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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

158–161

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bockmuehl, Markus

Titel/Untertitel:

Jewish Law in Gentile Churches. Halakhah and the Beginning of Christian Public Ethics.

Verlag:

Edinburgh: Clark 2000. XVII, 313 S. gr.8. Geb. ISBN 0-567-08734-4.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Exegetische Untersuchungen der neutestamentlichen Aussagen zum jüdischen Gesetz haben in der gegenwärtigen Forschungslage gegenüber einer langen kirchlichen Auslegungstradition stark veränderte Voraussetzungen und Ausgangspunkte. Zu den wirksamsten Neuorientierungen der Forschung gehören die Neubewertung der Bedeutung und Funktion der Tora im Frühjudentum sowie die "neue Perspektive" auf Paulus, die insbesondere die missionsstrategischen Gegebenheiten und Zusammenhänge der theologischen Aussagen seiner Briefe als konstitutiv für deren Interpretation anzusehen gelernt und gelehrt hat. Auch die Einordnung der Person Jesu und seines Wirkens in das Judentum seiner Zeit (in betonter Differenzierung von einer sich in der rabbinischen Traditionsliteratur präsentierenden, deutlich später konstituierten Gestalt des Judentums, die lange Zeit, nicht zuletzt auf der Basis des verdienstvollen Sammelwerkes von Paul Billerbeck, den weithin einzig wahrgenommenen jüdischen Kontext Jesu bildete) hat erhebliche Veränderungen am Bild von Jesu Haltung zur Tora zur Folge gehabt.

In dem Zusammenhang ist gelegentlich der Eindruck entstanden oder erweckt worden, solche Neuorientierungen der Fachwissenschaft hätten zur Abkehr von der Untersuchung und Beurteilung der theologischen Inhalte des Neuen Testaments geführt, zu Gunsten einer immer materialreicher und differenzierter arbeitenden, vorwiegend religionsgeschichtlich bzw. kulturwissenschaftlich ausgerichteten Spezialforschung. Dass dies keineswegs so sein muss (wenngleich zweifellos Tendenzen in dieser Richtung zu beobachten sind), belegt das zu besprechende Buch von Markus Bockmuehl, Lecturer für Neues Testament in Cambridge. Gegenstand seiner Untersuchung ist die Herausbildung von Ansätzen einer normativen, auf die römische Gesellschaft der ersten Jahrhunderte nach Christus ausstrahlenden christlichen Ethik ("Christian Public Ethics"). Sein Interesse liegt dabei nicht primär bei der religionsgeschichtlichen Analyse und der Rekonstruktion von Traditionslinien. Vielmehr möchte er die Logik der frühchristlichen Ethik herausarbeiten und verstehen: "It is the shared concern of these studies to examine something of the moral logic of early Christian ethics. If there were binding norms, what made them so, and on what basis were they articulated?" (VII)

B. geht davon aus und möchte durch seine Analysen und Synthesen exegetisch untermauern, dass der bemerkenswerte Einfluss des frühen Christentums auf die Antike gerade auf dem Gebiet der Ethik und Moral weitgehend auf der Adaptation von frühjüdischen Traditionen und Modellen für ein universal gültiges Wertesystem beruhte. Insbesondere geht er solchen Traditionslinien nach, welche die Forderungen biblischer Ethik ausdrücklich auf Nicht-Israeliten übertragen, so z. B. die Rezeption der Gebote des Pentateuch für im Lande wohnende Fremde (vgl. bes. Lev 17 f.) oder mögliche frühjüdische Vorstufen der sogenannten "noachidischen Gebote" in der rabbinischen Literatur. Im ersten Teil des Buches untersucht er grundlegende Prinzipien und Kriterien der Ethik in der Jesus-Überlieferung. Im zweiten Teil arbeitet er Konzeptionen einer universalen Ethik im Spannungsfeld von Juden und Nichtjuden, welches die Rahmenbedingungen der frühchristlichen Mission bestimmte, heraus. Im dritten Teil schließlich beschreibt er Ansätze zur Ausbildung einer gesellschaftlich wirksam werdenden christlichen Ethik.

Hat das Buch somit ein in sich geschlossenes, klar erkennbares Programm, das im Vorwort (VII-XVI) im Vorblick auf die folgenden Kapitel auch knapp skizziert wird, so stellt sich freilich schnell heraus, dass es offenbar noch nicht selbst dessen Durchführung bieten will. Vielmehr besteht der Band zum weit überwiegenden Teil aus bereits früher publizierten Einzelstudien (281: Nachweis der Erstveröffentlichungen), die in der Regel nur geringfügig überarbeitet und auf den thematischen Zusammenhang der Sammlung zugeschnitten worden sind. Dass dabei für die Fragestellung nicht unerhebliche Quellenbereiche und thematische Zusammenhänge bisher nur am Rande oder noch gar nicht in die Untersuchungen einbezogen worden sind (z. B. mit Blick auf das Frühjudentum die pseudepigraphe jüdisch-hellenistische Autorenliteratur und das Gesamtwerk Philos, hinsichtlich der frühchristlichen Quellen die Katholischen Briefe, der Barnabasbrief oder die Didache), ist auf dem Hintergrund eines sich noch im Fortgang befindlichen Forschungsprojektes zu verstehen. Daher muss ein abschließendes Urteil zur These des Vf.s und zur Überzeugungskraft ihres Nachweises vorerst offen bleiben, und die vorliegenden Studien sollen zunächst einmal, soweit das hier möglich ist, für sich gewürdigt werden.

Die erste Studie (Halakhah and Ethics in the Jesus Tradition, 3-21) wendet sich gegen die traditionelle Bewertung der Haltung Jesu zum Gesetz als "antinomistisch" und stellt seine ethischen Grundforderungen in den Kontext frühjüdischer Rezeptionsprozesse der Tora. Die zweite Studie belegt das an einem konkreten Beispiel, den Jesus-Worten zur Ehescheidung (Matthew's Divorce Texts in the Light of Pre-Rabbinic Jewish Law, 17-21). Im dritten Aufsatz (Let the Dead Bury their Dead. Jesus and the Law Revisited, 23-48) wird eine in der jüngeren Forschung mehrfach vertretene grundsätzlich torakritische Interpretation des Logions abgewiesen und demgegenüber auf die Gelübde der Nasiräer als Verständnishintergrund des Wortes (und der Jesus-Bewegung insgesamt) verwiesen. Die vierte Untersuchung im ersten Teil (James, Israel and Antioch, 49-83) wendet sich dem "antiochenischen Zwischenfall" zu und interpretiert besonders die Position des Herrenbruders Jakobus in diesem Zusammenhang als Ausdruck seiner Intention, die Identität des endzeitlich erneuerten Zwölf-Stämme-Volkes in den Grenzen des Landes der Verheißung zu wahren. Mit bemerkenswerten Belegen und Hinweisen wird dabei eine gewisse Ambivalenz bei der Beurteilung der Zugehörigkeit Syriens bzw. Antiochias zum Land Israel in biblischen, frühjüdischen und rabbinischen Quellen aufgedeckt, so dass sich die Frage der Anwendbarkeit frühjüdischer Halacha für das Land auf Antiochia durchaus verschieden beantworten ließ.

Teil zwei enthält drei Untersuchungen zu Ansätzen einer frühjüdischen Ethik für Nicht-Israeliten, die im frühen Christentum rezipiert und adaptiert werden konnten. Zunächst (Natural Law in Second Temple Judaism, 87-111) werden aus den drei Teilen der jüdischen Bibel und aus der frühjüdischen Literatur überblicksartig zahlreiche Hinweise auf die Übereinstimmung zwischen der Tora und den Ordnungen der Schöpfung zusammengetragen, womit der universale Wille des Schöpfers in Bezug auf das rechte Tun aller Menschen erkennbar wird. Sodann wird in ähnlicher Weise das Neue Testament, mit Schwerpunkten bei Jesus und Paulus, auf vergleichbare Befunde befragt (Natural Law in the New Testament?, 113- 143 [bisher unveröffentlicht]), wobei neben partieller Übereinstimmung mit frühjüdischen Konzeptionen (besonders mit Blick auf weisheitliche Traditionen) auch für das Neue Testament spezifische Gesichtspunkte hervortreten (so die Verankerung ethischer Forderungen in der Person und dem Geschick Jesu). Die dritte Studie in diesem Teil (The Noachide Commandments and New Testament Ethics, 145-173) versucht vorrabbinische Vorläufer einer Halacha für Nichtjuden zu rekonstruieren, wie sie z. B. in geprägten Zusammenstellungen von zentralen Verhaltensweisen bzw. Vergehen gegen den Willen Gottes erkennbar werden. Eine in sich schlüssige Konzeption von einer vor-sinaitischen Tora sei freilich erst in rabbinischer Zeit entwickelt worden (= "noachidische Gebote").

Teil drei besteht aus einer ausführlichen Analyse apologetischer Konzeptionen bei christlichen Autoren im 2. Jh., die exemplarisch an der Apologie des Aristides von Athen und dem sogenannten Diognet-Brief durchgeführt wird (The Beginning of Christian Public Ethics. From Luke to Aristides and Diognetus, 177-228 [bisher unveröffentlicht]), sowie einer knappen Synthese der vorangehenden Untersuchungen (Jewish and Christian Public Ethics in the Early Roman Empire, 229- 240). Hier werden noch einmal in wünschenswerter Deutlichkeit Anliegen, Methode und Tendenz eines Ergebnisses, das sich aus den vorgelegten Einzelstudien bereits ablesen lässt, zur Sprache gebracht: Entgegen der immer noch weithin vorherrschenden Gegenüberstellung bzw. Entgegensetzung von "Gesetz" und "Christus" als den jeweils maßgeblichen Strukturprinzipien jüdischer und christlicher Ethik sieht B. eine wesentliche Differenz zwischen christlicher und jüdischer Ethik vielmehr in der Ausrichtung oder wenigstens Ausweitung ethischer Konzepte auf Nichtjuden. Um Übereinstimmungen und Differenzen und damit gewissermaßen ein Profil jüdischer bzw. christlicher Ethik herauszuarbeiten, bedient sich B. der Methode des halachischen Vergleichs ("comparative halakhic approach", 233). Dabei wird zum einen eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung zwischen jüdischer Halacha für Nichtjuden und christlicher Ethik sichtbar, zum anderen darüber hinaus auch ein spezifisch christlicher Lebensstil, der seine Grundzüge durch Ausrichtung an der Person Jesu gewinnt.

Die hier vorgelegten Studien erweisen zunächst einmal die Produktivität eines Forschungsansatzes, der Erkenntnisgewinne aus der neueren Erforschung des antiken Judentums zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments fruchtbar macht für durchaus aktuell orientierte theologische Fragestellungen. Ob die angedeutete Untersuchungsrichtung zu einem überzeugenden Gesamtergebnis führt, lässt sich abschließend erst beurteilen, wenn die einschlägigen frühjüdischen und frühchristlichen Quellen wirklich umfassend und in einer noch stärker integrierten Untersuchung erschlossen worden sind.

Offenbar hat B. bisher noch keine Kenntnis von dem sachlich verwandten, wenngleich methodisch deutlich anders akzentuierten Forschungsansatz von Michael Wolter genommen (vgl. M. Wolter, Ethos und Identität in paulinischen Gemeinden, NTS 43, 1997, 430-444; ders., Die ethische Identität christlicher Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: W. Härle/R. Preul [Hrsg.], Woran orientiert sich Ethik? [MJTh 13=MThSt 67], Marburg 2001, 61-90). Ein Gedankenaustausch zwischen beiden Projekten schiene mir reizvoll.