Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

96 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Máté-Tóth, András, Miklusca'k, Pavel, u. a.

Titel/Untertitel:

Kirche im Aufbruch. Zur pastoralen Entwicklung in Ost(Mittel)Europa - eine qualitative Studie. Hrsg. von P. M. Zulehner, M. Tomka, u. N. Tos in Zusammenarb. mit dem Pastoralen Forum Wien.

Verlag:

Ostfildern: Schwabenverlag 2001. 383 S. gr.8 = Gott nach dem Kommunismus. Kart. ¬ 25,00. ISBN 3-7966-1024-2.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Dieses Buch setzt die Auswertung des Forschungsprojekts zur katholischen Pastoraltheologie in Ost(Mittel)Europa fort (vgl. ThLZ 127, 2002, 349 f.). Interdisziplinär werden Zeitgeschichte, Soziologie, Kulturanthropologie, Philosophie und Theologie verbunden und Korrelationen zwischen geschichtlich-kulturellen Traditionen, gesellschaftlichen Systemen und theologisch-politischen Denkweisen herausgearbeitet.

Die historische Arbeitsweise dominiert bei der Aufarbeitung der Lage der Kirchen und Christen in den totalitären Staaten Ost-(Mittel)Europas, die sozialwissenschaftliche Methode insbesondere der qualitativen Sozialforschung bestimmt vorrangig die Darstellung der Entwicklung nach der Wende, und pastoraltheologisch (d. h. kybernetisch) wird nach Handlungsoptionen für eine bessere Positionierung der Kirchen in den zunehmend demokratischen Gesellschaften gefragt, wobei die Konzilsdokumente Lumen Gentium sowie Gaudium et Spes inhaltlich orientieren.

Auf eine Einführung, in der über die Zielstellung, die Methodik, die Forschungsgeschichte und die Mitarbeiterschaft informiert wird, folgt das Kapitel "Pfarrseelsorge" mit einer zusammenfassenden Darstellung der Gemeindepraxis in den verschiedenen Phasen und Ländern.

Die Ambivalenz der Befunde wird hier bereits deutlich: Einerseits stärkte die Bedrängnis unter dem Kommunismus die Gemeinschaft und Identität der Gemeindeglieder, andererseits führte sie zu einem noch nachwirkenden Rückzug aus der Gesellschaft. Das kommunistische Regime förderte den autoritären, paternalistischen Stil der Gemeinde- und Bistumsleitung, zugleich aber wurde die Kirche als Institution des Vertrauens und Raum der Freiheit sowie der Identitätsfindung erlebt. Mit der Freiheit, die der politische Umbruch brachte, zog eine weithin verunsichernde Pluralität in die monolithische Kirche ein. Das Identitätsproblem stellt sich für die Einzelnen und für die Gemeinden in einer vorher unbekannten Weise.

Die Autoren beobachten einerseits eine zunehmende Individualisierung, aber andererseits eine Tendenz zur Entwicklung der Pfarrgemeinde als Gemeinschaft, deren Glieder in tätiger Liebe, ökumenischer Offenheit und Aufgeschlossenheit für die Gesellschaft ihre Gaben einbringen. Damit sind mehr die Zielvorstellungen der Autoren als ihre empirischen Befunde umrissen.

Die Befunde dieses Kapitels werden durch die Einzeluntersuchungen auf den Gebieten der Caritas, der religiösen Unterweisung, der Ökumene, der Arbeit mit Laien, Frauen und Jugendlichen, der Orden, der kirchlichen Leitung, der materiellen Situation, der Volksfrömmigkeit, der Medien, der internationalen Beziehungen, der kirchlichen Erneuerungsbewegungen, der Sekten und neuen religiösen Bewegungen bestätigt und vertieft. Neben diesen Praxisfeldern werden übergreifende Probleme wie das Verhältnis von Religion und nationaler Identität, Widerstand und Konformismus und die theologische Perspektive der Konzilsrezeption untersucht.

Immer wieder wird deutlich, dass die katholische Kirche in der DDR sich in einer besonderen Situation befand und - von Polen abgesehen - am wenigsten unter der Repression zu leiden hatte. Positiv konnten sich die Impulse des Konzils in dieser Kirche am besten auswirken. Da das 2. Vatikanum die theologischen Kriterien und Leitmotive vorgibt, ist seiner Rezeption ein eigenes Kapitel gewidmet. Eine "differenzierende, weiterführende Zweitrezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils" proklamieren die Autoren im Schlusskapitel mit der für das ganze Projekt kennzeichnenden Überschrift "Kirche im Aufbruch".

Das inhaltsreiche, die vielfältigen Befunde sachlich und differenziert darstellende Buch trägt dazu bei, die Vergangenheit gerecht zu beurteilen und die gegenwärtige Situation nüchtern zu sehen, um den Auftrag der Kirche in der postkommunistischen Gesellschaft wahrnehmen zu können. Ein entsprechendes Forschungsprojekt für die evangelischen Diasporakirchen in Ost-(Mittel)Europa wäre sehr wünschenswert. Zusammen mit den übrigen publizierten Ergebnissen der Aufbruch-Forschung trägt dieses Buch dazu bei, die komplizierte kirchliche und zugleich politische Situation in einem großen Teil des zusammenwachsenden Europas besser zu verstehen. "Die Erfahrungen des Volkes Gottes in diesem Teil Europas sind unverwechselbar originell", erklären die Hauptautoren im Schlusskapitel, und die angekündigte "Theologie der Zweiten Welt" wird hoffentlich ebenso wie diese solide empirisch fundierte Arbeit gebührende Beachtung finden.