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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

89 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mieth, Dietmar

Titel/Untertitel:

Moral und Erfahrung II. Entfaltung einer theologisch-ethischen Hermeneutik.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder 1998. 272 S. gr.8 = Studien zur theologischen Ethik, 76. Kart. ¬ 30,00. ISBN 3-7278-1096-3 u. 3-451-26212-6.

Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Dietmar Mieth, Anwalt christlicher Werttraditionen in nationalen und internationalen Gremien,1 entfaltet in diesem Band seine ethische Position in Anknüpfung an die bereits unter dem Obertitel "Moral und Erfahrung" gesammelten "Beiträge zur theologisch-ethischen Hermeneutik", mit denen er vor 25 Jahren die deutschsprachige Abteilung der "Studien zur theologischen Ethik" eröffnete.2 Der in Tübingen auch im Rahmen des "Interfakultativen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften" (IZEW) lehrende katholische Ethiker lässt mit dieser zweiten in systematischer Absicht gesammelten und überarbeiteten Sammlung von Aufsätzen erkennen, welchen Weg er zurücklegen musste, um gleichzeitig in seiner Traditionsgemeinschaft diskursfähig zu bleiben und auf den gegenwärtigen Problemfeldern materialer Ethik diskursfähig werden zu können.

M. erläutert seinen "experientiellen Ansatz" gleichsam von außen her. Es geht nicht um Empirie, sondern um "Erfahrenheit". Menschliches Leben vollzieht sich in Bedürfnisimpulsen, die jede erlebte Weltkonstellation in den Horizont von Sinn-, von Wert-, schließlich von Universal- und Transzendenzentwürfen rücken, in denen der garstige Graben zwischen Sein und Sollen überbrückt ist. Da sich solche Überzeugungen in einem Wechselprozess zwischen Frage und Antwort bilden, geraten einerseits individuelle, historische und gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen in den Blick, andererseits lässt sich für die Einsicht werben, dass moralische Überzeugungen, die sich so bilden, sowohl begründungsbedürftig als auch begründungsfähig sind. Sie lassen sich aber am besten wiederum mitteilen in Gemeinschaftserfahrungen, in denen sich auf der Grundlage geteilter Überzeugungen und gemeinsam erfahrener Geschichte eine "narrative Ethik" entfalten kann: mit einer eigentlich ästhetischen Metatheorie, in denen "ethische Modelle" zwischen Theorie und Praxis vermitteln sowie zwischen den dann sich ergänzenden Ansätzen einer Tugend-, Pflichten- und Güterethik.

Ein solcher Ansatz ist weithin anschlussfähig: an die individualgenetischen Moralrekonstruktionen bei Piaget und Kohlberg, an die sozialethischen Perspektiven, die sich den Gesellschaftsbildern von Fromm und Habermas entnehmen lassen. M. entfaltet solche Entsprechungen bis in große Tableaus hinein, in die sich dann auch systematische Beziehungen zum aristotelisch-thomistischen Tugendsystem der katholischen Normaltradition zu erschließen scheinen. Solche Entsprechungen sind jetzt gereift, sie entsprechen nicht Erwartungen, die sich bis zu Auflagen konkretisieren konnten. Es finden sich im Gegenzug deutliche moraltheologische Distanzierungs- und Differenzierungssignale und etliche kritische Bemerkungen gegenüber der kirchlichen Moralverkündigung. Vor allem aber entfaltet sich diese Ethik über weite Strecken hinweg in freier Sachzuwendung zu den Orientierungsproblemen einer pluralistischen, global vernetzten Gesellschaft, denen sich M. in einer charakteristischen Doppelperspektive zuwenden kann: Er sieht, dass sie ein Konglomerat heterogener Traditionsgemeinschaften ist, das unter Befriedungsregeln kooperieren muss. Er kann in diese ökologische Schicksalsgemeinschaft aber auch hineinsprechen als Anwalt einer Tradition, deren reflektierte Erfahrungen Ansatzpunkte gemeinsamer Orientierung sein können.

Der Weg, dessen Stationen die zusammengestellten Aufsätze erkennen lassen, eröffnet eine ökumenische Lernperspektive. Dabei können die mit Händen zu greifenden Parallelen zu Schleiermachers dogmatisch-ethischer Systemkonzeption christlicher Orientierung den Unkundigen leicht in die Irre führen. M.s eigentliche Gewährsleute sind Meister Eckhart und Heinrich Rombach. Der eine eröffnet ihm im Anschluss an eine Traditionslinie, in der auch Luther stand, christlich-theologische Freiheitspotentiale, die in die Tiefenschicht des neuzeitlichen Epochenbruchs hineinführen. Der andere entfaltet diese Potentiale in einer "Strukturontologie", die ansatzweise Auswege aus der subjektivitätsphilosophischen und der (deutschen) geisteswissenschaftlichen Isolation erkennen lässt, in die sich die Theologie zurückgezogen hat. Von diesem Boden aus muss man dem linguistic turn in Philosophie und Ethik nicht mehr ausweichen, man kann sich den Herausforderungen durch die Naturwissenschaften vorbehaltlos stellen und so zum Gesprächspartner in praktischen Fragen werden. Die christliche Tradition ist weltanschaulich blockiert: theologisch, kirchlich und kulturell, nicht moralisch. M. hat sich dem von seiner Tradition her gestellt. Daher kann er wirken.

Fussnoten:

1) Vgl. Holderegger, Adrian und Jean-Pierre Wils [(Hrsg.]: Interdisziplinäre Ethik. Grundlagen, Methoden, Bereiche. Festgabe für Dietmar Mieth zum sechzigsten Geburtstag, Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg i. Br.: Herder 2001. 494 S. 46,00. ISBN 3-7278-1323-7 (Universitätsverlag), 3-451-27605-4 (Verlag Herder).

2) Moral und Erfahrung. Beiträge zur theologisch-ethischen Hermeneutik (= Studien zur theologischen Ethik/Etudes de l'ethique chrétienne, Bd. 2). Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg i. Br.: Herder 1977. 3., erw. Aufl. 1983.