Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

170–173

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Hippolyt Werke: Erster Band. Erster Teil: Kommentar zu Daniel. Hrsg. von G. N. Bonwetsch. 2., vollständig veränderte Aufl. von M. Richard.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2000. XLVIII, 408 S. gr.8 = Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, N.F. 7. Geb. ¬ 118,00. ISBN 3-05-003456-4.

Rezensent:

Martin Wallraff

Was lange währt, wird endlich gut: So wird jeder verständige Leser sagen, noch bevor er das anzuzeigende Buch überhaupt aufgeschlagen hat, denn seit mehr als einem Vierteljahrhundert lag das abgeschlossene Manuskript in Berlin und seit beinahe ebenso vielen Jahren ist der Verfasser bereits verstorben (15.6.1976). Da durfte man schon kaum noch hoffen, das Resultat seiner Bemühungen noch im Druck zu sehen - und dies wäre in jedem Falle die schlechteste aller denkbaren Lösungen gewesen. Anders als bei anderen zweiten Auflagen bedeutender kritischer Editionen handelt es sich hier nicht um eine Neu-Durcharbeitung oder gar nur eine oberflächliche Revision des im Grunde seit langem bekannten Faktenbestandes mit im Einzelnen abweichenden Urteilen im Bereich der Textkritik. Der Hinweis "vollständig verändert" im Titel bezieht sich auch und vor allem auf die handschriftliche Grundlage, die zu erweitern Marcel Richard gelungen ist. Die bislang gültige Edition von Nathanael Bonwetsch im ersten Band der Reihe GCS (1897) stellte dem griechischen Originaltext die alte kirchenslawische Übersetzung - ihrerseits ins Deutsche übersetzt - an die Seite. Dies war nicht nur zur Kontrolle des schlecht überlieferten Griechischen nötig, sondern vor allem deshalb, weil größere Teile im Original gar nicht bekannt und daher nur aus dem Kirchenslawischen zu erschließen waren.

Hauptzeuge des griechischen Textes ist der Athos-Codex Vatopedi 290 (olim 260), der jedoch übel zerfleddert auf uns gekommen ist. Die Entdeckung Richards im Jahr 1963, von der er selbst sagt, sie sei "une des plus grandes joies de ma carrière de chercheur" gewesen (Opera minora, Nr. 13, S. 2), bestand in der Erkenntnis, dass 33 fehlende Blätter in der Handschrift Vatopedi 1213 erhalten sind (außer der Hippolyt-Schrift De Christo et Antichristo handelt es sich um die Anfangspassagen des Danielkommentars, I 1,1-30,2). Hiermit und mit verstreuten Handschriftteilen in Paris und St. Petersburg liegt nun der vollständige griechische Text des Kommentars vor. Nur anhand einiger Andeutungen in der Einleitung sowie zahlreicher Apparateinträge kann man sich jedoch ein Bild davon machen, wie schwierig und mühselig die Entzifferung des partiell beschädigten Codex an vielen Stellen war. Es bedurfte der Meisterschaft und Kennerschaft eines Marcel Richard, um trotz allem einen nahezu lückenlosen Text zu gewinnen oder zumindest mit gut begründeten Konjekturen auszuhelfen. Auf diese Weise ist es gelungen, den ältesten erhaltenen Bibelkommentar der Christenheit "bis auf wenige Worte" (XXXIX) im Originaltext wiederzugewinnen.

Freuden und Mühen dieser außergewöhnlichen Entdeckungsgeschichte werden plastischer, wenn man die diversen Aufsatzveröffentlichungen Richards zum Thema mit heranzieht; sie sind in den "Opera minora" (3 Bde., hier Bd. 1, Turnhout 1976, bes. Nr. 11, 13 und 14) bequem zugänglich und vermögen an vielen Stellen die Einleitung der Edition sinnvoll zu ergänzen. Diese Einleitung ist eher knapp gehalten und verzichtet - von der GCS-Tradition abweichend - weitgehend auf eine historische Einordnung des faszinierenden Textes; ein paar Bemerkungen haben die Bearbeiter von 1999 dankenswerterweise zugesetzt (XXXVI f.). Was den kirchenslawischen Text betrifft, so wird die sehr wörtliche Übersetzung Bonwetschs weitgehend unverändert wieder abgedruckt. Eine kritische Ausgabe des Textes bereitet Christoph Koch vor.

Es sei an dieser Stelle besonders darauf hingewiesen, dass ein "Lesetext" der Edition im Internet als pdf-Datei verfügbar ist (http://www.bbaw.de/forschung/gcs/digidoc.html). Von manchen technischen Unvollkommenheiten abgesehen, ist damit jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung getan; dass hier gleichwohl große Probleme kaufmännischer und fachlicher Natur liegen, sei wenigstens angedeutet.

Dass und wie sehr die Lektüre des Textes spannend und aufregend ist für jeden am antiken Christentum Interessierten, braucht hier kaum eigens hervorgehoben zu werden. Es ist ein Text sowohl abstrakter Spekulation als auch konkreter Exegese, dabei gleichzeitig ein Zeitzeuge der ersten Jahre des dritten Jahrhunderts. Man lese etwa Texte wie I 15,4 oder I 21,2 f., die die Verfolgungssituation vor Augen stellen - Stellen, die man bisher nicht oder schlecht auf griechisch kannte. Dabei gilt auch nach Richards Entdeckung und seiner hervorragenden editorischen Arbeit noch, dass "der emendierenden Kritik ... ein sehr weiter Spielraum gewahrt bleibt" (Bardenhewer), dass also der Benutzer stets die umfangreiche Dokumentation im kritischen Apparat mitlesen und mitberücksichtigen sollte und sich dann ein eigenes Urteil über den manchmal schlecht überlieferten Text bilden muss.

Was dabei die Benutzung sehr erschwert, ist das Fehlen einer Bezeugungsleiste. Da die Textüberlieferung komplex ist und die Angaben im Apparat die Information oft in sehr dichter Form enthalten, muss sich der Leser an jeder ihn interessierenden Stelle zunächst mühselig ein Bild davon verschaffen, welche Zeugen für den fraglichen Passus überhaupt vorhanden sind, um sodann Wert und Lesart jedes Einzelnen aus Apparat und Einleitung zu erheben. Beispielhaft sei dies an dem berühmten Kapitel IV 23 vorgeführt, wo Hippolyt Geburt und Passion Christi tagesgenau datiert. Das Kapitel befindet sich innerhalb eines längeren Abschnittes zu Fragen der Endzeitberechnung (IV 15- 24; im Anschluss an die Auslegung von Dan 7); dort weist Hippolyt zunächt chiliastische Naherwartungen zurück, um dann doch der Versuchung zu erliegen und das zu sagen, was eigentlich nicht zu sagen ist (IV 23,1), nämlich das genaue Datum der Ankunft Christi, aus dem sich dann auch der Beginn des bevorstehenden tausendjährigen Reiches ergibt (wenn man die allgemein akzeptierte Auffassung zu Grunde legt, dass dies im Weltjahr 6000 geschehen wird).

Auf Grund von Richards Text steht zweifelsfrei fest, dass Hippolyt die Geburt Christi auf Mittwoch, den 2. April des Weltjahres 5500 festlegt - was für einen Autor zu Beginn des dritten Jahrhunderts in jedem Fall noch hinreichend "Luft" bis zum Ende dieses Äons lässt. Allerdings ist der Befund recht komplex: Den fraglichen Text überliefern die Zeugen A, B, G, J, P, ferner die (gegenüber abgedruckte) slawische Übersetzung sowie ein syrischer Brief Georgs des Arabers. Für die Sigle G fehlt eine Auflösung im Siglenverzeichnis: dem Apparat zu S. 244,6 ist zu entnehmen, dass es sich um zwei Athoscodices handelt (mit G1 und G2 bezeichnet). Der wichtige Verweis auf Synkellos im Apparat zu S. 244,8 bezieht sich noch auf die Ausgabe Dindorfs im Bonner Corpus; nur in der Einleitung wurden die Synkellos-Zitate von den Bearbeitern auch nach der Edition von A. Mosshammer (BiTeu, Leipzig 1984) gegeben, hier muss die Angabe lauten: 381,18-22.

Das Problem besteht nun darin, dass das später etablierte Weihnachtsdatum 25. Dezember in die Hippolyt-Überlieferung eingedrungen ist (eigentlich nicht allzu erstaunlich). Nur dieses Datum bieten B, G und P sowie die slawische Übersetzung. Glücklicherweise hat sich wenigstens eine Spur des April-Datums in dem genannten Vatopedi-Codex (A) erhalten; dort steht ein offensichtlich korruptes pro tessaron aprillion neben dem (in der Handschrift offenbar kaum noch lesbaren) Dezemberdatum. Die Zeugen J und Georg sahen sich der konfusen Doppelangabe gegenüber und wussten sich nur dadurch zu helfen, dass sie die Datumsangabe einfach ganz wegließen. Den Ausschlag zur korrekten Ergänzung der Lesart von A gibt nun die Ostertafel auf der bekannten Hippolytstatue, die sich heute im Foyer der vatikanischen Bibliothek befindet; dort wird zum vierten Tag vor den Nonen des April (= 2. April) bemerkt: genesis Christou (ICUR NS 19934). Also muss der Text richtig lauten: pro tessaron nonon aprilion.

All dies ist zumindest in nuce in Richards Apparat und Einleitung enthalten; die Restitution des Textes ist überzeugend. Es ist allerdings recht mühselig, die relevanten Informationen zusammenzusuchen; der Leser ist gut beraten, die Seiten XXVI (Lesart von J und Georg, Verhalten von C, E, M) und XXIX (Text, wie er von Richard restituiert ist) der Einleitung mit zu berücksichtigen.

Weniger klar ist der Sachverhalt in Bezug auf das Todesdatum Jesu. Hier datiert Hippolyt auf vierfache Weise, nämlich mit Angabe (1) der Lebenszeit Jesu, (2) des genauen Todestages, der ja auf einen Freitag fallen muss, (3) des Regierungsjahres des Tiberius und (4) des Konsuljahres. Richard korrigiert nun (1) und (3) gegen das Zeugnis der Handschriften auf Grund der Angaben der genannten Ostertafel (die im App. genannte Chronik kommt als Zeuge hier kaum in Betracht); bei (4) ist ein Eingriff ohnehin erforderlich, da vier statt zwei Konsulnamen gegeben werden. Dies führt ihn auf den 25. März des Jahres 28 n. Chr. Indessen ließe sich hier mit sehr viel geringeren Eingriffen am Text guter Sinn herstellen: Wenn nur (4) korrigiert oder - vielleicht besser - mit einer Crux versehen wird, stimmen alle übrigen Angaben überein: es ergibt sich Freitag, der 25. März 31 n. Chr., das 33. Lebenjahr Jesu, das 18. Regierungsjahr des Ti-berius. Im Übrigen lässt sich gut erklären, dass in der Überlieferung Probleme beim Konsuljahr aufgetreten sind, denn im fraglichen Jahr waren Kaiser Tiberius und L. Aelius Seianus Konsuln, doch auf Grund der damnatio memoriae des L. Aelius Seianus stand in Hippolyts Text vielleicht nur ein Name, der des Kaisers - was zu Heilungsversuchen einlädt. (Außerdem hat Richard möglicherweise nicht bedacht, dass in Hippolyts System sowohl im Jahr 28 als auch 31 der 25. März auf einen Freitag fiel.)

Tatsächlich setzt diese Lösung voraus, dass Hippolyt seine Auffassung in den zwei Jahrzehnten, die zwischen dem Danielkommentar und der Ostertafel liegen, geändert haben muss. Es ist indessen nicht zu sehen, was dagegen sprechen soll, zumal in der Zwischenzeit wohl Kontakt und Austausch mit Iulius Africanus stattgefunden haben, der jedenfalls die "kurze Chronologie" des Lebens Jesu (31 Jahre) vertritt (frg. 50 f. Routh). Man muss nicht Anhänger einer Hypothese von zwei (oder drei oder vier) Hippolyten sein, um zu finden, dass Richard in diesem Falle mit dem Prinzip Hippolyton ex Hippolytou saphenizein zu weit geht. (Zu dem ganzen Problem vgl. auch Nr. 19 in den Opera minora, wo der "Sitz im Leben" deutlich wird, nämlich die Debatte um Nautins Hippolyt-Thesen.)

An dieser Stelle lässt sich schön zeigen, wie überaus technische Fragen der Textkritik und der Chronologie beträchtliche Auswirkungen auf Theologie und Literaturgeschichte haben können. Die Diskussion lohnt sich bei einem so faszinierenden und facettenreichen Text wie Hippolyts Danielkommentar sehr; durch die Publikation von Richards Edition ist nun eine neue und sehr viel bessere Grundlage dafür geschaffen.

Angesichts der Entstehungsgeschichte dieser Edition verbietet es sich, hier auf kleinliche Weise Stellen zusammenzutragen, an denen bei der Drucklegung nach über 25 Jahren mehr und anderes dem ursprünglichen Manuskript gegenüber nachgetragen hätte werden können. Vielmehr gebührt denen große Dankbarkeit, die schließlich doch die Flucht nach vorne angetreten und auf diese Weise der wissenschaftlichen Welt einen grundlegenden Text für die Geschichte des frühen Christentums neu zugänglich gemacht haben. Was lange währt, wird endlich gut!