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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

84 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bondolfi, Alberto

Titel/Untertitel:

Ethisch denken und moralisch handeln in der Medizin. Anstöße zur Verständigung.

Verlag:

Zürich: Pano 2000. VI, 236 S. 8= Theophil, 3. Kart. sFr 25,50. ISBN 3-907576-37-3.

Rezensent:

Michael W. Lippold

Der Autor, schweizerischer Ethiker, legt mit diesem Band eine Sammlung von Aufsätzen vor, die im Zeitraum der vergangenen zehn Jahre entstanden sind und zum großen Teil auf gehaltenen Vorträgen bzw. bereits publizierten und teilweise geringfügig überarbeiteten Aufsätzen basieren. Sein vornehmliches Anliegen ist es, die Diskursfähigkeit und -willigkeit philosophischer und theologischer Ethik unter Beweis zu stellen, wozu die Bereitschaft gehört, "... sich gebührend über die neuen Errungenschaften von Biologie und Medizin zu informieren, ihre Kontexte nachzuvollziehen und sich so für eine normative Bewältigung der damit verbundenen Probleme zu prädisponieren." (V)

Die insgesamt 19 Aufsätze sind allesamt in solchen Verständigungskontexten entstanden und handeln ein breites Spektrum sowohl wissenschaftstheoretischer wie auch spezifisch ethischer Probleme ab. Das berücksichtigte Reservoir an Literatur weist ein breites internationales Spektrum auf und dokumentiert so das Bemühen des Vf.s um einen möglichst weiten Horizont der angestrebten Verständigung, in dem nationale Traditionen trotzdem Berücksichtigung finden. Der Vf. geht grundsätzlich von einer Pluralität ethischer Auffassungen aus, die es philosophischer und theologischer Ethik erschweren, zu möglichst eindeutigen Beurteilungen medizinischer Sachverhalte zu gelangen. Die rasante medizinische Entwicklung mache immer neues ethisches Reflektieren notwendig; ein besonderer Schwerpunkt liege daher auf der Rolle der Empirie für Ethik generell. Unübersehbar ist das Bestreben, den verhandelten Sachverhalten ein möglichst hohes Maß an Differenzierung angedeihen zu lassen. Dabei werden meist zu Beginn eines Aufsatzes verschiedene Extrempositionen skizziert, um dann in einem synthetisierenden Verfahren zu möglichst konsensfähigen Konklusionen zu gelangen. Vorrangig liegt dem Autor an einer "Demontierung argumentativer Sackgassen" (84), worunter auch "biblizistische" oder dogmatische Generalaussagen fallen (wie z. B. das Argument der Würde der Kreatur), um konsensfähige Wege beschreiten zu können; als Hauptkriterium ethischen Argumentierens dient ihm die "Berücksichtigung der Folgen" (85), die aber mit dem Ansatz einer Tugendethik zu kombinieren sei. Gerade angesichts der Schwierigkeiten, die im medizinischen Bereich auftretenden vielfältigen Konfliktlagen kasuistisch zu erfassen, plädiert Bondolfi für eine Tugendethik, die das Verantwortung tragende Individuum in die Lage versetzt, wohlbegründete Normen adäquat individuell und sozial verantwortet anzuwenden, beispielsweise bei der Frage der Ernährung todkranker Patientinnen und Patienten.

Der Autor macht auf vielfältige Schwerpunkte moderner Diskussionen im Gesundheitswesen aufmerksam und unterzieht diese methodisch-ethischen Erwägungen: das Problem der Verteilungsgerechtigkeit, die damit zusammenhängende Problematik der Kosten, die Rationierung medizinischer Ressourcen. Lösungsansätze können dabei manchmal nur via negationis aufgezeigt werden, beispielsweise mit der Feststellung, "... daß es unmoralisch wäre, Gerechtigkeit im Gesundheitswesen mit der Heranziehung eines einzigen Kriteriums allein, herstellen zu wollen" (50). - Andere Beiträge zu speziellen ethischen Themen, deren Umfang zehn Seiten meist nicht überschreitet, werden dagegen mit konkreten Folgerungen versehen, so z. B. zur AIDS-Politik (105-114), zu Problemen der Xenotransplantation (135-144) oder zum Problem der Sterilisation geistig behinderter Menschen (179-189).

Bezüglich letztgenannter Problematik unterstreicht der Autor zunächst, dass auch geistig Behinderte ein Recht auf sexuelle Entfaltung und entsprechende Aktivitäten als Ausfluss ihres Persönlichkeitsrechtes haben, dass aber deren Angehörigen die Pflicht zukomme, diese Äußerungen der Sexualität auch zu verantworten. Im Mittelpunkt müsse vor allem die Berücksichtigung der Interessen eines eventuell entstehenden Nasciturus stehen, weshalb die Angehörigen eine advokatorische Verantwortung wahrzunehmen hätten. Eine etwa zur Entscheidung stehende Sterilisation sei daher einer kooperativen und interdisziplinär angelegten Advokatorik zu unterwerfen, die innerhalb eines demokratisch legitimierten und medizinisch indizierten Verfahrens zum Tragen kommen müsse. So halten viele der Beiträge zu speziellen Problemsachverhalten medizinischer Ethik wissenswerte Informationen, bedenkenswerte Zugänge und interessante Gesichtspunkte bereit und sind daher besonders für eine einführende Lektüre zu diesen Problemen geeignet. Eine unnötige Doppelung zur "Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen" hätte sich freilich vermeiden lassen können, stimmen doch ganze Passagen zweier Aufsätze zu diesem Thema fast wortwörtlich überein (41-51 par. 157-168).

Der Band ist daher speziell für einen Überblick über verschiedene wissenschaftstheoretische und spezifische Probleme medizinischer Ethik in der Gegenwart geeignet; erwartet der Leser Anstöße zum weiteren Durchdenken problematisierter Sachverhalte (oder zur Verständigung, wie es treffend im Untertitel heißt), kann dieser Anspruch ebenfalls erfüllt werden. Zuweilen allerdings wird der Autor Opfer eines Übermaßes an Differenzierung und Verständigungsbereitschaft, die dem Ziehen klarer Schlussfolgerungen entgegenstehen - auch dort, wo sie vielleicht angebracht und erforderlich wären. Er bewegt sich dabei im Kreis einer vornehmlich argumentativen, im Diskurs befindlichen Ethik, die absolut gesetzte Normen zurückweist bzw. diese der angestrebten Verständigungsbereitschaft opfert - ein Verfahren, das für christliche Ethik problematisch werden kann.