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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

98 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nauer, Doris

Titel/Untertitel:

Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 475 S. m. Abb. gr.8 = Praktische Theologie heute, 55. Kart. ¬ 25,00. ISBN 3-17-017115-1.

Rezensent:

Reinhard Schmidt-Rost

"Eine Generation tritt ab." So beginnt D. Stollbergs Nachruf auf Hans-Christoph Piper im Deutschen Pfarrerblatt (03/ 2002), und aus den biographischen Angaben entsteht ein Bild von nahezu vierzig Jahren der Bemühung um eine moderne, psychologische Seelsorgelehre. Es waren in der Tat Jahre des Widerstreits. Von der Ausdifferenzierung der speziellen Seelsorgelehre unter dem Einfluss der Human- und Sozialwissenschaften in diesem Zeitraum seit den 1960er Jahren, nicht zum wenigsten unter dem Einfluss von H.-Ch. Piper, berichtet die Tübinger Habilitationsschrift von Dr. med. et theol. Doris Nauer, Mitarbeiterin von Otmar Fuchs, eine Arbeit aus der katholischen Fakultät also, die aber in ihrer Intention und in der Fülle der vorgestellten Theorien den derzeit interkonfessionellen Charakter des Arbeitsfeldes "Individuelle Seelsorge" breit belegt, "da gerade auf dem Sektor Seelsorge gegenseitige Abgrenzungsstrategien zunehmend der Vergangenheit angehören" (17). Der Titel "Seelsorgekonzepte im Widerstreit" steht somit für ein historisches Urteil, was der Untertitel "Ein Kompendium" unterstreicht: Der Streit (vor allem um die Bedeutung der Psychologie für die Seelsorge) ist beendet, die Positionen lassen sich systematisch zusammenordnen.

Der Systematik der Seelsorgelehre hat sich diese Arbeit verschrieben; sie ist fasziniert von dem Gedanken, das weite Feld der Seelsorgelehre so übersichtlich zu ordnen, dass aus der An- und Zuordnung verschiedener Beiträge zur Poimenik sich eine Orientierung der Seelsorgepraxis ergeben könnte. Denn "Seelsorgekonzepte werden ... nicht um ihrer selbst willen entworfen. Sie dienen dazu, professionellen kirchlichen Seelsorgern und Seelsorgerinnen (Pfarrern u. Pfarrerinnen, Vikaren u. Vikarinnen, Priestern, Diakonen, Ordensangehörigen, PastoralreferentInnen ... ) ein wissenschaftliches Instrumentarium an die Hand zu geben, das ihren Arbeitsalltag nicht zusätzlich verkomplizieren, sondern erleichtern soll. Seelsorgekonzepte zielen darauf ab, dem Individuum Seelsorger/Seelsorgerin dazu zu verhelfen, die eigene Tätigkeit auf die spezifisch christliche Dimension hin zu überprüfen und zu vertiefen." (13)

Unter einem Seelsorgekonzept versteht N. "ein Produkt theologischer Forschung: Wissenschaftlich tätige Praktische Theologen u. Theologinnen, die zumeist auf eigene Seelsorgeerfahrungen zurückgreifen können, konzipieren arbeitsplatzübergreifende inhaltliche Beschreibungen und allgemeine Definitionen von Seelsorge." (13) Insgesamt dreißig verschiedene solcher Konzepte unterscheidet N., die allerdings bis auf ihr eigenes, unter Nr. 30 dargestelltes, gerade nicht mit einer Person verbunden sind. "Der Forschungsschwerpunkt liegt ... nicht darauf, den jeweiligen Seelsorgeansatz einer Einzelperson in all seiner Komplexität zu erfassen und darstellen zu wollen. Herausgefunden werden soll vielmehr, welcher Personenkreis einen ähnlichen Ansatz vertritt, um dann puzzleartig aus deren Schriften ein Seelsorgekonzept entstehen zu lassen." (15) Die Auswahl der Autoren und Texte folgt im Übrigen dem Kriterium der Aktualität bzw. der "Gegenwartsrelevanz für katholische oder evangelische kirchliche Seelsorge." (17)

Die 29 Seelsorge-Typen werden in drei große Kapitel zusammengefasst (Seelsorgekonzepte mit theologisch-biblischer, mit theologisch-psychologischer und theologisch-soziologischer Perspektivendominanz), wobei das erste Kapitel noch einmal unterteilt ist in "Klassische evangelische Konzepte" und "Interkonfessionelle Konzepte".

Die Typisierung bedient sich der Begriffe, die in den jeweiligen Theorien gebräuchlich sind bzw. eine wichtige Rolle spielen. So steht Altbekanntes wie "Kerygmatische (Verkündigende Seelsorge)", "Nuthetische (Ermahnende), Parakletische (Tröstende) Seelsorge", Pastoral Counseling (Beratende Seelsorge) usw. neben "brandaktuellen" (349) Konzeptionstypen wie "Transversale Seelsorge, künstlerische Seelsorge". Auch die charismatische Seelsorge wird erstmals gewürdigt und in den Zusammenhang zeitgenössischer Seelsorgelehre eingeordnet.

Die einzelnen Abschnitte sind völlig kongruent konstruiert: Einem allgemeinen Überblick über die jeweiligen Protagonisten und - mehr und mehr - auch Protagonistinnen des Konzeptes, Hintergrundinformationen, terminologischen Klärungen, illustriert durch ein Schaubild, folgen 2. Definition, inhaltliche Beschreibung und Zielsetzung von Seelsorge, 3. Theologische Konzeptfundierung mit dem dahinterstehenden Gottesbild, 4. Frage nach dem zu Grunde liegenden Menschenbild und Krankheitsverständnis, 5. Klärung des Einflusses theologie-externer Theorieelemente, 6. Darstellung des Rollen- und Kompetenzprofils von Seelsorgern und Seelsorgerinnen, 7. Suche nach Konzeptvorgaben für die seelsorgliche Alltagspraxis und Methodenwahl (20).

Es ist bemerkenswert, dass 1966, als sich die Praktische Theologie den Humanwissenschaften auch für das Gebiet der Seelsorge zuzuwenden begann, ebenfalls ein katholischer Autor eine zusammenfassende, interkonfessionelle Übersicht für die Lehre von der individuellen Seelsorge vorlegte: Wolfgang Offeles "Das Verständnis der Seelsorge in der pastoralpsychologischen Literatur der Gegenwart" (Mainz 1966) findet sich zwar im Literaturverzeichnis, wird aber im Text nicht erwähnt. Zusammen dokumentieren die beiden Arbeiten Anfang und Ende einer Seelsorgetheoriebildung, die im selbstverständlichen Austausch mit Psychologie und Soziologie ihre spezifische Gestalt gewonnen hat. Es könnte geradezu als eine konfessionelle Eigenheit angesehen werden, dass die Notwendigkeit einer zusammenfassenden Darstellung der Seelsorgelehre jenseits aller Positionen im Einzelnen gerade von katholischen Autoren empfunden wird, während evangelische Autoren einer solchen Zusammenfassung offenbar eher zurückhaltend gegenüberstehen, wie der nicht systematisierte Katalog in Klaus Winklers Seelsorgelehre zeigt.

Gerade aber weil die Autorin einer katholischen Fakultät angehört, hat die Konzentration auf die individuelle Seelsorge - wie schon bei Offele - einen implizit kritischen Akzent gegen eine Überbetonung der generellen Seelsorge. Der Sachverhalt einer cura animarum generalis wird jedenfalls in diesem Kompendium nicht erwähnt, entsprechend fehlt auch ein Hinweis auf J. Henkys' in der evangelischen Seelsorgelehre durchaus einflussreiches Büchlein "Seelsorge und Bruderschaft" von 1971.

Im selbst gesteckten Rahmen der individuellen Seelsorge lässt N.s Kompendium an Vollständigkeit und Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Fülle des Dargebotenen ist überwältigend und gerade darin ein Spiegel der wissenschaftlichen Bemühungen auf diesem Gebiet. Dafür eine begründete, differenzierte Übersicht und Impulse zu weiterem Nachdenken geschaffen zu haben, ist ein großes Verdienst dieses Buches.