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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

155 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schoeps, Julius H., u. Hiltrud Wallenborn [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter.

Verlag:

Darmstadt: Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. VIII, 309 S. 8. Geb. ¬ 39,90. ISBN 3-89678-402-1.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die auf fünf Bände angelegte Sammlung ausgewählter Quellen zur europäisch-jüdischen Geschichte in deutscher Übersetzung will einen ersten Einblick in grundlegende politische, religiös-kulturelle und wirtschaftlich-soziale Zusammenhänge der Geschichte der Juden in Europa vermitteln und den Zugang zu den wichtigsten Primärquellen erschließen.

Schon lange besteht, insbesondere auch bei denjenigen, die der Thematik im Theologiestudium ein stärkeres Gewicht geben wollen, der Wunsch nach einer entsprechenden Quellensammlung. Der vorliegende erste Band des am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam angesiedelten Unternehmens entspricht den möglichen Erwartungen an ein solches Unternehmen weithin.

Den ersten Teil, der die Anfänge des europäischen Judentums in hellenistischer und römischer Zeit zum Gegenstand hat, leiten Grundtexte der Hebräischen Bibel zu Bund, Tora, Tempel und Babylonischem Exil ein. Die geistigen und religiösen Entwicklungen innerhalb des Judentums sowie die Situation der Juden im Römischen Reich sind ebenso gut dokumentiert wie die pagane und christliche Sicht von Juden und Judentum.

Ein zweiter Textteil ist der Geschichte des mittelalterlichen aschkenasischen Judentums bis 1350 gewidmet. Der Einschnitt liegt nahe, bedeuteten die Verfolgungen der Pestzeit doch die Zerstörung der traditionell städtischen Zentren des Judentums. Neben dem kirchlichen Judenrecht und der Judenschutzpolitik der Päpste wird exemplarisch auf die Judenpolitik der Herrscher im Frankenreich und im Römischen Reich sowie in England, Frankreich und Polen eingegangen, so dass auch Vergleichsmöglichkeiten auf europäischer Ebene gegeben sind. Wichtige Abschnitte gelten dem jüdischen Gemeindeleben in Bibelauslegung, Ethik, Gemeindeorganisation, Gottesdienst und Gebet, Berufstätigkeit und Verhalten gegenüber Nichtjuden sowie dem christlichen Antijudaismus. Letzterer wird in seinen theologischen Grundlagen ebenso deutlich wie in seiner polemischen antirabbinischen Umsetzung, den Konsequenzen für (Zwangs-) Taufe und (Zwangs-)Bekehrung sowie für den Umgang mit getauften Juden und der Vorurteilsbildung als Ermöglichungsgrund zahlreicher Pogrome wie in der Kreuzzugszeit.

Der dritte Teil versammelt Quellen zum sefardischen Judentum auf der Iberischen Halbinsel bis zur Ausweisung im Jahr 1492. Auch hier geht es zunächst um die Judenpolitik der Herrscher und die rechtliche Situation der Juden im Westgotenreich sowie in den muslimischen und christlichen Herrschaftsgebieten. Beispiele zur jüdischen Religionsphilosophie (Maimonides, Josef Albo), zur Mystik der Kabbala und zur religiösen und weltlichen Literatur vergegenwärtigen das religiös-kulturelle Erblühen. Seit dem Ende des 13. Jh.s verschlechterte sich die Lage zunehmend, wie anhand von Texten zur Ausgrenzung, Verfolgung und Bekehrung der Juden deutlich wird. Als Beispiel für die mittelalterliche christlich-jüdische Zwangsdisputation wird der Bericht über die Ereignisse von Tortosa (1412-1414) nach Salomo ibn Verga geboten. Jüdische Reaktionen auf den Verfolgungsdruck und Texte zur Tragik der schließlich von der Inquisition verfolgten Conversos (Marranen) beschließen den Quellenteil.

Dem Quellenteil vorausgeschickt ist eine kundige und konzentrierte Einleitung in die historischen Kontexte aus der Feder von Hiltrud Wallenborn (1-30). Auf eine Diskussion des Forschungsstandes der einzelnen Themen wurde leider verzichtet. Wenigstens eine Skizze anstehender Grundfragen wäre hilfreich gewesen. Direkt den Einzeltexten zugewiesene Einleitungen, wie sie sich in den Bänden der "Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen" bewährt haben, hätten hier mehr Spielraum geboten und zudem spezifischere Text-, Kontext- und Literaturinformationen ermöglicht. Immerhin erleichtert eine Auswahlbibliographie (298-302) mit vorwiegend neuerer Literatur weiterführende Studien. Den Quellentexten selbst sind zur Erläuterung knappe, sorgfältig erstellte Anmerkungen beigegeben, die zusammen mit dem Glossar (285-287) einen hohen Grad an Allgemeinverständlichkeit gewährleisten. Die Angabe ursprachlicher Schlüsselbegriffe in Klammer oder Anmerkung hätte m. E. großzügiger gehandhabt werden können. Der Verweis auf die Originaltexte ist nicht immer auf dem neuesten Stand. So ist für Rupert von Deutz, De divinis officiis (Nr. 87), und Petrus Venerabilis, Adversus Judaeorum inveteratam duritiem (Nr. 88), nicht mehr Migne, sondern die Ausgabe des Corpus Christianorum maßgeblich (CChr.CM 7 und 58). Für die Sibyllinischen Weissagungen liegt im Übrigen inzwischen eine Neuausgabe von Kurfess durch J.-D. Gauger vor (Darmstadt 1998). Die Neuausgabe der Conciliorum oecumenicorum decreta von G. Alberigo durch J. Wohlmuth (Paderborn u. a. 2000) bietet nun eine bequeme zweisprachige Darbietung auch der judenrechtlichen Bestimmungen des IV. Lateranums. Das Inquisitionshandbuch des Bernhard Gui (Nr. 94) wurde insgesamt ins Deutsche übersetzt (M. Pawlik, Augsburg 1999). Thomas von Aquin schrieb seine Epistola ad ducissam (!) Brabantiae wohl an Margerita von Konstantinopel, die Tochter Balduins I., des Herzogs von Brabant (zu S. 14). Trotz einzelner Kritikpunkte überzeugen Auswahl, Gliederung und Präsentation der Quellen. Texte zu vermissen, dürfte bei einer solchen Auswahl nur natürlich sein.

Ein Personenregister schließt den Band. Leider fehlt ein Bibelstellen- und Sachregister. Es wäre zu wünschen, dass dies in einem der folgenden Bände oder im Abschlussband nachgeholt wird.

Insgesamt liegt eine gut strukturierte, vielseitige Perspektiven eröffnende Quellensammlung vor, der nicht nur eine zügige Fortsetzung, sondern auch eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Andere Projekte für Quellenbände, die wichtige Aspekte wie den christlichen Antijudaismus differenzierter erschließen - so vom Rez. geplant -, werden dadurch nicht überflüssig.