligkeit" [ 87 f.] und "[VI.] Bericht von diesem Buche" [ 89-97]). Im Zentrum des wichtigen vierten Blockes steht "eine dem ordo salutis nachempfundene Dogmatik in 43 Topoi" (137). Die Erarbeitung (138-211) erfolgt in dichter und quellennaher Paraphrase. Allerdings wirkt der beigefügte Apparat deutlich überladen. Wie der Vf. zeigt, sind es vor allem drei Aspekte des Erfahrungsbegriffes, die Arnold in diesem programmatischen Text hervorhebt. Die Erfahrung ist "unmittelbar" (208 f.), sie ist "innerlich" (209 f.) und sie wird in "alltäglichen Wachstumsschritten" erworben (210 f.).

Das Schlusskapitel (211-219) betreibt dann nicht nur Ergebnissicherung, sondern fragt darüber hinaus auch noch einmal nach Arnolds (schon in den Kapiteln 5 und 7 aufmerksam) notierter Lutherrezeption (212-216). Was namentlich der späte Luther zum Thema der religiösen Erfahrung ausgeführt hat, hat Arnold demnach stark beeinflusst. Gerade an einigen ihm besonders wichtigen Punkten (Eschatologie, Sakramentslehre) hat er den Reformator aber nur selektiv rezipiert. Hier bleiben auch weiterhin andere Einflüsse bestimmend: Macarios, der Messalianismus, die Hoheliedmystik der Alten Kirche und des Mittelalters, Johann Arndt, Heinrich Müller und die quietistische Mystik. Dazu kommen neben Valentin Weigel auch viele Vertreter des "mystischen Spiritualismus", wie z. B. Jakob Böhme, Christian Hoburg, Hochmann von Hochenau und die Eheleute Petersen und Sprögel. Auch "der späte Arnold bleibt somit ein radikaler Pietist in der Kirche" (215).

Nur beiläufig: Dass es damals bei Arnold neben der breiten Rezeption des späten Luther auch zu einer durchaus positiven Rezeption Melanchthons gekommen ist (dazu nur die im Anhang gebotene "Synopse der in Arnolds Hauptwerken zitierten Autoren", 242-249, hier zu den Stichworten "Apologie der CA", "Augsburgische Konfession" und "Melanchthon, Philipp"), wird vom Vf. zwar nicht eigens thematisiert (vgl. lediglich 156 und 187 f.), verdient aber gleichwohl Beachtung. Hier ergeben sich nämlich deutliche Verschiebungen zum Arnold der "Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie" mit seinem nachgerade monströsen Melanchthonbild (vgl. dazu zuletzt Johannes Wallmann, Das Melanchthonbild im kirchlichen und radikalen Pietismus, in: Udo Sträter [Hrsg.], Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus (Themata Leucoreana, 5), Wittenberg 1999, 11-24, hier bes. 16-22.)

In Teil "C Anhänge" (220-285) werden neben einer Übersetzung der "Oratio" des Krakewitz (220-231) dann noch vier instruktive Tabellen geboten (232-253: "Gesamtüberblick der in der Theologia experimentalis zitierten Autoren", "Synopse der in Arnolds Hauptwerken zitierten Autoren", "Selbstzitate Arnolds in der Theologia experimentalis" und "Lutherzitate in der Einleitung"). Dazu kommen ein Register der "Bibelzitate in der Einleitung" (254 f.) und ein umfängliches "Quellen- und Literaturverzeichnis" (256-285; mit einer bei Gerhard Dünnhaupt nicht nachgewiesenen, also wohl bisher unbekannten Epistelpostille Arnolds von 1711, 261).

Fazit: Der Band ist ein beachtlicher Beitrag zur Arnoldforschung. Er erschließt erstmals ein zwar schon seit längerem als bedeutend erkanntes, bisher aber nie eingehender untersuchtes Spätwerk dieses wohl wichtigsten aller Radikalpietisten. Entsprechend hoch ist der Erkenntnisgewinn. Dies gilt zunächst im Blick auf Arnold selbst, der in dieser Phase seines Lebens noch kaum erforscht ist und hier letztmals sein "pietistisches Lebensthema" (Hans Schneider) entfaltet. Es gilt aber auch für die pietistische Erfahrungstheologie insgesamt, die hier nach älteren Vorarbeiten (z. B. durch Philipp Jakob Spener, Wilhelm Zierold und Johann Franz Buddeus) offenbar einen ersten "Abschluß" (Martin Schmidt) erreicht. Auch wenn man dem Vf. vielleicht nicht in jeder seiner Interpretationen folgen möchte und einige Formalia (Stil, Dimension/Gestaltung der Fußnoten, Druckfehler etc.) die Lektüre nicht eben erleichtern, ist diese doch nachdrücklich zu empfehlen.