Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

173–180

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

1) Kertsch, Manfred 3) Mitchell, Margaret M.

Titel/Untertitel:

1) Exempla Chrysostomica. Zu Exegese, Stil und Bildersprache bei Johannes Chrysostomos.

2) Johannes Chrysostomus: Acht Reden gegen Juden. Eingel. u. erl. von R. Brändle, übers. von V. Jegher-Bucher.

3) The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation.

Verlag:

1) Graz: Institut für Ökumenische Theologie und Patrologie 1995. XXIII, 222 S. gr.8 = Grazer theologische Studien, 18. Kart. ¬ 17,40. ISBN 3-900797-18-8.

2) Stuttgart: Hiersemann 1995. XI, 316 S. gr.8 = Bibliothek der griechischen Literatur, 41. Lw. ¬ 98,00. ISBN 3-7772-9525-6.

3) Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XXXIV, 564 S. mit 6 Abb. gr.8 = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 40. Geb. ¬ 99,00. ISBN 3-16-147360-4.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Die hier anzuzeigenden drei Monographien bilden nur einen Ausschnitt aus der regen Buchproduktion zu Johannes Chrysostomus in den letzten Jahren, einem Kirchenvater, der aus gutem Grund schon lange auch das Interesse von Klassischen Philologen und Althistorikern auf sich gezogen hat; eine neue Entwicklung ist, dass er in Theologenkreisen, selbst protestantischen, nicht nur auslegungsgeschichtlich Beachtung findet - das ist eigentlich immer schon so gewesen und, sozusagen, un-umgänglich -, sondern auch für das exegetische Geschäft selbst ernsthaft ins Kalkül gezogen zu werden beginnt. Die drei Monographien haben ganz unterschiedliche Zugänge gewählt und ganz verschiedene Themenfelder besetzt. Was sie - außer ihrem Gegenstand, dem Werk des Johannes Chrysostomus - verbindet, ist, dass sie - in meinen Augen zumindest - jeweils ein besonderes Interesse verdienen und allesamt hohen, im Einzelfall sogar höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.

a. Der Grazer Philologe M. Kertsch richtet sich in seiner Untersuchung zu "Exegese, Stil und Bildersprache bei Johannes Chrysostomos", wie er selbst sagt, "vorrangig an Philologen, deren Interesse, die Grenzen des eigenen Betätigungsfeldes überschreitend, sich einem der hervorragendsten theologischen Schriftsteller und vielleicht größtem Sprachkünstler griechischer Zunge unter ihnen ... zuwendet", glaubt aber ganz zu Recht, dass "auch der an der griechischen Patristik, insbesondere an deren klassischer Epoche ... interessierte Theologe mit philologischen Ambitionen zu seinem Recht kommen" werde (VII). Seine Absicht ist dabei, "gewisse sprachliche und stilistische Gepflogenheiten bzw. Eigentümlichkeiten des Johannes Chrysostomus nicht [wie bisher vielfach geschehen] in generalisierender, wenig spezifischer Art bloß anzudeuten, sondern sie vielmehr in detaillierter, philologischer Darstellungsweise durch möglichst zahlreiche Beispiele und Parallelen konkret aufzuzeigen und festzuhalten", so, dass einerseits "Paradigmen und dazu gehörende Parallelen dem umfangreichen Schrifttum des großen Predigers allein entnommen ..., andererseits ... solche Sprach- und Stilmodelle auch aus anderen Autoren, insbesondere aus Gregor von Nyssa (einem an sich ganz anders gearteten Kirchenschriftsteller), beigebracht werden, wodurch namentlich die Unterschiede zum Goldmund, aber auch die Übereinstimmungen mit ihm deutlicher in Erscheinung treten" (IX).

Die ausgewählten Exempla sind: A. die Kommentierung der Scheltrede des Jesaja auf den "Hochmut" der Töchter Zions (3, 16-26) in der chrysostomischen Jesajaauslegung samt Parallelen in dessen Gesamtwerk wie in der antiken, christlichen und paganen, Literatur überhaupt (1-37); B. die chrysostomischen Äußerungen über die "Nichtigkeit irdischer Wertvorstellungen" im Vergleich mit Gregor von Nyssa, besonders mit dessen Ekklesiasteskommentar (38-113); C. der Fortschrittsgedanke (im Sinne des sittlich- geistigen Vollkommenheitsstrebens) im Bild des zielstrebigen Läufers (114- 133) - dass der Autor hier mit wenigen Seiten auskommt, begründet er überzeugend damit, dass es bereits ausführliche Literatur gebe, und zwar nicht allein im Hinblick auf den christlichen Fortschrittsgedanken (114)1; D. der Gebrauch der Bildersprache bei Johannes Chrysostomus am Beispiel des Baumes oder, allgemeiner, der Pflanze (134-173). Umrahmt wird dieses corpus der Arbeit von einem Vorwort (VII), "Einleitende[n] Bemerkungen" (IX ff.), aus denen bereits zitiert wurde, einer relativ knappen Bibliographie (XI ff.), einem Abkürzungsverzeichnis (XVI), einigen Additamenta mit ergänzenden Materialien (173 ff.), einem Verzeichnis der Eigennamen (180) und einem vollständigen griechischen Wortindex (181-221).

Dank der Anlage des Ganzen und nicht zuletzt des Index verborum graecorum locupletissimus (inclusis quoque vocabulis in additamentis occurentibus) verleitet das Buch dazu, lediglich als Steinbruch benutzt zu werden. Das ist schade, weil es so gut und kurzweilig geschrieben ist, dass man zum Mindesten eines der vier Exempla Chrysostomica ganz durchstudieren sollte (bes. das zweite!); man wird mit Hilfe der hier gebotenen Sammlungen, Zusammen- und Gegenüberstellungen genügend interessante und relevante exegetische Aspekte, bei Johannes Chrysostomus wie sonstwo, entdecken.

b. "Chrysostomus und die Juden" ist ein Thema, über das das Gespräch nicht zur Ruhe kommt. Und das ist gut so, deshalb, "weil die Sache so enorm wichtig und ernst ist; weil wir - gerade im Blick auf die ersten Jahrhunderte der gemeinsamen christlich-jüdischen Geschichte - noch immer weit weniger wissen, als wir nicht wissen ... und also guter Rat teuer ist ... Was" aber "ändert" ein "[womöglich] bessere[s] Verständnis ... an der Skandalgeschichte des christlichen Antijudaismus? Leider [fast] gar nichts; wir bleiben vielmehr aufgefordert, nach dessen Wurzeln zu suchen und ernsthaft zu prüfen, auf welche Weise und in welchem Maße er [sei es als Triebkraft, sei es zumindest als moralisches Opium, das Hemmschwellen überwinden half und Tabus beseitigte] mitbeteiligt war am modernen Antisemitismus und letzten Endes auch am Holocaust. Wohl aber kann einem die intensive Beschäftigung mit Chrysostomus im Zweifel bestärken, ob wirklich der Antijudaismus wesenhaft zum Christentum hinzugehört und nicht vielmehr mit die widersinnigste und widernatürlichste Konsequenz ist, die sich aus dem Evangelium ziehen lässt".2

Von solchen und ähnlichen Gedanken geleitet, haben sich der Baseler Ordinarius für NT und Alte Kirchengeschichte R. Brändle und seine gräzistisch-theologische Mitarbeiterin V. Jegher-Bucher darangemacht, die berühmt-berüchtigten "Acht Reden gegen Juden" erstmals wieder (nach mehr als 200 Jahren)3 in einer vollständigen, kommentierten Übersetzungsausgabe einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen und den patristischen Herausgeber der "Bibliothek der Griechischen Literatur" des Stuttgarter Hiersemann-Verlages, W. Gessel, dafür zu gewinnen, ihr Werk in dieser noblen Reihe zu publizieren. Bekannt sind - und immer wieder zitiert werden - aus diesen "Reden" i. a. wenige aus dem Zusammenhang gerissene, besonders abscheuliche Sätze. Außer von Demagogen, bei denen wohl Hopfen und Malz verloren ist, wird man in Zukunft erwarten dürfen, dass der Zusammenhang der Zitate gebührende Beachtung findet, sofern man auf Seriosität Wert legt. Geschieht dies, so wird von vornherein und zweifelsfrei klar, dass diese Reden durchweg nicht "gegen Juden", sondern "judaisierende", in ihrer Identität höchst ungefestigte "Christen" gerichtet sind; das entschuldigt zwar nichts, erklärt aber doch manches!

Brändle und seine Mitarbeiterin haben sich die zu bewältigende Aufgabe so aufgeteilt, dass sie für die Übersetzung, er für die Einführung und Kommentierung (haupt-)verantwortlich zeichnet. So sei denn auch im folgenden von Übersetzung und Kommentierung (im weitesten Sinne) getrennt die Rede.

Die Übersetzung (die ich freilich eher stichprobenhaft, jedenfalls nicht Wort für Wort, am Urtext durchgeprüft habe) stellt zweifellos eine beachtliche Leistung dar.4 Sie ist, obwohl nicht immer besonders glanzvoll und so dem Rhetor Chrysostomus nicht in jeder Hinsicht kongenial,5 i. a. ebenso gut zu lesen wie zuverlässig. Zwar gibt es einige problematische Lösungsvorschläge6 oder gar Missgriffe7, doch halten sich diese in erträglichen Grenzen. Was die Übersetzerin kann, zeigt sich wohl am eindrucksvollsten an ihrem einleuchtenden Konjekturvorschlag (dem einzigen, wenn ich nichts übersehen habe). Ich bin überzeugt: falls irgendwann einmal eine zureichende textkritische Ausgabe (auch) für die "Judenreden" des Chrysostomus zur Verfügung stehen sollte, wird sich herausstellen, dass es einen breiten handschriftlichen Sukkurs für die von ihr konjizierte Lesart nomàs (möglich wäre auch nomoùs statt des unsinnigen nòmous PG 48, col. 857) gibt.

Die detaillierte Einführung und Kommentierung trägt überall die Handschrift des Fachmanns, R. Brändles, der längst als einer der international führenden Chrysostomusforscher ausgewiesen8 ist. Diese Kompetenz trägt entscheidend zu dem hohen Rang dieser kommentierten Übersetzungsausgabe9 bei. Doch: nobody and nothing is perfect (ich weiß, wovon ich rede!). Bevor das jedoch am vorliegenden Opus verdeutlicht wird, sei Brändles Anteil daran genauer beschrieben. Dieser Anteil macht mehr als die Hälfte des Gesamtumfanges aus, abgesehen vom Quellen- und Literaturverzeichnis (257-273), von einer detaillierten Übersicht über die Chrysostomuswerke und ihre Übersetzungen (275-301) und einem Bibelstellen-, Personen- (Antike und Moderne) sowie Sach- und Begriffsregister (303-316), die ein Außenstehender natürlich nicht eindeutig zuzuordnen vermag.

Und zwar folgt einem kurzen Vorwort beider Autoren (IX-XI) aus Brändles Feder eine gelungene Biographie des Chrysostomus mit allen erforderlichen Informationen (1-36) und eine noch etwas umfangreichere Einleitung in dessen "acht Reden gegen judaisierende Christen" (36-79), in der außer über Ausgaben, Texte und Übersetzungen der Reden über "Antiochien in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts", ferner über die "Rhetorik der Reden", d. h. ihre "Argumentationsstruktur" und ihren "Ornatus", ihre "Einordnung in die Adversus-Judaeos(sic!)-Literatur" und ihre "Wirkunsgeschichte" die Rede ist. Schließlich folgen auf die Übersetzung fast dreißig engbedruckte Seiten mit Anmerkungen, auch, aber keineswegs nur zu Übersetzungsproblemen. Schon das zeigt, dass nichts unterlassen wurde, was zur Hilfestellung bei einer gründlichen Beschäftigung mit den "Reden" hätte dienen können!

Es stellen sich indes auch Fragen, nicht allzu viele, darunter aber doch ein paar gewichtigere; nur sie seien hier vorgebracht.

Ich stoße mich etwa am (im Deutschen anders als im Englischen ganz) unüblichen Begriff "Judaismus" (statt Judentum), der im Kommentar oft, in der Übersetzung meist, aber nicht regelmäßig für Ioudaismos gebraucht wird, wofür in der Einleitung die (wenig einleuchtende) Begründung gegeben wird, es sei das "eine Wortbildung des griechischen Judentums, parallel zum Begriff Christianismos"10 (den ja auch kein Mensch mit "Christianismus" wiedergibt!); ich frage mich zum andern, an welchen Leserkreis gedacht sei, wenn in der Einleitung in die "Rhetorik der Reden" seitenweise (bes. 68 ff.) und en masse unerläuterte Fremdworte und termini technici sowie unübersetzte Zitate aus dem Lateinischen und Griechischen begegnen (einem Kapitel, nebenbei, zu dem erstaunlicherweise außer einer Patristikerin zwei Reformations- und Neuzeithistoriker, aber kein [weiterer] klassisch-philologischer Experte konsultiert wurden [vgl. 57, Anm. 411]); ich finde ferner, es hätte zur Bemerkung, in der "Sicht von Johannes" seien "Frauen und Sklaven besonders anfällig gegenüber der Anziehungskraft des Judentums"11, ruhig hinzugefügt werden dürfen, dass das verdächtig nach einem altbekannten apologetisch-polemischen Topos aussieht; vor allem aber frage ich nach den Urteilskriterien, wenn der Vf. das Scheitern des Chrysostomus - in Konstantinopel wie (letztlich auch schon) in Antiochien - ganz im Einklang mit P. Brown nicht zuletzt in Fehleinschätzungen des großen Predigers selbst begründet sieht. Seine "Hoffnung, daß die ostmediterrane Stadt ihre profanen Traditionen ablegen werde, indem sie zu kaum mehr als einer Anhäufung frommer christlicher Haushalte würde, bedeutete eine fatale Unterschätzung der Macht des klassischen Gefühls für die Stadtgemeinschaft"12.

Ich gebe dazu dreierlei zu bedenken: einmal, ob die ganz überwiegende Mehrheit der antiken Stadtbevölkerung, zumal der antiochenischen, über die "Macht des klassischen Gefühls für die Stadtgemeinschaft" genau so oder auch nur ähnlich enthusiastisch dachte wie der (die beiden?) moderne(n?) Historiker? Wenn das - besonders nach R. Starks "Neue[n] Erkenntnisse[n] aus soziologischer Sicht"13 - nicht eben wahrscheinlich ist, was wirft man Chrysostomus eigentlich vor, der sich bekanntlich bewusst als einen "Volksmann" verstand? Was wirft man, zum andern, dem Prediger und Theologen Chrysostomus vor, wenn dieser als Theologe zu urteilen suchte, primär danach fragte: nicht: "Was würde Jesus" (so M. Niemöller), sondern: "Was würde (der geliebte Apostel) Paulus dazu sagen?" und entsprechend - ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile - handelte? Dazu gleich mehr, im Zusammenhang der Besprechung des Buches von M. M. Mitchell. Eben: Es geht um die Urteilskriterien. Mein drittes Bedenken: Ich halte die genannte chrysostomische Priorität nicht nur für theologisch naheliegend oder doch wenigstens nachvollziehbar, sondern auch - zumal in Übergangszeiten wie der seinen und der unseren - für politisch-gesellschaftlich äußerst nachdenkenswert, wenn nicht gar vorbildlich. Hat sie doch für Chrysostomus zur Konsequenz die Entdeckung des "ekklesialen" Charakters christlicher Ethik, mit anderen Worten die Entdeckung der Gruppe als ethischen Subjekts.14 Also, bei allem Respekt vor dem großen P. Brown: Man wird ihm auch widersprechen und das eigene theologische Urteil nicht einfach suspendieren dürfen, zumal es der Blick auf die Wirkungsgeschichte als sehr zweifelhaft erscheinen lässt, ob man wirklich von einem "Scheitern" des Chrysostomus sprechen kann. War dieser doch - nach allem, was wir wissen - jahrhundertelang in Ost wie West der wohl meistgefeierte und -gelesene griechische Kirchenvater, trotz seiner Absetzung und Verbannung oder gerade ihretwegen!

Eine letzte kritische Bemerkung: Der Vf. hat einen seiner Vorgänger, P. W. Harkins, gescholten, weil er seine englische Übersetzung der "Judenreden" des Chrysostomus unter die Überschrift stellte "Discourses against Judaizing Christians"15. Damit entfalle "der Anstoß, den allein schon der traditionelle Titel" (Adversus Iudaeos) auslöse; gleichzeitig werde "aber auch die Stoßrichtung dieser acht Reden leicht abgebogen". Da auch für Brändle indes darin "sicher in erster Linie judaisierende Christen" angesprochen sind16, ist seine Kritik schwerlich überzeugend und seine eigene Titelwahl ("Acht Reden gegen Juden") eher noch missverständlicher und interpretationsbedürftiger. Sie verfehlt nämlich nicht nur die Hauptzielrichtung dieser Reden, sondern lässt auch das Missverständnis zu, als sei die chrysostomische Judenpolemik nur an einige Juden adressiert. Dabei geht es an den- wenigen - Stellen, an denen sich der Prediger direkt an Juden richtet, wie in seiner dominanten Kritik an den judaisierenden Christen Antiochiens um die Bestreitung jeder religiösen Gemeinschaft mit dem Judentum, um ein Verdikt gegen die Juden als Religionsbekenner17, ein Verdikt, mit dem sich allerdings bei Chrysostomus, zieht man sein übriges Schrifttum mit in Betracht (was in diesem speziellen Fall in Brändles reichhaltigem Kommentar nur ganz unzureichend geschieht18), "der Antrieb verbindet, ihnen gleichwohl die geschuldete Liebe und Nächstenschaft, ja selbst die Hoffnung auf Gottes unbereubare Heilsverheißung (Röm 11,29) nicht vorzuenthalten"19.

Mein letztes Wort sei jedoch ein Lob: Kann ich auch, nach allem, nicht unbedingt unterschreiben, dass es sich bei dem Gemeinschaftswerk von R. Brändle und V. Jegher-Bucher um ein "flawless volume"20 handele, so fühlte ich mich missverstanden, wäre der Eindruck entstanden, meine kritischen Bemerkungen zögen den "hohen Rang" der Publikation nachträglich wieder in Zweifel. Das ist nicht ihre Absicht. So betone ich denn zum Schluss, dass dieses Gemeinschaftswerk in meinen Augen einen bedeutsamen, in Zukunft unentbehrlichen Beitrag nicht nur zur Chrysostomusforschung, sondern auch zum christlich-jüdischen Dialog darstellt, für den man dem Autorenteam nur sehr danken kann.

c. Das dritte hier zu besprechende Chrysostomicum, das Buch von M. M. Mitchell, zur Zeit (bzw. in dessen Erscheinungsjahr, 2000) Associate Professor für NT an der Divinity School und dem Department für NT und Frühchristliche Literatur der Universität Chicago, bereitete mir, wie ich gleich zu Beginn gestehe, - trotz seines beachtlichen Umfangs von nicht weniger als 564 Seiten - ein Lesevergnügen besonderer Art! Ehe ich ausführe, warum, seien Autorin und Buch vorgestellt:

Frau Mitchell ist nicht nur "zufällig" an einem Department für NT und Frühchristliche Literatur tätig. Beides sind vielmehr (einschließlich ihres geistesgeschichtlichen Hintergrundes, vor allem der antiken Rhetorik, Hermeneutik und Philosophie) seit Jahren auch ihre wissenschaftlichen Schwerpunktgebiete. Ihre erste große Monographie war exegetischer Natur; sie galt der "Sprache und Komposition" von 1Kor und wies überzeugend den Nutzen einer rhetorischen Analyse für das Verständnis dieses paulinischen Briefes nach.21 Auch das neue Buch ist in den Augen seiner Vfn. "vorwiegend eine Fallstudie in biblischer Hermeneutik" (XIV); das ist es in der Tat, aber so, dass Chrysostomus - den sie für den "wichtigsten patristischen Paulusausleger" hält (XXI) - volle historische Gerechtigkeit widerfährt. So handelt es sich denn bei diesem Buch um einen Brückenschlag zwischen Bibelwissenschaft und Auslegungs- bzw. Wirkungsgeschichte, für die selbst im protestantischen Bereich in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise eine zunehmende Aufgeschlossenheit zu konstatieren ist.22

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die chrysostomischen Paulusporträts, wie sie sein ganzes exegetisch-homiletisches Werk durchziehen, in konzentriertester Form aber in den sieben "Lobreden" auf Paulus begegnen. Diese Porträts sind, findet die Vfn., kein Beiwerk, sondern ein Zentralstück seiner exegetischen Arbeit (384); und der Leser wird Zug um Zug von der Richtigkeit dieser Einschätzung überzeugt. Ihre Untersuchung ist so aufgebaut, dass in einem ersten Kapitel (1-33) eine Einführung in die (chrysostomischen und außerchrysostomischen) Quellen und eine Einordnung der Untersuchung in die Forschungsgeschichte geboten wird; Kap. 2 (34-68)) ordnet die Paulusporträts des Chrysostomus in ihren historisch-geistesgeschichtlichen Kontext ein, indem es "der christlichen literarischen Porträtkunst im griechischen Osten des 4. Jh.s nachfragt und dabei deren hermeneutische, rhetorische, ethische und künstlerische Dimensionen in Betracht zieht" (34); Kap. 3-6 führen sodann die Galerie der chrysostomischen Paulusporträts im Einzelnen vor, unterschieden nach "Miniaturen" (Kap. 3, 69-93) und "regelrechten Porträts", angeordnet nach den Subkategorien des antiken Enkomiums: Körperporträts (Kap. 4, 94-134), Seelenporträts (Kap. 5, 135-199) und biographische Porträts (Kap. 6, 200-380).

Die beiden abschließenden Kapitel bieten ein Resümee der vorangegangenen Analysen und bringen die gewonnenen Ergebnisse in Beziehung einerseits mit dem historischen Kontext, in dem des "Goldmundes" pastorales Wirken gesehen werden will (Kap. 7, 381- 408), andererseits der Paulusdeutung des späten vierten und des späten 20. Jh.s (Kap. 8, 409- 439), wobei insbesondere Augustin und die von ihm ausgehende Auslegungstradition das Gegenüber bildet. In einem Anhang beigefügt sind die vollständige, meisterhafte Übersetzung der sieben "Lobreden" auf Paulus (Appendix I, 440-487), eine Beschreibung von Chrysostomus- (und Paulus-)Darstellungen in der bildenden Kunst, zumeist in illuminierten Handschriften (Appendix II, 488-499), von denen einige anschließend im Mehrfarbendruck wiedergegeben werden (Tafel 1-6, 502-507), eine Bibliographie (509-528), ein Stellenregister (529-558), ein Verzeichnis moderner Autoren (559-563) und der im Buch gebotenen Bildbeschreibungen (564).

Die Vfn. gesteht selbst mit schöner Offenheit ein, als eine Wissenschaftlerin, die "von ihrem Temperament wie von der Kultur der" aktuellen "neutestamentlichen Studien her geneigt" sei, "jedem Beispiel zu jedem einzelnen Punkt nachzuspüren", angesichts der schieren Masse von Chrysostomusschriften gelegentlich der Verzweifelung nahe gewesen zu sein und sich in einem ständigen Kampf befunden zu haben, ja nicht zu ausladend oder, umgekehrt, zu oberflächlich zu werden (XXIV) in ihrem Bemühen, das Denken des Chrysostomus und sein Paulusverständnis adäquat und korrekt wiederzugeben. Ich finde, ihr Bemühen war von Erfolg gekrönt. Mich hat die Lektüre des Buches trotz seines Umfangs nie verdrossen oder auch nur gelangweilt. Dem eiligeren Leser kann man nur empfehlen, sich die Zusammenfassungen, die zu jedem einzelnen Kapitel geboten werden, zunutze zu machen oder vielleicht überhaupt mit der Lektüre von Kap. 7 (und 8) zu beginnen, wo die gewonnenen Resultate insgesamt resümiert und auf die Hauptprobleme der Paulusinterpretation in Vergangenheit und Gegenwart bezogen werden.

Den Chrysostomusliebhaber hat die Sympathie mit dem Exegeten aus weit zurückliegender Vergangenheit ("Hermeneutik der Liebe" lautet das Zauberwort [429]) und die Liebe zum Detail gerade gefreut, von denen die gesamte Untersuchung durchpulst ist. Dem Historiker hat stark imponiert der - m. E. gelungene - Versuch (in Kap. 7), ein "kohärentes Bild der sozialen, kirchlichen und politischen Funktionen der Paulusporträts in des Johannes pastoralem Wirken und seiner Vision einer christlichen Gesellschaft im Kontext des späten vierten Jh.s" zu entwerfen (XXIII). Den Dogmengeschichtler hat die Gegenüberstellung von Chrysostomus und Augustin als Paulusinterpreten beeindruckt und nachdenklich gemacht, aber - noch - nicht davon überzeugt, dass es wirklich sinnvoll ist, Chrysostomus an die Seite des Pelagius oder doch wenigstens der "Semipelagianer" (wenn dieser Anachronismus erlaubt ist) zu rücken, Augustin dagegen gleichsam als "Betriebsunfall" der Paulusdeutung erscheinen zu lassen, bedingt durch psychische Probleme des späte(re)n Augustin.23 Das ist, gewiss, pointierter gesagt, als es Frau Mitchell selbst in ihrer vorbildlich zurückhaltenden, sachlichen Art formulieren würde, gibt aber wohl die Richtung an. Hierüber muss diskutiert - zur Not auch gestritten - werden, und zwar sehr viel ausführlicher, als dies innerhalb einer Rezension möglich ist. Ich sage aber: Die Diskussion mit Frau Mitchell lohnt sich, unbedingt; und ich stehe nicht an zu erklären, dass ihr Buch in meinen Augen von nun an zur Pflichtlektüre ebenso sehr für Exegeten wie Patristiker, zumal Chrysostomusforscher, aber auch für Systematische Theologen gehören sollte. Es ist endlich zu loben auch in literarischer Hinsicht, in seiner makellosen und schnörkellosen Wissenschaftsprosa ein Lesegenuss und mühelos zugänglich auch für solche Leserinnen und Leser, die des Englischen nicht als ihrer Muttersprache mächtig sind.24

Kurzum: Von einem Meisterwerk war soeben die Rede!

Fussnoten:

1) Vgl. dazu jetzt bes. W. Kinzig, Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche bis Eusebius, Göttingen 1994 (FKDG 58); ferner das klassische Sammelwerk: EPECTASIS. FS f. J. Daniélou, Paris 1972.

2) A. M. Ritter, Chrysostomus und die Juden - neu überlegt, in: Kirche und Israel 5, 1990, 109-122; hier: 121.

3) Im 18. Jh. wurden - im Abstand von gut zwanzig Jahren - vollständige deutsche Übersetzungen von J. A. Cramer (evangelisch) - von ihm stammt übrigens das vielgesungene, schöne Abendmahlslied EG 221! - und V. Moesl (katholisch) vorgelegt, von denen Br. vermutet, dass es sich um "Reaktionen ... auf das Phänomen" handele, "das als Philosemitismus des Barock bezeichnet wird" (41); eine nennenswerte Nachwirkung haben beide Übersetzungen anscheinend nicht gehabt.

4) Mehr noch als die fünf Jahre zuvor erschienene Übersetzung ins Englische durch P. W. Harkins (Saint John Chrysostom. Discourses against Judaizing Christians, Washington D. C. 1990).

5) Ich verweise als einziges Beispiel auf die holperige Übersetzung von PG 48, 915, Z. 9 ff. auf S. 186, Ende des 1. Absatzes der Übersetzung; vgl. damit meinen Vorschlag: A. M. Ritter, Erwägungen zum Antisemitismus in der Alten Kirche, in: Ders., Charisma und Caritas, Göttingen 1993, S. 21.

6) Ich begnüge mich auch hier mit wenigen Beispielen: S. 91, zweitletzter Absatz, ist das Epiginoskete allelous der Liturgie zwar nicht falsch übersetzt, besser aber wäre "Erkennt einander" (als Traditionshintergrund für unser "Erkennt euch in dem Herrn, keiner sei wider den anderen ..." ); S. 103 (= col. 857, Z. 9/10 v. o.) wird unschöner- und unnötigerweise eine Alternative angeboten ("Unzeitigkeit oder Deplaziertheit") für ein und dasselbe griech. akairia (Ich würde übersetzen: "Niemand soll die Rede bemäkeln, weil ich sie zur Unzeit, [nämlich] so viele Tage zuvor, gehalten habe"); sehr unschön ist das "egal" auf S. 119 (Chrysostomus spricht, soweit ich sehe, nie Slang!) oder der Angli[zi]smus "die Seele von Paulus" (the soul of Paul) auf S. 117 (das Deutsche hat eine andere Möglichkeit der Genitivbildung), endlich der vermurxte Anschluss S. 126 (= col. 873, Z. 4 v. o. (Besser als "Da es [was?] das nicht ist" wäre "Da das nicht der Fall ist").

7) Ein krasses Beispiel ist die Übersetzung von anaisthesia mit "Unkultiviertheit" (S. 103 = col. 857, Z. 25/24 v. u.); richtig wäre "Stumpfheit", "Gefühllosigkeit". Sehr unglücklich und nahezu unverständlich ist auch das "Daß nämlich Gott weder den Zeiten noch solcher Beachtung irgendeine Rechnung trug" (119 = col. 868, Z. 24/23 v. u.). Warum nicht: "Daß sich Gott um ihren Festkalender (oder: ihre [religiösen] Termine) und solche (Gesetzes-)Observanz nicht im geringsten schert"?

8) Zuletzt durch seinen voluminösen Personenartikel im RAC (Bd. 18, 1998, 426-503, mit einem Beitrag von Frau Jegher-Bucher zur Rhetorischen Schulung des großen Predigers), einem wahren Kompendium der neueren Chrysostomusforschung, sein im selben Jahr erschienenes Bändchen "Johannes Chrysostomus. Bischof - Reformer - Märtyrer" (Stuttgart 1998) und auch den ein Jahr später folgenden Aufsatzband "Studien zur Alten Kirche", der auch mehrere Chrysostomusbeiträge enthält, gerade auch zu den für den christlich-jüdischen Dialog relevanten Aspekten seines uvre.

9) Dieser ist zu Recht soeben auch von der renommierten Chrysostomusspezialistin M. A. Schatkin (JbAC) anerkannt worden.

10) S. 42.

11) S. 237, Anm. 115.

12) S. 35, mit einem Zitat aus P. Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München-Wien 1991, 328/29.

13) Vgl. sein lehrreiches, wenn auch gewiss nicht unkritisch zu lesendes Buch "Der Aufstieg des Christentums" (Weinheim 1997; das engl. Original erschien Princeton 1996 u. d. T. "The Rise of Christianity"), bes. dessen 7. Kap. ("Chaos und Krise der Städte: Der Fall Antiochia").

14) Vgl. dazu A. M. Ritter, John Chrysostom as an Interpreter of Pauline Social Ethics, in: W. S. Babcock [Hrsg.], Paul and the Legacies of Paul, Dallas 1990, 183-192.360-369; Ders., Zwischen "Gottesherrschaft" und "einfachem Leben". Dio Chrysostomus, Johannes Chrysostomus und das Problem einer Humanisierung der Gesellschaft, in: Ders., Charisma und Caritas, Göttingen 1993, 309-330.

15) S. o., Anm. 4.

16) S. 41 f.

17) Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen von M. A. Schatkin (wie Anm. 9), 212 f., zum Thema "Antisemitismus" bzw. "Judenhaß" bei Chrysostomus.

18) Auf einer solchen synthetisierenden Betrachtungsweise lag im Unterschied dazu der Schwerpunkt meiner "Erwägungen" (wie Anm. 5), 22- 27.

19) Ebd., 29, mit den Nachweisen 26.

20) So M. A. Schatkin (wie Anm. 9), 214.

21) M. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation. An Exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians, Tübingen 1991 (HUT 28); Nachdruck Louisville 1993. Vgl. Die Rezension von H. Hübner in dieser Zeitschrift (121, 1996, 53 f.).

22) Vgl. die entsprechenden Hinweise A. M. Ritter, Die Väter als Schriftausleger am Beispiel Gregors von Nyssa, De beatitudinibus, in: ZNW 93, 2002, 120-137, bes. 127 ff.

23) Vgl. S. 6, Anm. 24; 19, Anm. 71; 332, Anm. 634; 400; 409-439. Zu einer anderen Sicht s. A. M. Ritter, Charisma im Verständnis des J. Chrysostomos und seiner Zeit, Göttingen 1972 (FKDG 25), ein Buch, mit dem sich die Vfn. in ihrer gelobten Monographie nicht auseinandergesetzt hat.

24) Dazu passt die sorgfältige Präsentation durch den Verlag; aufgefallen sind mir ganz wenige Schnitzer (7, Anm. 26; 21, Anm. 76) und Druckfehler, selbst im Griechischen (207.213. 246.327.337.375.376).