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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

81 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Zeindler, Matthias

Titel/Untertitel:

Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde. Eine systematisch-theologische Untersuchung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2001. 375 S. gr.8 = Forum Systematik, 13. Kart. ¬ 35,00. ISBN 3-17-017114-3.

Rezensent:

Katrin Gelder

Die Studie wurde im Sommersemester 2000 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bern als Habilitationsschrift angenommen. Ihr Autor will christliche Glaubenserfahrung als eine Gotteserfahrung profilieren, die ihren Ort in der christlichen Gemeinde hat. Der Fokus besteht darin, "daß Gott uns in gelingender Gemeinschaft mit andern Menschen begegnen will" (Vorwort, 9).

Die innere Logik der Studie erschließt sich von einem sprachphilosophischen Zugriff zur Thematik her, der "Erfahrung" als Aneignung, Strukturierung und Interpretation von Wirklichkeit definiert und der Erfahrung im strikt unmetaphysischen Sinne Individualität und Sozialität, nicht aber Allgemeinheit zuschreibt (A). In diesem Duktus wird christliche Gotteserfahrung in die Struktur religiöser Erfahrung eingeordnet (B). In kritischer Auseinandersetzung mit den Modellen religiöser Erfahrung von John Hick, George Lindbeck und Edward Farley und in Anknüpfung an die kirchliche Ethik von Stanley Hauerwas arbeitet Z. die "Kirchlichkeit" als die spezifische Sozialität christlicher Glaubenserfahrung heraus, wie sie sich aus der "Gemeinschaftsbezogenheit des Heilshandelns Gottes selbst" (139) ergibt (C).

Diese Sozialität der christlichen Glaubenserfahrung als Gotteserfahrung entfaltet Z. in den folgenden drei Hauptkapiteln (D-F). Dabei geht er zunächst auf die Partikularität der christlichen Gotteserfahrung als anderen Pol ihrer Sozialität ein (D). Philosophisch gesehen ergäbe sich die Partikularität aller Erfahrung aus deren Perspektivität. In theologischer Perspektive sei die Partikularität christlicher Gotteserfahrung außerdem sowohl als eine Folge der Sünde zu verstehen als auch als Folge des Erwählungshandelns Gottes. In Anknüpfung an Calvin formuliert Z.: "Die Schöpfung ist von Gott als Ort seiner Erfahrung geschaffen worden" (145). Doch "der sündige Mensch schließt die Wirklichkeit Gottes aus seiner Welterfahrung aus, und umgekehrt wird an der nunmehr bezüglich Gott stummen Welt erfahrbar, daß Gott nicht erfahrbar ist" (146). Gotteserfahrung sei folglich immer auch "Gegenerfahrung": Sie vollziehe sich gegen die mit der Sünde einhergehende Tendenz des Menschen, Gott aus seiner Erfahrung auszuschließen und damit auch die Selbst- und Welterfahrung zu korrumpieren. Die Partikularität der Gotteserfahrung ergäbe sich darüber hinaus daraus, dass Gott in Entsprechung zu seinem Wesen, der Liebe, sich in freier Initiative ein Volk erwähle, indem er sich diesem Volk zuwende. Mit der Thematik der Erwählung ist für Z. zugleich die theologische Brücke zu den beiden folgenden Hauptkapiteln geschlagen, die sich auf die christliche Gemeinde als Ort und "formative[n] Kontext" (272) christlicher Gotteserfahrung beziehen. Denn im Erwählungshandeln Gottes zeige sich der Vorrang der Sozialität gegenüber der Partikularität im Gotteshandeln und infolgedessen in der Gotteserfahrung.

Im Hauptkapitel E entfaltet Z. seine These, dass die christliche Gemeinde der primäre Ort von Gotteserfahrung sei. Christliche Gotteserfahrung beschreibt er näher als "Erfahrung der Zuwendung Gottes" (180), "differenziert in die Erfahrung des Geschaffenseins, der Versöhnung und des Erlöstwerdens durch Gott" (185). Der immanenten Sozialität als zum Wesen Gottes gehörig entspreche es, dass Gott zur Erfahrung komme in lebensförderlichen Beziehungen. Ort dessen sei primär die christliche Gemeinde. Das Sein in Christus und das Sein im Geist entfaltet Z. als "kirchliche Existenz" (197 ff.). Der Gottesdienst, und hier insbesondere die Feier des Heiligen Abendmahls, sei der paradigmatische Ort der Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde. Von hier aus erschließe sich auch Gotteserfahrung im außergottesdienstlichen Leben der Gemeinde. Allerdings kann Z. auch von einer gegenseitigen Erschließung von Gotteserfahrung im gottesdienstlichen und außergottesdienstlichen Leben der Gemeinde sprechen.

Im abschließenden Hauptkapitel (F) wendet sich Z. dem interpretativen Akt des erfahrenden Subjektes zu und deutet ihn in pneumatologischer Perspektive als ein Handeln Gottes. In, mit und unter dem menschlichen interpretativen Akt in einer bestimmten, nämlich der christlichen, Deutungsperspektive wirke der Heilige Geist. Auch in diesem Zusammenhang greift Z. auf Calvin zurück, nämlich auf dessen Begriff des "testimonium Spiritus Sancti internum", den er erfahrungstheoretisch verallgemeinert (vgl. 274). Die christliche Gemeinde sei der Kontext, an dem der Heilige Geist die christliche Deutungsperspektive aufbaue und erhalte. Dabei bediene er sich der Schrift und der kirchlichen Tradition.

Auffallend an Z.s Untersuchung ist der Mut, mit dem er - allen kirchlichen und theologischen Trends zum Trotz - die konkret erfahrbare christliche Gemeinde vor Ort als primäres Feld christlicher Gotteserfahrung zur Geltung bringt und damit in jedem Falle Theologie und Kirche einen - in gutem Sinne provokativen - Dienst erweist. Mit der altkirchlichen These "extra ecclesiam nulla salus" setzt er sich dabei genauso auseinander wie mit dem neuzeitlichen Verständnis des "Christentums außerhalb der Kirche".

Dem Schöpfer- und Erhalterhandeln Gottes entspreche es, dass Gott sich auch außerhalb der von ihm erwählten Gemeinschaft zur Geltung bringe. Doch Erfahrung Gottes in spezifisch christlichem Sinne als Erfahrung des dreieinigen Gottes sei an die Form der Sozialität gebunden, die Gott sich in Entsprechung zu der ihm eigenen immanenten Sozialität erwähle: die christliche Gemeinde. Zur Gott entsprechenden Sozialität der christlichen Gemeinde gehöre der inklusive, anders gesagt: der einladende Charakter ihres Gottesdienstes und ihrer Gemeinschaft insgesamt sowie ihr Anspruch, über sich selbst hinaus zu verweisen auf Gott als den Begründer und Erhalter dieser Gemeinschaft.

Als Verdienst ist ebenso anzusehen, dass und wie Z. die partielle Korrumpierung der Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung durch die Sünde in jeder christlichen Existenz herausarbeitet. Umso mehr ist zu bedauern, dass Z. nicht ausführt, wie sich diese Korrumpierung auf die Erfahrung Gottes in, mit und unter der Erfahrung christlicher Gemeinschaft auswirkt. Denn ohne diese Ausführungen erhalten seine Entfaltungen zur christlichen Gemeinde als Kontext der Gotteserfahrung über weite Passagen hin einen doketischen, spiritistischen und insofern auch unrealistischen Klang.

Dass christliche Erfahrung immer auch Gegenerfahrung ist, wäre auch im Blick auf die Erfahrung Gottes im Kontext der christlichen Gemeinde zu entfalten. Das allerdings ist wohl nur möglich, wenn man die sprachphilosophische Anknüpfung an die von John Hick entwickelte als-Struktur und die von Z. profilierte in-, mit- und unter-Struktur der Gotteserfahrung als Teilaspekt christlicher Existenz versteht. Zum Ganzen gehört das Gegenüber von Wort Gottes und Erfahrung unverzichtbar hinzu.

Mit dieser Einsicht allerdings ist der sprachphilosophische Denkrahmen als "methodische Prämisse" (vgl. 272) dieser Untersuchung überschritten.