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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

74–78

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian

Titel/Untertitel:

Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XI, 459 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 110. Geb. ¬ 128,00. ISBN 3-11-016943-6.

Rezensent:

Hermann Fischer

Mit seiner Habilitationsschrift "Religion als Freiheitsbewußtsein" hat Chr. Danz einen außerordentlich beeindruckenden, grundsoliden und auf hohem intellektuellen Niveau angesiedelten Beitrag zur Tillich-Forschung vorgelegt. Die Monographie hat den Charakter einer Gesamtdeutung der philosophischen Theologie Tillichs, die sich in dem üppig gestalteten Anmerkungsapparat nicht nur mit der deutschen, sondern auch mit der englisch-sprachigen Tillich-Literatur extensiv auseinander setzt.

Die komprimierte Einleitung (1-10) umreißt das Thema der Arbeit und exponiert die These. Nach Tillich weiß sich das religiöse Individuum dem Absoluten gegenüber als frei und gebunden zugleich und ist sich deshalb seiner Freiheit als einer endlichen bewusst. Im Begriff der endlichen Freiheit verschränken sich nach Meinung des Vf.s die leitenden Motive der Tillichschen Theologie. Tillich versteht endliche Freiheit als Synthesis eines unbedingten und eines bedingten Momentes und sucht dergestalt die abstrakte Alternative von Supranaturalismus und Naturalismus zu überwinden, in denen das Unbedingte entweder zu einem Bedingten herabgewürdigt oder eliminiert wird. D. interpretiert die endliche Freiheit als "Bestimmtheit zur Selbstbestimmung". Beide Elemente, die Bestimmtheit zur Freiheit und die freie Selbstbestimmung, sind als gleichursprünglich, also als nicht aufeinander reduzierbar, zu verstehen. Dieser Begriff der endlichen Freiheit ist Gegenstand der Untersuchung. Er wird von D. "als einheitlicher Grundgedanke aufgefaßt, auf den alle Äußerungen Tillichs zu beziehen sind. ... Auf diese Weise verbindet die vorliegende Untersuchung eine Explikation des systematischen Problems der endlichen Freiheit mit einer idealtypischen Rekonstruktion der Theologie Tillichs aus einem einheitlichen Grundgedanken. Die Theologie Tillichs wird deshalb im Rahmen einer transzendentalphilosophischen Perspektive rekonstruiert" (3 f.).

Solch ein transzendentalphilosophischer Deutungszugriff scheint in Spannung, vielleicht sogar im Widerspruch zur ontologischen Strukturtheorie der späteren "Systematischen Theologie" (= ST) Tillichs zu stehen. Dieser mögliche Einwand veranlasst D. gleich eingangs zur Formulierung seiner Arbeitshypothese. Nach seinem Urteil ist der transzendentalphilosophische Ansatz, d. h. die Theorie der Konstitutionsbedingungen religiös-individueller Subjektivität, nicht nur für die frühe philosophische Theologie Tillichs leitend, sondern bestimmt auch dessen nur prima facie anders akzentuierende spätere ontologische Theologie. Subjektivitätstheorie und ontologische Strukturtheorie verweisen aufeinander, und diesen Verweisungszusammenhang entfaltet D. in Anlehnung an das begriffliche Instrumentarium, das D. Korsch und J. Dierken für die Prinzipiendualität von Religion und Theologie ausgearbeitet haben. Danach verhalten sich beide wie unmittelbare religiöse Gewissheit und begriffliche Wahrheit und gehören ebenso untrennbar zusammen wie sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen. D. meint, Tillichs Fundamentalunterscheidung von Essenz und Existenz im Sinne solch einer kategorialen Grundrelation von unmittelbarem Vollzug und begrifflicher Bestimmtheit interpretieren zu können. Wie die Religion ist auch die Freiheit ein exemplarischer Fall kategorialer Differenz von Bestimmtheit und Vollzug. Der "bloße Begriff der Freiheit kann nicht für deren Wirklichkeit einstehen, und so sehr die Freiheit ihre Wirklichkeit allein in ihrer Realisierung hat, so wenig kann sie der Bestimmtheit entbehren, soll sie keine bloße Willkür sein" (6).

Mit dem Versuch einer Gesamtdeutung der Theologie Tillichs aus einem einheitlichen Grundgedanken grenzt D. sich gegen andere Gesamtdeutungen dieser Theologie ab, im deutschsprachigen Raum vor allem gegen diejenigen von G. Wenz, F. Wagner und J. Ringleben, die nach seiner Meinung auf unterschiedliche Weise die transzendentalphilosophische Problemperspektive der Theologie Tillichs nicht hinreichend oder nicht sachgemäß berücksichtigen (6-8). Demgegenüber versucht D. die "subjektivitätstheoretische Konzeption der Theologie Tillichs als deren Stärke zu interpretieren" (8). In einem I. Hauptteil wird der Begriff der endlichen Freiheit rekonstruiert (11-175), in einem II. kommt unter der Formel "Existenz" die Wirklichkeit der endlichen Freiheit zur Sprache (177-272), und in einem III. rückt der Normbegriff der endlichen Freiheit ins Zentrum (273-412). Die Abfolge dieser drei Teile entspricht den drei Bänden der ST Tillichs, die als Ganze und in ihrer thematischen Gliederung den Gang der Untersuchung leiten. D. geht es nicht um eine entwicklungsgeschichtliche Interpretation, sondern um eine systematische Rekonstruktion. Deshalb werden Fragen nach möglichen Entwicklungen oder gar Brüchen in Tillichs Werk nicht eigens erörtert, obwohl D. für die jeweiligen Deutungen kenntnisreich Tillichs Schrifttum von der Früh- bis zur Spätzeit zu Rate zieht.

Wenn ich D. richtig verstanden habe, geht er davon aus (4 f.), dass im Frühwerk Tillichs subjektivitätstheoretische Fragestellungen überwiegen, während im Spätwerk eine ontologische Strukturtheorie im Vordergrund steht. Man wird ihm darin zustimmen können, dass sich trotz der jeweiligen Prävalenz beide Aspekte im Früh- und Spätwerk finden und durchdringen, sodass das Bemühen um eine einheitliche systematische Rekonstruktion legitim ist. Dennoch bleibt es verwunderlich, dass D. den Weg gewissermaßen von hinten nach vorne und nicht umgekehrt geht. Er erhebt nicht, wie es sich von der Chronologie und auch von der gedanklichen Entwicklung her nahelegt, zunächst in Grundzügen die Theorie individueller Subjektivität aus dem Frühwerk bis etwa zur Marburger Dogmatikvorlesung von 1925, um sie dann als mit der ontologischen Strukturtheorie der ST kompatibel darzustellen, sondern rollt diese Kompatibilität mit dem Einsatz bei der ST quasi von hinten her auf. Das bringt komplizierte darstellerische Probleme mit sich und führt zu ermüdenden Wiederholungen. Man braucht einen langen Atem für diese mehr als 400 Seiten, selbst wenn der Vf. einen souverän und gekonnt durch Tillichs Werk führt!

D. interpretiert die ontologische Strukturtheorie, die Tillich im zweiten Teil seines Systems im ersten Band der ST unter der Überschrift "Sein und Gott" entwickelt, als Theorie des Absoluten. In diesem Teilstück liegt Tillich an dem Nachweis, dass die Seinsfrage vor die Möglichkeit und Notwendigkeit der Frage nach Gott führt. "Die ontologische Theorie fungiert als Bestimmtheitstheorie, da sie die kategoriale Struktur expliziert, welche für eine Beschreibung der Existenz als Entfremdung beansprucht wird". Ihr systematischer Status besteht in der Funktion, "die Bestimmtheit der endlichen Freiheit unter Absehung von deren individuellem Vollzug zu beschreiben." Diese (geschöpfliche) Bestimmtheit bezeichnet Tillich als Essenz (15). Allerdings ist endliche Freiheit nur in ihrem Vollzug wirklich, sodass die Ausführungen zur Essenz in diesem Teil des Systems unter dem Vorzeichen methodischer Abstraktion gelesen werden müssen.

D. vermag überzeugend nachzuweisen, dass die Einsicht in die "Untrennbarkeit und Unreduzierbarkeit von Bestimmtheit der endlichen Freiheit und deren Vollzug" bzw. von Essenz und Existenz (15) seit Tillichs beiden Dissertationen über Schelling zu den konstanten Elementen seines Denkens gehört. Das differenzierte Gefüge der endlichen Freiheit wird in diesem I. Teil der Arbeit vergegenwärtigt über Analysen zur "ontologischen Theorie" selbst (13-25), zur "ontologischen Struktur als Theorie der Bestimmtheit der endlichen Freiheit" (26-73), zur systematischen Funktion der Gottesbeweise (74-99) und schließlich zum Theologiebegriff (100-175), für den D. auch den problemgeschichtlichen Hintergrund der Tillich prägenden philosophischen Gotteslehre vor allem des späten Fichte und des späten Schelling ausleuchtet.

Der sich an der Frühphilosophie Fichtes entzündende Atheismusstreit bleibt ausgeklammert, obwohl sich auch dafür Anknüpfungspunkte ergeben hätten. Mit dem späten Fichte und Schelling teilt Tillich D. zufolge die Überzeugung, dass sich die Subjektivität ihre eigene Konstitution nur auf dem Umweg über eine spekulative Theorie des Absoluten durchsichtig zu machen vermag (152). Deshalb unterscheidet Tillich mit ihnen strikt zwischen dem Absoluten, dem Sein-Selbst, und dem endlichen Selbstbewusstsein und versteht das Verhältnis zwischen Sein-Selbst und Struktur des Seins als "relationslose Relationalität". In Tillichs eigenen Worten: "Das Sein-Selbst transzendiert jedes endliche Sein unendlich. Es gibt kein Verhältnis und keine graduellen Unterschiede zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, nur einen absoluten Bruch, einen unendlichen "Sprung". Andererseits partizipiert alles Endliche am Sein-Selbst und seiner Unendlichkeit. Sonst hätte es keine Seinsmächtigkeit" (ST I, 275; hier leicht verändert zitiert 154).

Während in der Gotteslehre diejenigen Strukturen zur Diskussion stehen, die für die endliche Freiheit konstitutiv sind, vollzieht Tillich in der Christologie einen aus der Strukturtheorie selbst folgenden und geforderten Perspektivenwechsel, sofern endliche Freiheit nur individuell kontingent zur Wirklichkeit kommen kann. "Die begriffliche Explikation der endlichen Freiheit schließt deshalb eine begriffliche Einsicht in das Ungenügen des Begriffes und damit in eine Transzendierung des Begriffes ein" (179). Im Mittelpunkt steht jetzt die aus dem Begriff bzw. aus der Struktur nicht mehr ableitbare Existenz. Dieser Übergang von der Essenz zur Existenz ereignet sich nach Tillich als "Sprung", ist "irrational", "paradox". Dennoch lässt sich die Existenz nur beschreiben auf dem Hintergrund der in der Ontologie ausgearbeiteten Kategorien, und insofern bleibt die Christologie auf die Seins- und Gotteslehre zurückverwiesen.

Thema der Christologie ist eine sich gegenläufig vollziehende Bewegung. Beschreibt die Gotteslehre im Symbol des Geistes das Anderssein Gottes als Moment seiner Gottheit, so rückt in der Christologie dieses Anderssein am Orte des Andersseins selbst in den Blick. Zugleich beschreibt die Christologie aber im Symbol der Menschwerdung des Logos die Überwindung der entfremdeten Existenz und damit deren Rückführung in den göttlichen Grund. "Damit obliegt der Christologie nicht nur die Explikation der Genese der Differenz von Gott und Mensch, sondern auch deren Vermittlung" (180). Für die Rekonstruktion des christologischen Lehrstückes orientiert D. sich im II. Hauptteil seiner Monographie - wie schon im I.Hauptteil - an den gedanklichen Entwicklungen Tillichs in den beiden Teilstücken seiner Christologie "Die Existenz und der Christus" und analysiert nach einem "Überblick über die Christologie" (179 f.) die mit der Formel "Existenz" umschriebene Entfremdungssituation des Menschen (181-201), deutet sie als "abstrakte Selbstbestimmung" (202-217) und stellt dem abschließend "Die Neukonstitution der endlichen Freiheit als Thema der Christologie" gegenüber (218-272). Auf diese Weise entsteht ein subtil ausgearbeitetes und facettenreiches Bild der Christologie Tillichs, die D. überdies gegen die in der bisherigen Tillich-Forschung diskutierten Probleme und geäußerten kritischen Bedenken durchweg in Schutz nimmt.

Den III. und letzten Hauptteil der Arbeit leitet D. mit noch einmal zusammenfassenden und instruktiven Erwägungen über die Aufbaulogik der ST Tillichs ein (275-279). Lässt sich Tillichs Gotteslehre als eine Theorie der Bestimmtheit erschließen, sofern die Ontologie die im menschlichen Freiheitsvollzug immer schon beanspruchten Strukturen offenlegt, so hat die Christologie die Aufgabe, den von dieser Bestimmtheit unableitbaren individuellen Vollzug der Freiheit in seinen gegenläufigen Verlaufsformen eines Abfalls vom Grund der Freiheit und der versöhnenden Rückführung der Freiheit in diesen Grund verstehbar zu machen. Da Tillich aber beides, Bestimmtheit wie Vollzug, für Abstraktionen hält, kommt der als Geistlehre und Geschichtstheologie konzipierten Pneumatologie die Aufgabe zu, die in Wirklichkeit immer komplexe und dynamische Einheit von Essenz und Existenz zu entfalten, die Tillich in spezifischer Weise als "Leben" bezeichnet. "Ich gebrauche das Wort Leben als Ausdruck für eine Mischung von essentiellen und existentiellen Strukturen" (ST III,22; hier zitiert 278). D. deutet mit m. E. überzeugenden Gründen den von Tillich "Das Leben und der Geist" überschriebenen vierten Teil seines Systems und den fünften Teil "Die Geschichte und das Reich Gottes" als Einheit, nämlich als einheitliche Thematisierung geistbestimmten Lebens in der unterschiedlichen Perspektive individueller und überindividuell-geschichtlicher Sinnorientierung (vgl. 359.383). Auch mit der rekonstruierenden Analyse dieses universalen Lebensbegriffes in den beiden Teilstücken der Pneumatologie, exemplarisch durchgeführt am Lebensbegriff (275-299), an der Sinntheorie (300-311), am Religionsbegriff (312-352), an der noch einmal gesondert behandelten Pneumatologie (353-382) und an der geschichtlichen Sinnorientierung (383-412) bietet der Vf. glänzende Beweise seines Scharfsinns und seiner darstellerischen Qualitäten.

Mit dem subjektivitätstheoretischen Ansatz ist D. nach meinem Urteil eine sehr überzeugende, die unterschiedlichen Aspekte des Werkes berücksichtigende und die Forschung stimulierende Deutung der philosophischen Theologie Tillichs gelungen. Die Rez. kann vom Reichtum der gewonnenen Einsichten und der produktiven Interpretationsvorschläge nur eine ungefähre Vorstellung vermitteln. Man bestaunt des Vf.s stupende Kenntnis der einschlägigen Literatur ebenso wie die Fähigkeit, die Einzelargumentationen immer wieder auf die thematischen Leitlinien der Untersuchung zurückzubeziehen. Sympathisch weiß der Vf. die Stärken der Gedankenführung Tillichs zur Geltung zu bringen und ihn ad bonam partem zu interpretieren. Kritische Anfragen an Tillichs Werk, mögen sie die systematischen Konstruktionsprinzipien oder Einzelausführungen betreffen, werden durch Rückgang auf den Gesamtzusammenhang der Argumente Tillichs entschärft und ihrerseits kritisch zurückgewiesen.

Diese für den Vf. einnehmende Sicht hat nun allerdings auch ihre Kehrseite. Überrascht muss man zur Kenntnis nehmen, dass dem Interpreten zu Tillichs Werk offensichtlich keine kritischen Fragen einfallen; jedenfalls werden sie nicht formuliert und diskutiert. Alles scheint geklärt zu sein. Dazu kommt eine weitere Irritation, die wohl mit der ersten zusammenhängt. Die groß angelegte Monographie klingt aus mit einer "Schlußbetrachtung: Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität" (413-415). Hier aber bietet D. lediglich eine Wiederholung der zentralen und ohnehin schon oft wiederholten Grundgedanken seiner Untersuchung. Es wird kein Bogen zur gegenwärtigen Problemdiskussion geschlagen. Der Vf. beginnt mit Tillich und endet mit ihm. Schließlich leidet die Arbeit, wie schon erwähnt, daran, dass D. die wesentlichen systematischen Gedankenfiguren seiner Interpretation in ermüdender Weise repetiert. Der Gewinn der Ausführungen kann nur mit hoher Selbstdisziplin des Lesers in die geistigen Scheuern eingefahren werden. Mit der systematischen Umpolung der Tillichschen Begriffe Essenz und Existenz in das Begriffspaar Bestimmtheit und Vollzug scheint sich der Vf. zudem unter einen systematischen Konstruktionszwang zu setzen, der die Sachverhalte manchmal mehr verkompliziert als erhellt. Die intellektuell hochgezüchtete Terminologie und Konstruktion steht nicht immer im Dienste luzider Durchblicke durch Tillichs Werk, und man greift von Fall zu Fall erleichtert auf die Texte Tillichs selbst zurück, um durch das verwirrende Ausmaß an Komplexitätssteigerung wieder den Weg ins Freie zu finden. Das ist deshalb bedauerlich, weil auf solche Weise gebildeten und aufgeschlossenen Laien vermutlich der Zugang zu zentralen und allgemein interessierenden Fragen religiöser Lebensführung eher verstellt als eröffnet wird.

Dennoch steht der systematische und gedankliche Rang dieser Gesamtdeutung von Tillichs Werk außer Frage, und man wünscht sich und dem Vf., dass die Monographie trotz der angedeuteten Ausstände auf Grund des originellen Interpretationsansatzes und der zutage geförderten Erkenntnisse der Tillich-Forschung neue Impulse vermitteln und ihren Weg gehen möge.