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Ausgabe:

Januar/2003

Spalte:

67 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Steiger, Renate

Titel/Untertitel:

Gnadengegenwart. Johann Sebastian Bach im Kontext lutherischer Orthodoxie und Frömmigkeit.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2001. XXIV, 397 S. m. 27 Abb., 63 Notenauszügen, 2 CDs mit 74 Hörbeisp. = Doctrina et Pietas, Abt. II, 2. Lw. ¬ 111,00. ISBN 3-7728-1871-4.

Rezensent:

Jochen Arnold

Kaum liegt das Bach-Jahr 2000 mit seinen zahlreichen Publikationen (u. a. der großen Monographie von C. Wolff) hinter uns, halten wir schon wieder ein (im doppelten Sinne des Wortes) gewichtiges Bach-Buch in Händen: Renate Steigers gesammelte Aufsätze zur theologischen Bachforschung. Dies gleich vorweg: Der Band ist ein bibliophiles Schmuckstück, zu dem auch zwei CDs mit Musikbeispielen verschiedener Interpreten gehören.

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis und den umfangreichen, aber sehr übersichtlichen Registerapparat lässt die ungeheure Weite und Gelehrsamkeit erkennen, mit der die langjährige Herausgeberin von Musik und Kirche und ehemalige Vorsit-zende der Internationalen Arbeitsgemeinschaft theologischer Bachforschung zu Werke geht: Die Kantate als Schriftauslegung und Predigt sui generis (3-92) - und damit die hermeneutische Grundfrage nach ihrer Funktion im Gottesdienst - kommt ebenso in den Blick wie historische, theologische und musikologische Einzelfragen, die am Ende unter dem Hauptnenner Hermeneutica sacra und musikalische Struktur (271-342) fokussiert werden.

Trotz seiner Gelehrsamkeit ist das Buch auch für ausführende Musiker (und Nichttheologinnen) lesbar und verdeutlicht besonders den theologischen und spirituellen Background der Kantaten(texte). In diesem Zusammenhang ist besonders St.s enorme Quellenkenntnis (Predigten und Erbauungsliteratur des Luthertums im 17. und 18. Jh., z. T. auch mit erhellenden Abbildungen) etwa der Autoren H. Müller; J. Olearius und J. Arndt zu nennen, die ihr zu einer angemessenen historischen Interpretation der Kantaten in Wort und Ton verhelfen.

St. verzichtet gänzlich auf Zahlenspekulationen (z. B. auf das Zählen von Noten o. ä.), sie betrachtet Taktzahlen lediglich im Blick auf die Syntax bestimmter Satzperioden (z. B. 4+4 oder ausnahmsweise 3+3+2 Takte). Demgegenüber zentral ist für sie Bachs Gebrauch musikalisch-rhetorischer Figuren, deren Sinn sie aus dem "jeweiligen textlichen und musikalischen Zusammenhang" (59) erhebt. Die Autorin geht also - m. E. zu Recht - nicht davon aus, dass Bach musikalische Figuren nur auf Grund eines normativen Kanons zeitgenössischer Theoretiker gebraucht habe. Daher legt sie sich in ihrer Deutung der musikalischen Figuren (z. B. katabasis, pathopoeia, gradatio etc.) auch nicht auf eine Definition eines solchen Theoretikers (zu denken wäre etwa an J. G. Walther) fest.

Besonders gelungen ist die Analyse der Stücke, in denen St. eine unmittelbare Kohärenz von Wort und Ton nachweisen kann, wo also deutlich wird, warum Bach - auf Grund des ihm vorgegebenen Kantaten- bzw. Bibeltextes - gerade so komponiert hat, wie er komponiert hat. So macht sie etwa im Blick auf BWV 39,1 (Brich dem Hungrigen dein Brot) plausibel, "daß durch die Art und Weise, wie Bach den Bewegungsablauf des Satzes disponiert, die Musik genau das tut und vormacht, wozu der Text aufruft." (288) Insgesamt geht es der Vfn. darum, die "Sprache" zu erhellen, mit der Bach "theologische Inhalte darstellt und geistliche Erfahrung sowie seelsorglichen Zuspruch in ästhetische Erfahrung übersetzt." (Zsf., VI).

Den Titel des Buches und damit auch ihr hermeneutisches und theologisches Credo gewinnt St. aus einer Randbemerkung in J. S. Bachs Bibel (zu 2Chronik 5,13): "Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnadengegenwart". Sie ist daher (mit Bach!) der Ansicht, dass Gott nicht nur durch Wort und Sakrament, sondern auch durch die Musik Menschen anredet, ja dass er dies durch die Musik in besonders "nachdrücklicher" Weise tut, weil sich hier das Evangelium ästhetisch verdichtet (vgl. Vorwort, XVII). Mit anderen Worten: Kanzel, Altar und Orgel (bzw. Chor) gehören zusammen. Sie alle sind Orte, an denen Gott seine gnädige Gegenwart schenkt und seine Verheißungen dem Menschen zueignet (vgl. XIX).