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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

94–96

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kabel, Thomas

Titel/Untertitel:

Handbuch Liturgische Präsenz. Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, 1.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002. 277 S. m. 377 Abb. gr.8. Lw. ¬ 34,95. ISBN 3-579-03198-8.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die Bedeutung des Körperlichen für die Liturgie wurde zwar schon in den liturgischen Bewegungen seit den 20er und 30er Jahren des letzten Jh.s eingehend thematisiert. Die Sorge um die liturgische Gestik galt aber in der evangelischen Kirche lange Zeit als typisch für nicht ganz ernst zu nehmende "Hochliturgiker". Die Mehrzahl der Pfarrerinnen und Pfarrer hatte allerdings vor allem Angst davor, "Zeremonienmeister" zu werden und orientierte sich an der Alternative Authentizität der inneren Wahrheit oder Äußerlichkeit einstudierter Gesten (dazu vgl. schon Schleiermachers Praktische Theologie, 110: "Kein evangelischer Christ würde es aushalten können, zu wissen daß ein Prediger beim Spiegel die mimischen Bewegungen ausgedacht habe"). Die Warnung vor dem nicht Authentischen hat aber in der Praxis leider oft zur völligen Unterschätzung der körperlichen Kommunikation oder gar zum Dilettantismus geführt. Im vorliegenden Buch heißt es darum, Präsenz meine nicht, "irgendwelche eintrainierten Gesten zu zeigen, sondern zu bedenken, in welchem Raum ich bin" (18).

Der Schauspieler Thomas Kabel hat mit seinen Kursen zur "Liturgischen Präsenz" etwa 8.000 Liturgen (zunächst Vikarinnen und Vikare) beraten und damit eine fundamentale Einstellungsänderung auf breiter Front befördert: Liturgische Kompetenz kommt weder aus dem bloßen liturgiehistorischen Wissen (so wichtig dieses ist), noch entspringt es der individuellen Authentizität - zumal dann nicht, wenn damit die fehlende Bemühung um die Sache kaschiert wird. Liturgische Kompetenz hat mit Üben und Sorgfalt auch im Äußeren zu tun. Jetzt hat der Nicht-Theologe Kabel ein liturgisches Buch geschrieben, das nicht nur für die liturgischen Praktiker wichtig ist, sondern auch für diejenigen, die sich um eine Theorie liturgischer Zeichenprozesse bemühen.

Der vorliegende 1. Band (geplant ist ein zweiter zu den Kasualien) folgt nach einer Einführung den Schritten des Sonntagsgottesdienstes und schließt zwei Kapitel mit Hinweisen zur "Dramaturgie" (179-228) und mit allgemeinen Übungen (229-268) an. Er überwindet mit dem Begriff der "Präsenz" die falschen Gegensätze von außen und innen, von Spontaneität und Professionalität. Denn Präsenz meint das Dasein in der liturgischen Rolle, welches mit dem eigenen Glauben ebensoviel zu tun hat wie mit darstellerischer Sorgfalt. Präsenz steht auch nicht im Gegensatz zum Bewusstsein, wie K. anhand der Körperpräsenz von Kindern erläutert (50). Auch die Teilnahme am Abendmahl bleibt für K. ein "Bewußtseinsakt", weil sich die Erlebnisintensität nicht durch Äußerlichkeiten, sondern "nur in der Seele" steigern lasse (226 f., dort sehr kritisch zu "Happening"-Abendmahlsfeiern).

Aufgeräumt wird von dem Bühnenprofi Kabel mit der irrigen Meinung, es seien die alten Formeln und Formen, die für die mangelnde Lebendigkeit der Liturgie verantwortlich seien: "es ist die entscheidende Frage, wie die Worte gesprochen werden" (55). Und auch die "10 Gebote für die Predigt" lassen die breite Praxiserfahrung des Autors erkennen: "2. Du sollst nicht dauerlächeln ... 4. Sprich von deinen Erkenntnissen, denn niemand kommt, um Zitate zu hören ... 9. Verwechsle nicht persönliche und intime Rede" (79).

Auf der Theorieebene ist mit dem Buch das nach meiner Einschätzung fundamentale Verhältnis von Subjektivität und Zeichenhaftigkeit angesprochen, das in der Praktischen Theologie zur Zeit als das Verhältnis zwischen Semiotik und Hermeneutik thematisiert wird. In diesem Zusammenhang führt K.s Buch auch theoretisch weiter, indem es strikt zwischen liturgischen Gesten, die auf gewachsener sozialer Übereinstimmung beruhen, und persönlichen Gesten, die "immer aus sich heraus entstehen", unterscheidet (35). An den persönlichen Gesten soll darum auch nicht direkt gearbeitet werden (42). Demgegenüber sollen die liturgischen Gesten durch Übung zur zweiten Natur werden, so dass sie präsent in der Rolle "Liturg" und damit gerade nicht "unehrlich" eingesetzt werden (38). Für Texte gilt die (semiotische) Einsicht, dass Texte nicht an sich heilig sind, sondern durch eine bestimmte Beziehungsqualität heilig werden (222).

Überzeugend ist insgesamt an dem Buch, dass hier nicht in der befürchteten geheimwissenschaftlerischen Attitüde normative Richtigkeiten festgeschrieben werden, sondern dass K. Erfahrungseinsichten beschreibt, die er bisweilen auch mit der Wendung "Meine Meinung ..." einleitet (178). Denn trotz aller Übung gilt: "Kommunikation geht vor Perfektion" (229). Die Wichtigkeit der eigenen Empfindungen wird darum mehrfach betont (etwa 267).

Man gewinnt den Eindruck, dass der Autor nicht nur etwas vom Theater versteht, sondern gerade so auch eine Menge von der geistlichen Substanz der Liturgie. Man lese nur die gelungenen Passagen zum Kollektengebet (207), zum Halleluja (76 und 209), zum Sanctus (122), zur Abendmahlsausteilung (136-142) oder zum Innehalten bei Gebet und Segen (153-156). Es geht in Liturgie wie Theater insgesamt nicht darum, die "eigene Show" abzuziehen, sondern sich für die anderen auch mit den unzugänglichen Texten auseinander zu setzen und so eine Erschließung über die eigenen Vorlieben hinaus zu ermöglichen (200). So ist auch das Predigen kein privater, sondern ein öffentlicher Akt (104).

Ich kann dem doppelten Urteil K.s nur zustimmen: Theologen sind keine Schauspieler. Aber die Letzteren können Theologen helfen, sich selbst in der Öffentlichkeit auszudrücken (108). Und der Schauspieler K. ist mit seinen eigenen religiösen Empfindungen so ehrlich, wie es das Vorurteil über den unwahrhaftigen Schauspieler (im Gegenüber zu Theologen) nur widerlegen kann. K.s nicht durch theologische Theoriesprache abgesicherte Aussagen über das religiöse Erleben im Gottesdienst (24) oder über die Anwesenheit Gottes im Abendmahl (146) zeigen, dass der Autor nicht "nur am Äußerlichen" gearbeitet hat, sondern dass er die Liturgie als Zeichen insgesamt durchdrungen hat. Eine theologische Hermeneutik liturgischer Kommunikation konnte und wollte der Nicht-Theologe K. nicht liefern. Aber eine liturgische Hermeneutik unterhalb des von K. erreichten praktischen Niveaus ist damit künftig nicht mehr möglich.