Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

106–109

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kretzschmar, Georg

Titel/Untertitel:

Das bischöfliche Amt. Kirchengeschichtliche und ökumenische Studien zur Frage des kirchlichen Amtes. Hrsg. von D. Wendebourg.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 355 S. gr.8. Geb. ¬ 58,00. ISBN 3-525-55436-2.

Rezensent:

Christoph Markschies

Was Amt und Ordination bedeuten, was insbesondere unter dem Bischofsamt zu verstehen ist, darüber wird im ökumenischen Dialog seit jeher und gerade wieder neu heftig gestritten. Um so dankbarer wird man dafür sein, dass mit dem anzuzeigenden Band die gesammelten Aufsätze eines bedeutenden Kirchenhistorikers vorliegen, der seit seiner Emeritierung als Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS) vorsteht. Die Herausgeberin hat gemeinsam mit Georg Kretzschmar zwölf Aufsätze ausgewählt, die zum Teil auf Vorträge des Autors vor ökumenischen Gremien zurückgehen. Diese verständliche thematische Eingrenzung bringt es freilich mit sich, dass weniger die Seite der historischen Arbeit K.s in den Mittelpunkt rückt, der wir beispielsweise hochgelehrte und luzide Beiträge zur Landeskunde des antiken Palästina verdanken, sondern eher seine wichtigen zusammenfassenden Aufsätze zu den "großen Themen".

Ein repräsentatives Beispiel für dieses Genre ist der zweite Aufsatz des Bandes aus dem Jahre 1980 unter dem Titel "Frühkatholizismus. Die Beurteilung theologischer Entwicklungen im späten ersten und im zweiten Jahrhundert nach Christus" (42-57). K. skizziert zunächst die gewöhnlichen Implikationen dieses Stichwortes für die Sicht der betreffenden Periode (kurz gesagt: der Entwurf folgt meist einem Dekadenzmodell) und entwirft dann "eine Art Gegenkonstruktion" (43; sein Entwurf orientiert sich am Paradigma der "Inkulturation des Evangeliums"). Für die theologische Originalität der Epoche, die sich an das Urchristentum anschließt, zählt K. viele Belege auf und streift unter entsprechender Prämisse die wichtigen Themata einer antiken Christentumsgeschichte, z. B. "Kanon" (47), "Naherwartung" (49 f.) und "Hellenisierung des Christentums" (52 f.). Der Autor äußert zwar deutliche Vorbehalte gegen den hochproblematischen Terminus "frühkatholisch", schließt aber mit der nachdenkenswerten Beobachtung, dass im Kanon des Neuen Testamentes im Unterschied zu dem reduzierten "Kanon Marcions" eine "Einheit in Spannungen" normiert worden sei, die "bewußt Pluralität festhält" und damit "echte Katholizität" realisiert (57). Charakteristisch für die vorsichtig abwägende Art des Autors ist dann übrigens die Lösung, mit der der Aufsatz zum Frühkatholizismus schließt: Seiner Ansicht nach kann man angesichts eines solchen Ringens um "Katholizität" im 2. Jh. den Begriff "frühkatholisch" beibehalten, "auch wenn die Gefahr des Mißverständnisses noch übergroß ist" (57).

Ein anderer Versuch, das 2. Jh. in einem knappen Überblick zu beschreiben, findet sich unter dem Titel "Die Selbstdefinition der Kirche im 2. Jahrhundert als Sammlung um das Apostolische Evangelium" (148-172). Hier setzt der Autor mit zwei verschiedenen Entwürfen für eine Kirchengeschichte aus unterschiedlichen konfessionellen Perspektiven ein (Ebeling und Jedin) und verbindet sie dann mit den Einsichten eines Studienprojekts der McMaster University unter dem Leitbegriff "Self-Definition". In diesem Prozess der Selbstdefinition bezieht sich nach K. die sich konstituierende Kirche auf Schrift, zentral sei der "Bezug auf Jesus Christus", genauer: den Christus "der apostolischen Tradition" (153). Selbstdefinition sei weniger die Normierung von bestimmten Normen im Sinne der traditionellen drei frühkatholischen Normen Harnacks als vielmehr eine "Neusammlung unter dem Evangelium" (156). Von daher werden nicht drei isolierte Normen gesetzt - dieses leider nach wie vor weit verbreitete Modell wäre ja schon soziologisch eine recht ärmliche Beschreibung einer Institutionalisierung -, sondern Konsequenzen aus der Anerkennung einer durch Gott gesetzten Norm (170).

Wertvoll an diesen Beiträgen K.s ist der energische Versuch, die durch Ritschl und Harnack vorgegebene Modellierung der frühen Geschichte des antiken Christentums mit ihrer Rede vom Frühkatholizismus und seinen drei Normen nicht einfach durch beständige Wiederholung zu konservieren, sondern ein neues, theologisch bestimmtes Modell der Entwicklung von früher Kirche vorzulegen. Mit neueren Ergebnissen (literar-)historischer Forschung ist dieser Entwurf in den vorgelegten Aufsätzen nicht verbunden, aber die Aufgabe wäre reizvoll und entspräche dem Impetus anderer, hier nicht abgedruckter Arbeiten des Autors. Eine Ausnahme bildet der Aufsatz "Anspruch auf Universalität in der Alten Kirche und Praxis ihrer Mission" (111-147), in dem viele neue Details das alte Bild von der "Ausbreitung des Christentums" bei Harnack ergänzen. Besonders wichtig sind die Überblicke zum antiken persischen und äthiopischen Christentum.

Daneben enthält der Band, wie bereits der Titel anzeigt, vor allem Studien zu den Komplexen "Ordination", "Amt" und "Bischofsamt". Die abgedruckten Texte K.s dokumentieren ein Gefühl für den Sinn der Liturgie und ihre Bedeutung für Glaube und Leben christlicher Kirchen, das man aus anderen Texten dieses Gelehrten kennt. Ein charakteristisches Beispiel ist der eröffnende Aufsatz "Die Ordination im frühen Christentum" (11-41), mit ausführlichen Bemerkungen über die jüdische Ordinationspraxis als der Grundlage der christlichen, die an E. Lohses Dissertation von 1949 anknüpfen und sie kritisch fortschreiben (23-29). Gleichwohl bleibt immer die Entwicklung bis in die Gegenwart im Blick: K. betont, dass Ordination "im Regelfall Einweisung in eine freigewordene Stelle ist" (39) und es gleichwohl keine theologischen Gründe gegen eine "Gleichstellung aller Amtsträger, die volle Ordination haben", gibt. (29). Dieses dezidiert auf die Gegenwart des ökumenischen Gesprächs gerichtete Interesse wird vor allem in den Aufsätzen "Probleme des orthodoxen Amtsverständnisses" (58-79), "Ämter und Dienste im ganzen Gottesvolk im Dialog mit der orthodoxen Kirche" (173-190), "Seit wann gehört das Bischofsamt zu den Kontroversthemen zwischen Orthodoxie und Protestantismus?" (221-233) und "Das Gegenüber von geistlichem Amt und Gemeinde" (80-110) erkennbar. Hier werden nicht nur die bekannten und weniger bekannten Dokumente des evangelisch-orthodoxen Gespräches seit den ersten Kontakten über die Confessio Augustana in den Jahren 1574 bis 1581 behandelt, sondern wichtige Beobachtungen zum Verhältnis von Lehre und Praxis in den orthodoxen Kirchen und vergessene Details aus der Geschichte der evangelischen Ämter(-Theologien) mitgeteilt (so auch in: "Die Ordination bei Johannes Bugenhagen" [191-220] oder "Die Wiederentdeckung des Konzepts der Apostolischen Sukzession im Umkreis der Reformation" [300-344]).

Freilich fragt man sich angesichts der Bedeutung der hier versammelten Aufsätze für die historischen wie systematischen Disziplinen der Theologie, ob es eine gute Idee war, die Aufsätze abgesehen "von formalen Angleichungen und Korrekturen ... in unveränderter Gestalt" erscheinen zu lassen (5). Dass der Autor diese Aufgabe angesichts seiner gegenwärtigen wichtigen Arbeit in der GUS nicht selbst durchführen konnte, begründet er selbst in einem "Nachwort des Verfassers" einleuchtend (345-349). Es wäre aber für die Wirkung der Beiträge hilfreich gewesen, wenn die Editorin des Bandes dem Autor der Beiträge diese Arbeit abgenommen hätte und so ihrer eigenen Intention, "daß die Stimme Georg Kretzschmars in der historischen und ökumenischen Debatte über das kirchliche Amt die ihr gebührende Rolle spielt" (5), besser gerecht geworden wäre. Immerhin wurden die Seitenverweise innerhalb der Aufsätze aktualisiert (z. B. 235, Anm. 3) und die Wiedergabe der Texte erfolgt, von ganz wenigen Druckfehlern abgesehen (so wird 23, Anm. 40 aus Peter Schäfer ein "D. Schäfer"), sehr zuverlässig.

Einige wenige Beispiele für Punkte, an denen man sich eine solche Aktualisierung der Beiträge gut hätte vorstellen können: K. bezieht in seine Aufsätze immer wieder in einem nicht selbstverständlichen Umfang Quellen ein, die sonst leider oft zu wenig beachtet werden. Hätte ein Zitat aus der Anaphora von Addai und Mari (53 f.) nicht einen Nachweis in der neuen kritischen Ausgabe verdient? Was Richard 1970 in der Festschrift Quasten im Voraus veröffentlichte, ist nun endlich in den Rahmen einer Neuedition des Hippolyt-Textes in den "Griechischen Christlichen Schriftstellern" integriert. Auch wird man heute wohl nicht mehr abdrucken dürfen, dass die Ausgabe des "Targum Neofiti 1 ... leider noch nicht bis Numeri gelangt" sei (23 u. 39). Ob man nicht wenigstens einen Hinweis zu der heftigen Diskussion über Autoren, Entstehungsregion und Datierungsprobleme der Traditio Apostolica hätte ergänzen sollen, die praktisch in jedem der abgedruckten Texte vom Autor als ein zentraler Beleg seiner Thesen herangezogen wird (vor allem das Bischofsweihgebet erwähnt K. immer wieder: 12-20.37.69-72.82-85.95 f.235-238.278- 283.301 f.)? K. selbst spricht in seinem Nachwort deutlich vorsichtiger als in den Aufsätzen von "der Hippolyt von Rom zugeschriebenen Kirchenordnung" (348). Im erwähnten Aufsatz über den "Frühkatholizismus" erwägt der Autor (mit Harnack), dass die Zahl der Marcioniten "der werdenden Großkirche anfangs ebenbürtig gewesen seien" (47). Kann man wirklich diesen theologisch motivierten historischen Wunschtraum Harnacks heute noch einfach so übernehmen oder müsste man nicht wenigstens einen neueren Aufsatz über die Zahl antiker Christen im zweiten Jahrhundert zitieren (vgl. z. B. K. Hopkins, Christian number and its implications, JECS 6, 1998, 185-226)? Oder muss wirklich noch abgedruckt werden, dass eine "Geschichte der urchristlichen Prophetie" ein "höchst dringendes Desiderat" sei (50, Anm. 15)? Nicht einmal seither erschienene Aufsätze von K., deren Erscheinen einst angekündigt war, sind nachgewiesen: (20 u. 31). Gelegentlich ergeben sich aber auch Fragen an die ursprünglichen Beiträge K.s, die man gern mit ihm selbst diskutieren würde: "Ob es wirklich Beziehungen zwischen "essenischer Gemeindeordnung" und dem antiken christlichen Bischofsamt gibt (22)?

Abgeschlossen wird der Band durch ein Schriftenverzeichnis K.s für die Jahre 1986-1998; leider fehlt ihm ein Stellen-Register, das den Reichtum der Primärtexte, die im Hintergrund der Argumentationen K.s stehen, erschließen hilft. Etwas merkwürdig ist auch, dass zwar die Paginierung der Originalaufsätze sorgfältig durch Querstriche im Text angezeigt wird, aber die darauf bezüglichen Seitenzahlen nirgendwo im Text mitgeteilt werden. Aber alle solche Einwände schmälern nicht die Dankbarkeit dafür, dass diese wichtigen Beiträge nun für historische wie systematische Arbeit erheblich leichter zugänglich sind.