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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

86–89

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin, Dahlhaus, Horst, Hübner, Jörg, Jähnichen, Traugott, u. Heidrun Tempel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. XX, 2040 Sp. gr.8. Geb. ¬ 65,80. ISBN 3-17-016191-1.

Rezensent:

Peter Dabrock

1. Unter Federführung der katholischen Görres-Gesellschaft sind im evangelischen Gütersloher-Verlagshaus Ende der 1990er Jahre zwei imposante sozialethische Nachschlagewerke veröffentlicht worden: 1998 das dreibändige "Lexikon der Bioethik" und 1999 das sogar vier voluminöse Bände umfassende "Handbuch der Wirtschaftsethik". Zwar fanden evangelische Stimmen in den Werken vereinzelt Gehör, insgesamt dominierte doch ein katholischer Cantus firmus, was sich "naturgemäß" insbesondere in einem Lexikon der Bioethik auswirkt. Weil nach Zielformulierung sowohl in der TRE als auch in der neuen RGG sozialethische Themen nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen und der lange Editionszeitraum den auf Aktualität angewiesenen sozialethischen Reflexionen entgegensteht, ist das Desiderat einer handbuchartigen, zeit- und problemnahen, kompakten Information aus evangelischer Perspektive überaus offensichtlich. Da die letzte, 7. Auflage des seit seiner Erstauflage von 1954 vielbeachteten, zum Standardwerk avancierten "Evangelischen Soziallexikons" ihrerseits auf das Jahr 1980 datiert, durfte man zu Recht hoffen, dass eine Neuauflage dieses Werkes die erwähnte Lücke schließen könne. Nach längerer Vorbereitungszeit und hohem logistischen Aufwand ist dies schließlich, symbolisch ausgedrückt durch die Übergabe eines Exemplars an den Bundespräsidenten am 3. September 2001, geschehen. Was hat sich gegenüber der letzten Ausgabe geändert? Wo finden sich neue Schwerpunkte? Kann das Werk die hohen Erwartungen, die in es gesteckt werden, erfüllen und dabei zugleich die bemerkenswerte Tradition des Evangelischen Soziallexikons fortführen?

2. Anfangs einige Beobachtungen zur äußeren Form, die auf konzeptionelle Neuerungen schließen lassen: Zunächst fällt auf, dass der Seitenumfang gegenüber der 7. Auflage von 1980 um 480 Seiten (über 30 %) erweitert worden ist. Dennoch ist der eigentliche Textumfang (berechnet in Zeichen) sogar leicht (um knapp 7 %) gesunken. Diese scheinbare Diskrepanz erklärt sich aus dem veränderten Drucksatz, der allerdings für eine erheblich angenehmere Lesbarkeit des neuen Lexikons sorgt. Zur Übersichtlichkeit trägt auch die Bündelung der bisher verstreuten Biogramme in einem eigenen Anhang bei (vgl. Sp. 1859-1996). Obwohl sich deren Zahl um 84 % erhöht hat, ist die Gesamtzahl der Artikel von 775 auf 667 (um 14 %) gesunken, die der reinen Sachartikel sogar um 30 % (von 669 auf 472). Hinter diesen nackten Zahlen verbirgt sich das Anliegen des veränderten und vergrößerten Herausgeberkreises, "die Anzahl kürzerer Artikel zu reduzieren und stattdessen in übergreifenderen Artikeln Sachverhalte in ihren vielfachen Bezügen darzustellen" (VII).

Trotz der angesprochenen konzeptionellen Konzentration haben die Herausgeber eine stattliche Anzahl neuer Beiträge ins Lexikon aufgenommen. Sie formulieren damit den Reflexionsbedarf auf gesellschaftliche (politische, soziale und technische) gravierende Veränderungen seit den 1980er Jahren: das Ende des Ost-West-Konfliktes, die deutsche Einigung, den voranschreitenden Prozess europäischer Integration (hier setzt das Lexikon unter Ägide der Mitherausgeberin und langjährigen Leiterin des Brüsseler Büros der EKD, Heidrun Tempel, einen Schwerpunkt), die Globalisierung, die ihrerseits ja gar nicht denkbar wäre ohne die Revolution der Kommunikations- und Informationstechnologien (insbesondere durch Intra- und Internet), aber auch die rasanten Entwicklungen in den Life-Sciences, der Biotechnologie und des Medizinalsystems. Beispielhaft seien folgende neu aufgenommenen Stichworte erwähnt, die damit deutlich machen, dass manche schon fast internalisierte Entwicklung oder Begrifflichkeit noch gar nicht so alt ist: Bioethik, Geschlechterverhältnis, Globalisierung, Internet, Kirchenmanagement, Kommunitarismus, Marketing, Mediation, Medienethik, Mobbing, Nachhaltigkeit, Nonprofit-Organisationen, Ökologie, Organisationsethik, Pflegeversicherung, Shareholder Value, Zivilgesellschaft. Ferner werden wohl 1980 von der evangelisch-sozialethischen Reflexion noch verdrängte Fragestellungen wie Reichtum, Nutzen oder Glück (!) in der Neuauflage zum Thema. Wenn auch über das Register in anderen Artikeln erschließbar, hätte man sich allerdings noch eigenständige Artikel über AIDS, Feminismus oder Konservativismus gewünscht.

Für die Beiträge zeichnen deutlich weniger Autoren verantwortlich als in der 7. Auflage (315 statt 443), wobei nur fünf (davon drei der Herausgeber) jeweils mehr als fünf Artikel verfasst haben. Was bereits die Zahl der Autoren und der Befund, dass nur wenige gleich für mehrere Themenbereiche zuständig erachtet werden, vermuten lässt, bestätigt auch die Durchsicht des Autorenverzeichnisses: Das Lexikon ist geprägt durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität und Pluralität. Da ist neben (fast) allem, was Rang und Namen in der evangelischen Ethik hat, ebenso eine Gewerkschaftsfunktionärin zu finden wie eine sozialdemokratische Ministerin, zwei ehemals liberale Minister oder ein EU-Kommissar (Günter Verheugen, der als Verfasser des Artikels Erweiterung, Europäische unglücklicherweise nicht im Autorenverzeichnis aufgeführt ist), da schreiben Globalisierungskritiker wie Verfechter einer (sehr) freien Marktwirtschaft, Juristen aus der EU-Administration und Mitarbeitende der ökumenischen Kontaktgruppe "Kirche und Gesellschaft" in Brüssel, liberale Bioethiker und solche, die mit ihrer Kritik nicht einmal unter das Label Bioethik subsumiert werden wollen, politisch und moralisch Konservative wie Progressive, offizielle Kirchenvertreter und kirchendistanzierte Kulturprotestanten, Sozialarbeiter und Arbeitgebervertreter. Angesichts einer solchen Vielfalt stellt sich die Frage nach einer sich durchziehenden Grundlage oder einem "Grundkonsens" (VIII) dieses Lexikonprojektes.

3. Wie schon seine Vorgänger versucht auch dieses Lexikon einer zweifachen Intention Genüge zu leisten, die erstmalig Friedrich Karrenberg in der Einleitung zur 1. Auflage umrissen hatte: sachliche Information zu komplexen sozialethischen Fragestellungen und damit Hilfe bei der Urteilsbildung aus evangelischer bzw. protestantischer Perspektive. Was diese genau ausmacht, bleibt (einem breiten protestantischen Selbstverständnis folgend) schillernd: sicher nicht kirchenamtlich eindeutig, aber biblisch rückgebunden, kirchengeschichtliche, insbesondere reformatorische Traditionen bedenkend, ökumenisch aufgeschlossen, keinen Beliebigkeits-, aber sehr wohl einen vernünftigen Pluralismus (Rawls) verteidigend. Auf diese Weise versuchen die Herausgeber, dem protestantischen Grundgedanken der Freiheit der Christenmenschen zu entsprechen (vgl. Jähnichen, Sozialethik, Sp. 1448), die keineswegs eine beliebige ist, weil sie sich nach Luther immer als kommunikative im Koordinatenkreuz von Gottes- und Nächstenbezug realisiert. Aber auch das wissen die Herausgeber: Die Gestaltung dieser positiven Freiheit bietet immer noch genügend Interpretationsspielraum und damit Gelegenheit für semantische Differenzen. Daher kann man die einzelnen Artikel nur als Angebote lesen, innerhalb dieser Rahmenvorgaben über einen Sachverhalt nicht aus der, sondern jeweils einer protestantischen Perspektive informiert zu werden. Wer mehr erwartet und dieses bescheidene Ergebnis enttäuschend findet, sagt mehr über sich als über das Lexikon.

4. Angesichts des skizzierten Orientierungsrahmens einer offenen evangelischen Profilierung unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus kann die folgende Auswahl nicht repräsentativ sein, sondern soll nur auf einige, dem Rez. besonders beachtenswert erscheinende Beiträge verweisen. Um diesseits der sachlichen Diversifizierung Allgemeineres zu betrachten, ist es sinnvoll, sich auf einige ethische Grundsatzartikel zu konzentrieren. Dabei muss sich der Blick natürlich zuerst auf die von je einem Hg. verfassten Grundsatzartikel Ethik (Honecker) und Sozialethik (Jähnichen) richten. Im ersten fällt auf, wie positiv Honecker den Kommunitarismus aufgreift und somit dem Partikularen ein nicht nur motivationales, sondern geltungstheoretisches Recht für das ethische Urteil einräumt (Sp. 406; vgl. Sp. 413; vgl. ders. Vernunft, Sp. 1684-1689). Diesem Zugeständnis an das Besondere korreliert Honeckers moderates Plädoyer für eine "Multiperspektivität ethischer Fragestellungen" (Sp. 411), die sogar die eingespielte "Alternative von Deontologie u. Teleologie" (Sp. 412) unterlaufe. Zwar untermauert Honecker seine bekannte These von der methodologischen Nichteigenständigkeit theologischer Ethik und der weitgehenden inhaltlichen Konvergenz von theologischer und nichttheologischer Ethik (Sp. 413), legt aber nicht minder Wert darauf, dass insbesondere in Fragen der anthropologischen Fundierung (Sp.412) durch die Gottesfrage theologische Ethik etwas Nichtsubstituierbares, d. h. ein Proprium (Sp. 414 f.), in den allgemein-ethischen Diskurs einzubringen hat.

Letzteren Gedanken entfaltet Traugott Jähnichen im Blick auf Institutionen und Organisationen (vgl. ders. Sozialethik). Seiner Auffassung nach kann in der Rezeption von Barmen II und V die evangelische Sozialethik nicht darauf verzichten, "alle Bereiche des menschlichen Lebens in biblisch-theologischer Perspektive kritisch zu beurteilen" (Sp. 1445). Das bedeutet aber nicht, im Sinne der Vorstellung vom "prophetischen Wächteramt" mit "besonderer Autorität" (ebd.) auftreten zu können. Im Anschluss an Rich plädiert er daher für den sozialethischen Ansatz einer "kritischen Distanz wie auch einer relativen Rezeptivität" im Blick auf die jeweiligen Sachlogiken (ebd.). Für die sozialethische Gestaltung der verschiedenen Bereichsethiken muss es daher darum gehen, ein Sinnganzes nicht völlig aus dem Blick zu verlieren und doch die einzelnen Bereiche nicht anachronistisch zu totalisieren. Zur Bewältigung dieses sozialethischen Grenzganges schlägt Jähnichen das Mittel einer "internen Vernetzung der Bereichsethiken" (Sp. 1447) vor. Er selbst denkt dabei nicht nur an rechtliche Strukturen, sondern vor allem an organisationsethische Kreativität (ebd.). Schließlich vollziehen sich in den zwischen allgemeinen Systemen und personaler Interaktion angesiedelten Organisationen die sozialethisch relevanten Steuerungen und Entscheidungen (Sp. 1447).

Der Umstand, dass bei der Gestaltung organisationeller Strukturen christliche Semantik prägend sein kann, ohne den Anspruch auf allgemeinere Kommunikabilität aufzugeben, sondern diese dekonstruktiv bearbeiten können soll, muss sich an keinem Begriff so bewähren wie am Begriff der Gerechtigkeit. Schließlich ist sie zur sozialethischen Zentralkategorie des liberalen und sozialen Rechtsstaates avanciert. Zum Zwecke der geltungstheoretischen Beachtung christlicher Tradition für diesen Zentralbegriff schärft Christofer Frey daher ein, dass auch (vermeintlich) formale Gerechtigkeitsprozeduren schon immer durch Menschenbilder geprägt sind (Sp. 571.573.575). Sich dieser Voraussetzung bewusst zu werden, ist selbst eine Forderung und ein Vollzug von Gerechtigkeit, die dann - analog zu Richs sozialethischer Methodologie - kriterial heruntergebrochen werden muss (Sp. 574 f.).

Wenn man zwischen letztem Deutungshorizont und vorletzten Fragen zu unterscheiden, d. h. sie differenzierend aufeinander zu beziehen weiß, dann kann man auch zu solchen Begriffen und Theoriedesigns ein konstruktives Verhältnis entwickeln, die in der jüngeren Geschichte theologischer Ethik nicht selten ausgeblendet oder als stereotype Kontrastfolien zur Profilierung eigner Position missbraucht worden sind. Musterbeispiele für die Vermeidung einer solch - man muss es schon so wertend sagen - ungerechten Darstellungsweise und damit Musterbeispiele für die Chance, auch an Fremdem das Eigene zu hinterfragen, sind die Artikel Nutzen (Sp. 1147-1150) und Utilitarismus (Sp. 1649-1655) von Joachim v. Soosten. In beiden zeigt er, dass jenseits der notwendigen Kritik an deutlichen sachlichen und methodischen Schwächen (Gefahr der Missachtung der Würde des Einzelnen) der Utilitarismus wichtige sozialpolitische und -ethische Kriterien wie Folgenverantwortung und Rechenschaft über "Gelingensbilder des guten Lebens" (Sp. 1654) bereitstellt, deren Beachtung einer auf Gemeinwohl zielenden christlichen Sozialethik gut zu Gesicht steht.

5. Insofern der skizzierte Orientierungsrahmen schmal ist, bzw. sein soll, lässt er viel, für diejenigen, die von der Religion eine unmittelbare Kopplung auf Moral und Sittlichkeit erwarten, zu viel Spielraum. Das zeigt sich weniger in wirtschafts- und gesellschaftsethischen Artikel als vielmehr in denen über klassische Themen der Personalethik: Beispielsweise stehen einem Beitrag, der mit Blick auf Homosexualität fragt, "warum die neue Kreatur nicht auch die Veränderung der sexuellen Antriebe umfassen sollte" (Wannenwetsch, Homosexualität, Sp. 705), solche Ausführungen gegenüber, die jenseits der Wahrung von Identität, Autonomie, Relationalität und Gewaltfreiheit die Relativität der Sexualmoral festhalten wollen (Haspel, Sexualität, Sexualethik). Gerade in solchen Spannungen zeigt der Protestantismus sein Profil, auch wenn dies zu vermitteln nicht immer leicht fällt. Das "Evangelische Soziallexikon" ist nicht nur eine vorzügliche Informationsquelle für nahezu alle sozialethischen Grundlagen-, Methoden- und inhaltlichen Fragen; es ist in den es prägenden Spannungen auch eine Bestandsaufnahme des zeitgenössischen deutschen Protestantismus. Damit fügt es sich nahtlos in die große Tradition seiner Vorgänger ein und kann allen, die Hilfe zur sozialethischen Urteilsbildung aus evangelischer Perspektive suchen, nur wärmstens empfohlen werden.

6. Dass auch ein solches Projekt, das von den Herausgebern ein hohes Maß an Koordination verlangt, angesichts der Begrenztheit zeitlicher und finanzieller Ressourcen Schwächen in sich trägt, ist selbstverständlich. So könnte man bemängeln, dass nicht bei allen Artikeln (beispielsweise den politisch-ethischen) die Beobachterperspektive gleichartig gewählt wurde. Bisweilen ist ein Artikel aus der Innenperspektive (vgl. den Artikel Liberalismus von Lambsdorff), bisweilen aus der Außenperspektive (vgl. den Artikel Sozialismus von Zachhuber) verfasst. Angesichts der Vielfalt im Autoren- und Herausgeberteam dahinter politische Absicht wittern zu wollen, wäre wohl eine verschwörungstheoretische Interpretation. Überhaupt zeichnet sich das Lexikon nicht gerade durch Lagerbildung aus. Betrüblicher stimmt dagegen, dass es offensichtlich dem Verlag an Mut gefehlt hat, der Printausgabe noch eine CD-Rom mit PDF-Datei beizulegen, wie es heute eigentlich Standard ist. Auch ein noch so ausführliches Register (43 Sp.) ersetzt keine elektronische Suchfunktion. Aber vielleicht fügt der Kohlhammer-Verlag ja in absehbarer Zeit einem Nachdruck des für ein Hardcover preisgünstigen Lexikons dennoch eine CD bei, wie es schließlich das Gütersloher Verlagshaus beim anfangs erwähnten Lexikon der Bioethik vorgemacht hat.