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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

141–143

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gerstenberger, Erhard S.

Titel/Untertitel:

Theologien im Alten Testament. Pluralität und Synkretismus alttestamentlichen Gottesglaubens.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 270 S. gr. 8. Kart. ¬ 22,50. ISBN 3-17-015974-7.

Rezensent:

Ernst-Joachim Waschke

Das vorliegende Buch geht auf Vorlesungen des Vf.s zurück, die er in Brasilien und Deutschland gehalten hat. Für den Druck wurden diese leicht erweitert und mit bibliographischen Hinweisen versehen. Bewusst verwendet G. den Titel "Theologie" im Plural, denn das Alte Testament stellt eine Sammlung unterschiedlicher Glaubenszeugnisse mit einer Überlieferungsgeschichte von rund einem Jahrtausend dar. In diesem Zeitraum, der sicher etwas knapper zu bemessen sein dürfte, hat sich jedenfalls keine einheitliche Theologie entwickelt. Vielmehr erweist sich innerhalb des Alten Testaments die Vielfalt der theologischen Vorstellungen als konstitutiv. "Die Pluralität und den deutlich erkennbaren Synkretismus der alttestamentlichen Überlieferungen" hält G. deshalb auch "keineswegs für ein Verhängnis, sondern für einen außerordentlichen Glücksfall" (9).

Von hier aus fragt er einführend zum einen nach dem Kontext, aus dem heraus das AT heute zu deuten ist, und zum anderen nach dem Stellenwert, den die alttestamentlichen Schriften in der gegenwärtigen theologischen Diskussion beanspruchen können. Nach beiden Seiten hin wehrt er sich gegen einseitige, den eigenen "Standpunkt" verabsolutierende Sichtweisen. Exegese und darauf gründende Theologie sind immer "begrenzten, konkreten, kontextuellen Bedingungen unterworfen", hierin besteht der "Reichtum der ökumenischen christlichen Theologie und des globalen Konzerts aller Religionen" (11).

Diese ökumenische Standortbestimmung wie die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung verbieten es ihm, eine Theologie des ATs ausschließlich als eine am Kanon orientierte Theologie zu entfalten. Das im "Canon Approach" zum Ausdruck kommende "Bedürfnis nach Einheitlichkeit und Verbindlichkeit" ist seiner Überzeugung nach vielmehr "ein sehr kurzsichtiges, ungeschichtliches und selbstsüchtiges Prinzip, denn es verdrängt alles, was wir heute über die Entstehung der biblischen Schriften wissen und will alles, was nicht in unser eigenes, vorher festgelegtes Denk- und Glaubensmuster paßt, von vornherein ausscheiden" (17). Vor der letzten Gefahr ist aber auch G.s Ansatz selbst nicht gefeit, wenn er den eigenen Standort und Zeithorizont als "apokalyptisch" bestimmt (20). Gemeint ist damit die neue Art der Globalität. Diese besitzt seiner Meinung nach "einen hohen endzeitlichen Rang" insofern, als alle "Bemühungen um Mensch, Welt und Gott vergeblich" werden, "wenn es nicht gelingt, die eine Welt zu denken und in menschenwürdiger und naturbewahrender Form als Lebensraum zu realisieren" (225).

Auf diesen notwendigen, aber nie ideologiefreien Diskurs hin ist seine Darstellung der Theologien des ATs vor allem sozialgeschichtlich orientiert. Nicht nur, dass in einem eigenen Kapitel ein "Abriß der Sozialgeschichte Israels" (3.) geboten wird, sondern auch die nachfolgenden Kapitel: "Der Gott im Kreis von Familie und Sippe" (4.), "Gottheiten der dörflichen (kleinstädtischen) Wohngemeinschaft" (5.), "Gott und Göttin im Stammesverband" (6.), "Reichstheologien in Israel" (7.) und "Die Glaubensgemeinschaft Israels nach den Deportationen" (8.), sind darauf angelegt, "die typischen Gottesvorstellungen und sonstigen theologischen Konfigurationen im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext darzustellen und ihre sozialethischen Konsequenzen aufzuzeigen" (21). Diese Kapitel, die knapp 200 Seiten des Buches ausmachen (26-216) stellen praktisch einen Abriss der Religionsgeschichte Israels von den Anfängen bis zur Konsolidierung der frühjüdischen Gemeinde in der nachexilischen Zeit dar.

Neben dem sozialgeschichtlichen Kontext wird für die Epochen der vorstaatlichen Zeit (Kap. 4-6) das Gewicht auf die Beschreibung des jeweiligen Kultus, der Gottesvorstellung und des Ethos gelegt. Ab der Epoche des Königtums und entsprechend der veränderten Quellenlage differenziert sich in der Darstellung das Bild, indem sowohl Themen wie Volks-, National- und Staatsreligion behandelt als auch die Möglichkeit unterschiedlicher theologischer Entwicklungen im Nord- und Südreich sowie die aufkommende Prophetie ("Opposition von Randgruppen") diskutiert werden. Entsprechend der Einsicht, dass der Jahweglaube wie die wichtigsten Schriften des ATs in der Zeit des Exils und der persischen Epoche ihre maßgebliche Ausformung und Prägung erhalten haben, ist der Darstellung der exilisch-nachexilischen Zeit das Gros der theologischen Themen zugeordnet. Sie reichen von der Frage nach der "Entstehung der heiligen Schriften", der Ausschließlichkeit des Jahweglaubens über Themen wie "Gerechtigkeit und Frieden", "Schöpfung und Geschichte", "Schuld und Sühne" bis hin zu den Fragen nach dem Verhältnis von "Weltreich und Jahweglaube", von "Tempel und Synagoge". Unter der Überschrift "Polytheismus, Synkretismus und der eine Gott" versucht G., das in dem religionsgeschichtlichen Teil Dargestellte zusammenzufassen, wobei die Vielschichtigkeit des Gottesverständnisses im Mittelpunkt steht. Das letzte Kapitel "Nachwirkungen und Auseinandersetzung" (10.) nimmt die eingangs aufgeworfene Frage nach der Bedeutung der alttestamentlichen Glaubensaussagen für Theologie und Kirche heute wieder auf und behandelt sie unter Stichworten wie "Der autonome Mensch", "Der befreiende Gott", "Ethik der Verantwortung". Den Abschluss bildet die Abschiedsvorlesung des Vf.s, die er unter dem Titel "Gott in unserer Zeit" im Juli 1997 an der Universität Marburg gehalten hat (243-255). Sie dient nicht nur als Zusammenfassung oder kann nach G.s eigenem Bekunden "auch als Einführung gelesen werden" (5), sondern lässt sich im weitesten Sinne als ein theologisches Vermächtnis verstehen.

Aus Vorlesungen erwachsen, wendet sich dieses Buch in erster Linie an Studierende und zielt nicht darauf ab, die Fachwelt mit neuen Erkenntnissen zur alttestamentlichen Religionsgeschichte bzw. Theologie zu konfrontieren. Die Konfrontation besteht vielmehr in der Aufforderung, die eigene wissenschaftliche Arbeit nicht nur im historischen, sondern im heutigen Kontext von Theologie, Kirche und Ökumene zu treiben, und die Ergebnisse der Wissenschaft im Diskurs unserer eigenen Zeit zur Geltung zu bringen.