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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

90–93

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

1) Stierle, Wolfram 2) Ulshöfer, Gotlind

Titel/Untertitel:

1) Chancen einer ökumenischen Wirtschaftsethik. Kirche und Ökonomie vor den Herausforderungen der Globalisierung.

2) Ökonomie und Theologie. Beiträge zu einer prozeßtheologischen Wirtschaftsethik.

Verlag:

1) Frankfurt/M.: Lembeck 2001. XIV, 621 S. gr.8. Kart. ¬ 33,00. ISBN 3-87476-373-0.

2) Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 346 S. 8 = Lenken, Leiten, Gestalten, 8. Kart. ¬ 34,95. ISBN 3-579-02622-4.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Mit seiner äußerst materialreichen Nachzeichnung wirtschaftsethischer Debatten in der Ökumene von 1925 bis 1979 will Wolfram Stierle ein Gerücht widerlegen: dass es in der Kirche keine wirklich ernsthafte wirtschaftsethische Kompetenz zwischen den großen Wirtschaftsethiken von Georg Wünsch und Arthur Rich gegeben hätte. Was in der Ökumene an Gestaltungsvorschlägen für die Wirtschaft entwickelt worden ist, hätte höchstens einen idealistischen und naiven Charakter. Man wird St. zustimmen, dass diese Fama tatsächlich weit verbreitet ist und deswegen kommt seinem Versuch, sie zu widerlegen, von vornherein großes Interesse zu.

Wie geht Stierle vor? Er analysiert die wirtschaftsethischen Stellungnahmen in drei großen Abschnitten: 1) Unter der Überschrift "Vom pragmatischen Idealismus zur verantwortlichen Gesellschaft" Analyse der Debatten zwischen der Ersten Weltkonferenz von "Life und Work" in Stockholm 1925 bis zur Ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948; 2) unter der Überschrift "Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtswelt" Analyse der Debatten zwischen der Zweiten Vollversammlung des ÖRK in Evanston 1954 bis zur Weltkonferenz von "Church and Society" in Genf 1966; 3) unter dem Titel "Von der Krise in der Entwicklungspolitik zur Kritik der Wirtschaftstheorie" Analyse der Debatten von 1966 bis 1979. Ein Ausblick auf Perspektiven der Wirtschaftsethik in der ökumenischen Bewegung mit einer Diskussion des Studiendokuments von 1992 "Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft" schließt das Buch ab.

Das Werk enthält einen umfangreichen Anhang mit Übersichten über die wichtigsten ökumenischen Konferenzen und die daran beteiligten Ökonominnen und Ökonomen, Zeittafeln über die Entwicklung ökumenischer Wirtschaftsethik und ökonomischer Lehrbildung von 1912 bis 1999 und andere Übersichten, die dieses Buch zu einem Standardwerk der Entwicklung ökumenischer Wirtschaftsethik machen.

Entscheidend ist, dass der Autor nicht nur die wirtschaftsethischen Debatten in der Ökumene analysiert, sondern sie in den ökonomietheoretischen Kontext der jeweiligen Zeit stellt. So finden sich neben den Nachzeichnungen der Dokumente der jeweiligen Versammlungen ausführliche Erörterungen des Standes der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre der jeweiligen Zeit. Auf diese Weise kann St. die Querverbindungen zwischen ökumenischer und ökonomischer Debatte herausarbeiten.

Deutlich wird so, dass es nie nur eine geltende betriebs- oder volkswirtschaftliche Theorie gibt, an der die ökumenische Wirtschaftsethik zu messen wäre, sondern dass hier wie dort sehr unterschiedliche Strömungen und Interessenlagen miteinander in Konflikt lagen, sich gegenseitig bekämpften, aber auch befruchteten. Insbesondere in der Zeit vor 1966 lässt sich außerdem die Beteiligung herausragender Ökonomen an den ökumenischen Debatten nachweisen. Gerade deutsche Positionen der Sozialen Marktwirtschaft sind in der ökumenischen Diskussion immer gut vertreten gewesen. Kommunikationsprobleme zwischen ökonomischer und ökumenischer Debatte lassen sich erst nach 1966 im Zuge einer Radikalisierung der allgemeinen politischen und ökumenischen Diskussion feststellen, die aber auch wiederum in der ökonomischen Diskussion einen Widerhall gefunden hat.

Was sich durchhält seit den zwanziger Jahren sind eine Reihe von wirtschaftsethischen Maximen, die bis heute die Haltung der Kirchen gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft prägen. Hierzu zählt vor allem die Vorstellung, dass die Wirtschaft gesellschaftlichen Zielsetzungen untergeordnet sein muss. Von daher ergibt sich ein Arbeitsverständnis, das vom "Dienstgedanken" und von einer gewissen "Gemeinschaftsorientierung" her kommt. Es findet sich die Kritik an der Profitorientierung, am Egoismus, der Spekulation, der allzu ungleichen Verteilung und Klassenbildung und ein Interesse an Institutionen und politischen Rahmensetzungen. Forderungen nach Lohngerechtigkeit, Mitbestimmung, Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Gewinnbeteiligung und Kooperation zwischen Kapital und Arbeit finden sich immer wieder. Bisweilen gibt es in der ökumenischen Debatte auch radikalere Positionen, die den Kapitalismus als "antichristlich" begreifen, weil in ihm die herkömmlichen christlichen Tugenden in ihr Gegenteil verkehrt werden würden.

Die Debatte verändert sich nach 1966. Ausgerechnet auf der Genfer Konferenz, auf der die meisten Ökonomen anwesend waren, die bis dahin jemals eine ökumenische Konferenz besucht hatten, kommt es zur Krise des Dialogs und dies nicht nur, weil die beteiligten Delegierten aus der Peripherie die bisher vorhandenen Entwicklungsmodelle zurückwiesen, sondern auch deswegen, weil die anwesenden Ökonomen von ihnen nicht mehr überzeugt waren. Die bisherige Vorstellung, dass sinnvolle wirtschaftsethische Konzepte, wie sie z. B. von Eucken und Tinbergen ausgearbeitet worden waren, von den Kirchen international mit umgesetzt werden sollten, ließ sich so nicht mehr vertreten. Das Ende einer wirtschaftspolitischen Einbindung der Kirche war gekommen.

St.s Fazit ist, dass es auch in Zukunft nicht einfach darum gehen kann, Anlehnung an die richtige wirtschaftstheoretische Beratung zu suchen. "An der Aufgabe, an Auseinandersetzungen mit der Ökonomik theologisches Profil zu zeigen oder zu schärfen, führt kein Weg vorbei" (422). Und er empfiehlt für die Zukunft in dieser Weise differenzierend auf die Potentiale der Wirtschaftstheorie zuzugehen und sie nicht pauschal zu ignorieren. (Dem widerspricht allerdings seine sehr diplomatische Einschätzung des Dokuments von 1992 "Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft", in dem Ökonomie im Grunde genommen von vornherein nur als "Abfallgeschichte" von Gottes guter Schöpfung in den Blick gerät.)

Einen Teil der ökumenischen wirtschaftsethischen Debatte behandelt Gotlind Ulshöfer mit ihrer Analyse des wirtschafts- und ökologieethischen Werkes "For the Common Good" von Herman Daly und John Cobb, das 1989 in den USA erschien. Das Interessante an diesem Werk ist, dass die beiden Autoren die theoretische Herkunft aus der Prozesstheologie teilen. Die Autorin analysiert dieses Werk und stellt die biographischen und theologischen Hintergründe sowie den Kontext protestantischer Wirtschaftsethik in den USA dar.

Der Ansatz des Werkes von Cobb und Daly teilt mit der gesamten ökumenischen wirtschaftsethischen Debatte das Interesse, Wirtschaft unter gesellschaftliche Zielsetzungen zu verorten und entsprechend zu gestalten. Eine Wirtschaft, die sich demgegenüber verselbständigt, unterliegt der Kritik. Entsprechend kritisieren die beiden Ökonomen die Abstraktionen des Marktes, des "Homo Oeconomicus", der Kategorie "Boden" sowie der abstrakten Orientierung am Zuwachs des Bruttosozialproduktes. Ihr zentrales Steuerungskonzept ist die Entwicklung von "Indexes of Sustainable Economic Welfare" (ISEW), mit dem sich die tatsächliche Wertschöpfung der Wirtschaft (Erhaltung der Umwelt, Herstellung von Gerechtigkeit und Lebensqualität) messen lässt. Die Konzepte der beiden stehen in dieser Hinsicht in der Tradition einer evangelischen Sozial- und Ordnungslehre, die sich gegen eine reine Interessenwirtschaft wendet.

Zentral ist die Vorstellung von "Gemeinschaft", mit der sich die Autoren in den amerikanischen Kommunitarismus verorten. Mit diesem Begriff kommt prozesstheologisches Denken, das von der Grundvorstellung der Relationalität alles Seienden ausgeht, normativ auf den Begriff. Wenn eine Handlung im wirtschaftlichen Bereich positive Effekte auf die Gemeinschaft habe, so sei sie zu befürworten; habe sie negative, so sei sie zu überdenken und abzulehnen. Die Autorin stellt allerdings fest, dass der Gemeinschaftsbegriff äußerst vage sei und wirtschaftsethisch wenig hergebe. Ihr Fazit ist, dass Cobb's und Daly's Ansatz deswegen nicht als Wirtschaftsethik bezeichnet werden kann. In der Orientierung an der Gemeinschaft sei aber ein Gegengewicht zum Individualismus ökonomischen Denkens zu erkennen. Die Potentiale einer prozesstheologischen Wirtschaftsethik sieht die Autorin insofern positiv. Das Buch bietet einen guten Überblick über protestantische Wirtschaftsethik in den USA; der Nutzen des Werkes "For the Common Good" wird jedoch wenig deutlich.

Beide Werke belegen, dass es herausfordernde Austauschprozesse zwischen Theologie und Ökonomik gegeben hat und gibt. Dass sich die Theologie in dieser Hinsicht verstecken müsste, kann als widerlegt gelten. Voraussetzung eines Dialogs ist allerdings, dass sich beide Seiten im Gesamt eines widersprüchlichen Feldes möglicher Sichtweisen und Ansätze verstehen und Abschied genommen wird von der Vorstellung, es gebe die eine "richtige" Theologie und die eine "richtige" Ökonomik. Um dieses Denken zu befördern, sind beide Bücher ausgesprochen hilfreich.